Edna O'Brien : Die kleinen roten Stühle

Die kleinen roten Stühle
Originalausgabe: The Little Red Chairs Faber and Faber Ltd, London 2015 Die kleinen roten Stühle Übersetzung: Kathrin Razum, Nikolaus Stingl Steidl Verlag, Göttingen 2017 ISBN: 978-3-95829-369-4, 340 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einem irischen Dorf taucht ein Fremder auf, der sich Dr. Vladimir ("Vuk") Dragan nennt und eine Praxis als Alter­nativ­mediziner eröffnet. Bald verbreiten sich Gerüchte über seine Heilkräfte. Fidelma MacBride, die zwei Totgeburten hinter sich hat und mit einem 25 Jahre älteren Mann verheiratet ist, wünscht sich ein Kind von ihm. Als sie merkt, dass sie schwanger ist, wird Vuk verhaftet, und die Medien berichten, dass man "die Bestie von Bosnien" gefasst habe ...
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Kritik

Edna O'Brien verbindet in dem Roman "Die kleinen roten Stühle" die Tra­gö­die der Protagonistin mit der Zeit­geschich­te. Vor dem Hintergrund der Kriegsverbrechen auf dem Balkan geht es um die Sexualität einer Frau außerhalb der Ehe, Verführbarkeit, Gewalt und Schuld, Leugnen und die Unfähigkeit, die eigenen Verbrechen einzugestehen.
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Dr. Vladimir Dragan kommt nach Cloonoila

Im Dorf Cloonoila an der irischen Westküste taucht an einem Januar-Abend ein Fremder auf. Mit seinem weißen Bart, dem weißen Haar, den weißen Handschuhen und dem langen schwarzen Mantel kommt er Dara, der im Pub der Witwe Mona allein Dienst hat, wie ein Heiliger vor. Der seltsame Mann fragt nach einer Unterkunft. Obwohl das Country House Hotel geschlossen ist, überredet Dara die Besitzerin am Telefon, den Fremden wenigstens eine Nacht lang zu beherbergen. Am nächsten Tag bringt er ihn bei Fifi unter, obwohl sie in ihrem Cottage eigentlich nur Sommergäste aufnimmt, und schließlich hilft er ihm, die verwaisten Räume über einer früheren Boutique zu mieten. Dort richtet Dr. Vladimir Dragan aus Montenegro einen Monat nach seiner Ankunft eine Praxis als Heiler ein.

Fidelma MacBride

Die Boutique war von Fidelma MacBride nach den Flitterwochen mit dem 25 Jahre älteren Teppichhändler Jack Colbert MacBride in einem ehemaligen Teppich-Laden eingerichtet worden, aber schließlich nicht mehr zu halten gewesen. Fidelma war zweimal schwanger, aber in beiden Fällen verlor sie das ungeborene Kind. Inzwischen ist sie 40 Jahre alt.

Der Heiler

Rasch verbreiten sich Gerüchte über die Heilkräfte des charismatischen Alternativ-Mediziners, der auch martialische Gedichte schreibt und Verse rezitiert. Man nennt ihn Vuk. Das heißt Wolf. Sogar Schwester Bonaventure, eine der drei Nonnen, die noch im alten Kloster ausharren, dessen Hauptgebäude die Gemeinde gekauft und zur Schule umfunktioniert hat, zieht sich vor ihm bis auf die Unterhose aus und glaubt, die von seinen Händen ausgehende Magie zu spüren. Nur der frühere Lehrer Diarmuid warnt vor einem neuen Rasputin.

Fidelma und Vuk

Fidelma wünscht sich ein Kind von Vuk Dragan. Als sie das andeutet, weist er sie darauf hin, dass er ein priesterliches Leben führe. Aber nach einer Weile verabredet er sich mit ihr in einem Hotel, das so weit von Cloonoila entfernt ist, dass sie unerkannt bleiben können. Ihrem Ehemann sagt Fidelma, sie ziehe sich für zwei Tage zu Exerzitien in ein Karmeliterkloster zurück.

Während sich Vuk und Fidelma auch weiterhin heimlich treffen, bekommt Jack einen anonymen Hinweis auf die Untreue seiner Frau. Als die Reifen von Vuks Auto zerstochen werden und jemand auf die Straße „Wo Wölfe ficken“ schreibt, verschwindet Vuk aus Cloonoila.

Fidelma ist schwanger, weiß aber nicht, wie sie es Jack sagen soll.


