Anna Walentynowicz


Anna Walentynowicz (Mädchenname: Anna Lubczyk) wurde Mitte August 1929 in Równe (damals: Polen, heute: Ukraine) als Kind katholischer Bauern geboren. Nachdem sie zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kurz nacheinander ihre Eltern verloren hatte, schlug sie sich als Magd durch.

1945 wurden die Polen aus Równe vertrieben. Anna gelangte nach Danzig. Dort arbeitete sie zunächst weiter als Magd und fing dann als Kindermädchen bei einer Arztfamilie an. Als diese wegzog, blieb Anna in Danzig und erhielt am 8. November eine Stelle als Hilfsarbeiterin auf der Lenin-Werft.

Ihren 1952 geborenen Sohn Janusz zog sie allein auf.

Nachdem sie einen Schweißerlehrgang absolviert hatte, rückte sie zur Elektroschweißerin auf. Die fleißige und zuverlässige Arbeiterin erhielt mehrere Auszeichnungen. Aber durch ihre Proteste gegen Ungerechtigkeiten brachte sie sich wiederholt in Schwierigkeiten.

1964 heiratete Anna einen Mann namens Kazimierz Walentynowicz.

Zwei Jahre später wurde Anna Walentynowicz Kranführerin auf der Lenin-Werft.

Bei Streiks im Dezember 1970 wurden Anna Walentynowicz und ein Elektriker der Lenin-Werft namens Lech Walesa (* 1943) ins Streikkomitee gewählt. Mindestens neunundvierzig Arbeiter starben im Verlauf der Unruhen. Als einer der Rädelsführer wurde Lech Walesa einige Tage lang eingesperrt. Nach seiner eigenen Aussage hatte er vor seiner Freilassung nur harmlose Zusagen gemacht, aber Anna Walentynowicz argwöhnt, er habe sich möglicherweise zur Mitarbeit beim polnischen Geheimdienst verpflichtet.

Im Jahr darauf versuchte die Werft-Leitung, die unbequeme Kranführerin Anna Walentynowicz zu isolieren und hinderte sie daran, bestimmte Bereiche der Anlage zu betreten.

Mitte der Siebzigerjahre wurde ein Karzinom bei Anna Walentynowicz diagnostiziert. Sie überlebte zwar, aber ihr Ehemann Kazimierz starb an Krebs.

Am 28. April 1978 gründeten Anna Walentynowicz und Lech Walesa mit der „Freien Küstengewerkschaft“ eine von der Partei unabhängige Arbeitervereinigung.

Als Anna Walentynowicz eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf der Lenin-Werft forderte, wurde sie am 7. August 1980 fristlos entlassen – nach fast dreißig Jahren Betriebszugehörigkeit und kurz bevor sie das Rentenalter erreichte.

Daraufhin traten 17 000 Arbeiterinnen und Arbeiter der Lenin-Werft am 14. August in einen Streik – so wie viele Beschäftigte anderer Betriebe, die dagegen protestierten, dass die polnische Regierung im Sommer sowohl die

Arbeitsnormen als auch die Lebensmittelpreise erhöht hatte. Lech Walesa, der sich zum Wortführer der Streikenden machte, erzählte später, er sei über die Mauer auf das Gelände gesprungen. Anna Walentynowicz behauptete jedoch, er sei mit einem Motorboot der Marine zur Lenin-Werft gebracht worden und wertete das als Indiz für eine Geheimdiensttätigkeit. Jedenfalls verhandelte er mit der Direktion und erreichte einige Zugeständnisse – darunter die Weiterbeschäftigung von Anna Walentynowicz –, worauf er den Streik auf der Lenin-Werft am 16. August für beendet erklärte. Erst als ihm Anna Walentynowicz und die junge Krankenschwester Alina Pienkowska (1952 – 2002) klarmachten, dass man sich mit den Streikenden anderer Betriebe solidarisch erklären müsse, wurde der Arbeitskampf auch auf der Lenin-Werft fortgesetzt.

In der folgenden Nacht gründeten Lech Walesa und Anna Walentynowicz mit anderen Arbeitern zusammen ein überbetriebliches Streikkomitee, das eine Reihe von Verbesserungen verlangte, darunter vor allem die Zulassung von Gewerkschaften, die nicht von der Partei kontrolliert wurden. Nachdem sich der Arbeitskampf auf ganz Polen ausgedehnt hatte, akzeptierte die Regierung in Warschau am 31. August 1980 die Forderungen der Streikenden. Das war die Geburtsstunde der „Unabhängigen Selbstverwalteten Gewerkschaft Solidarität“ (Solidarnosc), die sich zu einem Sammelbecken der Opposition entwickelte.