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Fidelmas Leiden

Zur Verwunderung der Dorfbewohner kehrt Vuk Dragan nach einigen Wochen zurück. Er verbrachte die Zeit in einem Wohnwagen an der Küste von Galway. Wie Fidelma und einige andere Frauen nimmt er an einer Bus-Exkursion zum Ben Bulben teil. Unterwegs muss der polnische Fahrer anhalten. Zwei Polizisten aus Dublin steigen ein, gehen durch die Reihen und mustern die Gäste, bis sie Vuk entdecken. Sie haben einen Haftbefehl dabei und führen ihn in Handschellen ab.

Im Fernsehen heißt es, dass „die Bestie von Bosnien“ gefasst worden sei. Sogar Plodder Pat, der Dorfpolizist von Cloonoila, wurde von dem Zugriff überrascht.

Vuk hatte sich zunächst in verschiedenen Klöstern seiner Heimat versteckt. Als das zu gefährlich für ihn wurde, schmuggelte man ihn unter falschen Namen über Italien, Malta und Spanien nach Irland.

Kurz nach der Festnahme, noch vor den ersten Fernsehnachrichten darüber, kamen drei bedrohlich aussehende Ausländer in den Pub und fragten Mona nach Vuk. Ein LKW-Fahrer sprang vor dem Pub aus seinem Wagen und berichtete aufgeregt, dass er gesehen habe, wie der Heiler in Handschellen aus einem Bus geholt wurde.

Mona hätte Fidelma besser nicht erwähnt, denn die drei bosnischen Serben lassen sich von dem Taxifahrer Tyrone zu den MacBrides bringen und behaupten, mit Fidelma reden zu wollen. Sie ahnt, dass es um ihre heimliche Beziehung zu Vuk geht, und um aus der Hörweite ihres Mannes herauszukommen, ist sie bereit, ins Taxi zu steigen. Aber sie fahren nicht zum Pub, wie von ihr erwartet, sondern zu einer abgelegenen Ruine. Die Männer gehörten zur „Preventiva“, die den Präsidenten der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina beschützte.

„Wir waren von der ‚Preventiva‘ … haben ihn bewacht und beschützt und eskortiert … wir haben alles verloren … unsere Väter, unsere Kameraden, unser Land … dann der Frieden, ein lausiger Frieden, und er streicht die Beute ein. Macht Geschäfte … Schwarzmarkt, Zigaretten, Benzin, Schnaps […] Und wir haben nichts. Er ist der große Boss … Hat für sich gesorgt, aber nicht für uns. […] Wir töten alles, was seins ist … töten auch seine Katze.“

Während zwei der Männer Fidelma festhalten, rammt ihr der Dritte ein Brecheisen in die Vagina. Nachdem er wieder und wieder damit zugestoßen hat, verlassen die Verbrecher die Ruine.

Sie hört das Auto wegfahren, kurz herrscht völlige Stille, dann Getrippel, Ratten, die zum Fressen kommen, sie hört, wie sie das warme Blut aufschlecken.

Tyrone, der die Anweisungen der drei Gewaltverbrecher befolgte, weil er für seine schwangere Frau und vier Kinder sorgen muss, alarmiert schließlich Dara und fährt mit ihm zu der Ruine. Fidelma lebt noch. Dara und Tyrone bringen sie ins Krankenhaus.

Als Fidelma wieder aufstehen kann, versteckt sie sich wegen des Skandals zunächst bei den drei Nonnen. Dann flieht sie nach London, wo sie schließlich von der Afrikanerin Jasmeen aufgenommen wird.

Jasmeens Ehemann war Offizier. Sie hatte ein Dienstmädchen, einen Chauffeur und eine Schneiderin. Aber als die Töchter Sabrina und Jade acht bzw. dreieinhalb Jahre alt waren, verließ der Vater die Familie wegen einer jüngeren Frau, und Jasmeen wanderte mit den beiden Kindern nach England aus. Sabrina kehrte nach dem Biologie-Studium als Lehrerin nach Afrika zurück. Jade, die in einer WG in London lebt, träumt von einer Karriere als Model, Sängerin oder Schauspielerin.

Um Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen, bewirbt Fidelma sich bei einem Putz-Unternehmen. Ein Mann namens Bluey stellt sie für die Nachtschicht in einer Bank ein, aber die wegen ihrer Zöpfe „Medusa“ genannte afrikanische Kolonnenschieberin intrigiert mit fingierten Diebstählen und negativen Berichten gegen Fidelma. Eine Beschwerde beim Schichtleiter bleibt erfolglos, und nach fünfeinhalb Wochen kann Fidelma das Bankgebäude plötzlich nicht mehr betreten, weil ihr Ausweis gesperrt worden ist. Ihren Job bekommt eine Nichte Medusas.

Als Fidelma zufällig Bluey begegnet, vermittelt er ihr eine Aushilfstätigkeit in einem von seiner Freundin Tracy betriebenen Hundeheim auf dem Land.

Fidelma wohnt zunächst über dem nahen Pub. Als der pensionierte Lehrer James seinen Hund abholt, bietet er ihr das verwaiste Zimmer seiner toten Frau an, und Fidelma zieht zu ihm. Annie war nicht über die Totgeburt ihres Kindes hinweggekommen und hatte schließlich in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden müssen. Von dort wollte sie nicht mehr weg, und nach einiger Zeit schnitt sie sich nicht nur die Pulsadern, sondern auch den Bauch auf.

Als der Prozess gegen den Kriegsverbrecher beginnt, reist Fidelma nach Den Haag und sitzt beim letzten mündlichen Termin im Publikum. Vuk leugnet alles und gesteht keine Schuld ein. Die Anschuldigungen seien erfunden, behauptet er.

Fidelma besucht ihn im Gefängnis. Er redet nur von sich und seiner angeblichen Unschuld, auch als Fidelma von ihrer Schwangerschaft und der Vergewaltigung durch seine drei früheren Anhänger berichtet. Erst als sie ihn als Monster beschimpft, reagiert Vuk: Er rastet aus und schreit die Wärter an, damit sie die Besucherin packen und hinausbringen.

Schließlich kehrt Fidelma nach Cloonoila und zu Jack zurück, aber er stirbt noch am ersten Abend.

Daraufhin zieht Fidelma endgültig nach London und engagiert sich in dem von Varya, einer Überlebenden des Massakers von Sarajewo, geleiteten Zentrum für traumatisierte Migrantinnen und Migranten.

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Die irische Schriftstellerin und Drehbuchautorin Edna O’Brien (*1930) erzählt immer wieder von Frauen, die von der Gesellschaft für ihre außereheliche Sexualität bestraft werden. Ihr Debütroman „The Country Girls“ („Die Fünfzehnjährigen“, Übersetzung: Jeanie Ebner) erschien 1960. Er wurde ebenso wie die beiden folgenden Bücher – „The Lonely Girl“ (1962; „Das Mädchen mit den grünen Augen“) und „Girls in Their Married Bliss“ (1964; „Mädchen im Eheglück“) – in Irland verboten und öffentlich verbrannt.

In „The Little Red Chairs“ / „Die kleinen roten Stühle“ verknüpft Edna O’Brien die persönliche Tragödie der Protagonistin Fidelma MacBride mit der Zeitgeschichte. Fidelma bricht die Ehe mit einem unter falscher Identität nach Irland geflohenen serbisch-bosnischen Kriegsverbrecher, bei dem Edna O’Brien an Radovan Karadžić gedacht haben muss. Auf diese Weise erweitert sich das Thema. Der Roman „Die kleinen roten Stühle“ dreht sich nicht nur um die Sexualtät einer Frau außerhalb der Ehe, sondern um Verführbarkeit, Gewalt und Schuld, Leugnen und die Unfähigkeit, die eigenen Verbrechen einzugestehen.

Edna O’Brien wechselt in „Die kleinen roten Stühle“ zwischen Präsens und Präteritum. Auch die Perspektive verändert sich. Einige Abschnitte werden von einer auktorialen Erzählerin dargestellt, bei anderen versetzt sich die Autorin in eine der Figuren und übernimmt deren subjektive Sicht. Jack kommt in einem Kapitel („Jack“) sogar in der Ich-Form zu Wort.

Das irische Dorf Cloonoila sucht man vergeblich auf der Landkarte, denn es handelt sich um einen fiktiven Ort.

Der Titel „Die kleinen roten Stühle“ bezieht sich auf 11 541 rote Stühle, die am 6. April 2012 entlang der 800 Meter langen Hauptstraße von Sarajevo aufgestellt wurden. Mit jedem der Stühle gedachte man eines der während der Belagerung Sarajevos durch bosnische Serben vom 5. April 1992 bis 29. Februar 1996 getöteten Bewohners. 643 der Stühle standen für Kinder.

Edna O’Brien verfolgte den Prozess gegen Radovan Karadžić am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vor Ort. Der Kriegsverbrecher wurde 2016 zu 40 Jahren Haft verurteilt.

Der Steidl Verlag machte aus der von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl übersetzten Ausgabe von „Die kleinen roten Stühle“ ein fadengeheftetes Buch mit Lesebändchen, farbigem Vorsatz und Stoffeinband.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Steidl Verlag

Edna O’Brien: Das Mädchen mit den grünen Augen

Radovan Karadžić (kurze Biografie)

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