Aus Protest gegen den umstrittenen Vorsitzenden Lech Walesa trennten sich mehrere Funktionäre von der „Solidarnosc“, darunter auch Anna Walentynowicz.

Später erfuhr Anna Walentynowicz, dass der Geheimdienst 1981 geplant hatte, sie bei einem Aufenthalt in Radom mit Furosemid zu vergiften. Weil sie jedoch nicht, wie vorgesehen, in der Stadt übernachtet hatte, war sie dem Anschlag entgangen.

Die Situation wurde für das Regime so bedrohlich, dass Ministerpräsident General Wojciech W. Jaruzelski am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte und die „Solidarnosc“ verbot. Dagegen streikten die Arbeiter vom 14. bis 16. Dezember. Anna Walentynowicz, die zu den Organisatorinnen des Streiks gehört hatte, wurde am 18. Dezember verhaftet. Am 23. Juni 1982 kam sie frei, wurde aber am 30. August erneut festgenommen. Während sie auf eine Gerichtsverhandlung wartete, kündigte die Lenin-Werft ihr Arbeitsverhältnis, diesmal endgültig. Am 30. März 1983 wurde Anna Walentynowicz zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt, aber das Gericht setzte die Strafe zur Bewährung aus. Von Mitte Dezember 1983 bis Anfang April 1984 war sie erneut aus politischen Gründen im Gefängnis.

Während zumindest außerhalb von Polen kaum jemand von Anna Walentynowicz gehört hatte, wurde Lech Walesa am 5. Oktober 1983 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Anna Walentynowicz behauptet in ihrem Buch, er habe ihr nach seiner Wahl zum polnischen Staatspräsidenten am 9. Dezember 1990 das Außenministerium angeboten. Aber das wurde von Walesa dementiert.

2003 wollte man Anna Walentynowicz zur Ehrenbürgerin Danzigs ernennen, aber sie lehnte die Ehrung ebenso ab wie die von Ministerpräsident Marek Belka zwei Jahre später angebotene Ehrenpension. Die im Dezember 2005 von US-Präsident George W. Bush die Freiheitsmedaille nahm sie dagegen an, und im Mai 2006 ließ sie sich von dem polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynskiden den Orden vom Weißer Adler verleihen.

Sylke Rene Meyer drehte 2002 den Dokumentarfilm „Wer ist Anna Walentynowicz?“. Sie arbeitete auch am Drehbuch des von Volker Schlöndorff inszenierten Spielfilms „Strajk. Die Heldin von Danzig“ mit.

Anna Walentynowicz kam am 10. April 2010 ums Leben. Sie war mit an Bord des Flugzeugs, das den polnischen Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Delegation nach Smolensk bringen sollte, aber bei der versuchten Landung im Nebel zerschellte. Lech Kaczynski, seine Ehefrau Maria, Anna Walentynowicz und die anderen Passagiere wollten anlässlich des 70. Jahrestages des Massakers von Katyn zur Gedenkstätte reisen. Niemand überlegte den Flugzeugabsturz.

Quellen: „Strajk. Die Heldin von Danzig“, Filmheft der Bundeszentrale für politische Bildung, mehrere Artikel der deutsch- und der englischsprachigen Wikipedia-Enzyklopädie, www.ard-digital.de, www.planet-wissen.de, verschiedene Zeitungsartikel und vor allem eine ausführliche Darstellung von Almut Nitzsche bei www.fembio.org über Anna Walentynowicz und die „Solidarnosc“.

© Dieter Wunderlich 2008 / 2010

Volker Schlöndorff: Strajk. Die Heldin von Danzig

Georg Magirius - Frankenliebe
Jedem der 33 in dem Wanderführer "Frankenliebe" vorgestellten Orte hat Georg Magirius zwei mit eigenen Fotografien illustrierte Doppelseiten gewidmet. Er beginnt mit einer eher spirituellen Betrachtung, beschreibt kurz den entsprechenden Wanderweg und weist auf eine historische Besonderheit hin.
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