Die fabelhafte Welt der Amélie

Die fabelhafte Welt der Amélie

Die fabelhafte Welt der Amélie

Die fabelhafte Welt der Amélie - Originaltitel: Le fabuleux destin d'Amélie Poulain - Regie: Jean-Pierre Jeunet - Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet und Guillaume Laurant - Kamera: Bruno Delbonnel - Schnitt: Céline Kelepkis - Musik: Yann Tiersen - Darsteller: Audrey Tautou, Mathieu Kassovitz, Rufus, Yolande Moreau, Dominique Pinon, Serge Merlin, Jamel Debbouze, Isabelle Nanty, Artus de Penguern, Urbain Cancelier, Flora Guiet, Claire Maurier, Clotilde Mollet u.a. - 2001; 120 Minuten

Inhaltsangabe

Als Amélie zufällig eine Blechschachtel mit vergilbten Fotos und Zinnsoldaten findet, macht sie sich auf die Suche nach dem Mann, der sie als kleiner Junge versteckte. Der ist darüber so gerührt, dass er nach langer Zeit wieder einmal seine Tochter besucht. Aufgrund des Erfolgs beschließt Amélie, auch für andere Menschen Glücksfee zu spielen ...
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Kritik

"Die fabelhafte Welt der Amélie" ist völlig anders als alle Filme, die zuvor gedreht wurden. Jean-Pierre Jeunet hat tausend aberwitzige Einfälle mit unbändiger Freude zu einer zauberhaften Geschichte kombiniert und mit Audrey Tautou die ideale Schauspielerin für die zauberhafte Hauptrolle gefunden.
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Paris in den 70er Jahren. Amélies Vater Raphael Poulain (Rufus), ein Militärarzt, nimmt einmal im Monat sein Stethoskop und untersucht das Kind (Flora Guiet). Weil er sonst Distanz zu anderen Menschen wahrt, ist es nicht verwunderlich, dass seine Tochter auf die ungewohnte Nähe mit einer erhöhten Pulsfrequenz reagiert. Aber Raphael Poulain diagnostiziert ein Herzleiden und sorgt dafür, dass Amélie weder mit anderen Kindern spielt noch zur Schule geht. Da passt es gut, dass ihre Mutter Lehrerin ist und das Mädchen zu Hause unterrichten kann. Einmal nimmt sie das Kind mit in die Kirche, damit es dort eine Kerze anzündet und dafür betet, ein Brüderchen zu bekommen. Beim Verlassen der Kirche wird sie von einer kanadischen Touristin, die gerade vom Turm springt, erschlagen.

Amélie ist eine Träumerin. Im Sucher ihres Fotoapparats verwandeln sich Schönwetterwolken in Hasen und Teddybären. Aber sie kann auch böse werden. Etwa, wenn ihr der Nachbar einzureden versucht, durch ihr Fotografieren löse sie Unfälle aus. Dann klettert sie bei ihm aufs Dach und zieht während einer Fußballübertragung im Fernsehen alle paar Minuten den Antennenstecker heraus.

Wir begegnen Amélie erneut, als sie etwa 22 Jahre alt ist und als Serviererin in einer Bar arbeitet (Audrey Tautou). Noch immer sammelt sie in ihrer Manteltasche flache Steine, und sobald sie an einen Teich kommt, lässt sie die Kiesel über die Wasseroberfläche springen. Sie ist eine Träumerin geblieben, aber sie sieht auch im wirklichen Leben mehr als andere Menschen und achtet auf Kleinigkeiten. Staunend geht sie mit ihren weit geöffneten Augen durch die Welt.

Am 31. August 1997 steht sie mit einem Flakon im Bad ihrer Mietwohnung, als die Nachricht vom tödlichen Autounfall der englischen Prinzessin Diana in Paris gesendet wird. Entsetzt lässt Amélie den Verschluss des Flakons fallen, eine schwere Glaskugel, die gegen die Wand rollt und eine Kachel lockert. Als Amélie die Platte herausnimmt, entdeckt sie dahinter ein Loch in der Mauer und eine versteckte alte Blechschachtel, die vergilbte Fotos und Zinnsoldaten enthält.

Amélie beschließt, den Menschen ausfindig zu machen, der diese Schachtel vor Jahrzehnten als Kind versteckt hat und seine Reaktion zu beobachten. Als erstes fragt sie die Concierge (Yolande Moreau). Die lädt sie zu einem Gläschen Portwein ein und liest ihr traurig aus alten Liebesbriefen ihres Mannes vor, der sie vor langer Zeit verlassen hat. Aber die Mieter von damals kennt sie nicht. Sie rät Amélie, es beim Gemüsehändler Collignon (Michel Robin) auf der anderen Straßenseite zu versuchen. Der verweist sie an ein altes Ehepaar, und tatsächlich findet die Frau in ihren Aufzeichnungen den Namen. Doch von den Männern mit diesem Namen, die Amélie aufsucht, kommt keiner in Frage. Erst der alte Kunstmaler (Serge Merlin), der schräg gegenüber von Amélie wohnt, weiß, wie der Name richtig geschrieben wird: Bretodeau. Amélie macht den Mann (Maurice Benichou) ausfindig, und als er an einer Telefonzelle vorbeikommt, ruft sie dort an. Er nimmt den Hörer ab. Niemand meldet sich. Aber auf dem Telefonbuch entdeckt er eine Blechschachtel. Ungläubig staunend öffnet er sie und findet seine Kinderspielsachen. Damit läuft er in die nächste Bar und erzählt dem Wirt von dem Wunder, das er gerade erlebte. Amélie steht neben ihm am Tresen und hört, wie er sich – durch das Erlebnis gerührt – vornimmt, nach langen Jahren endlich wieder einmal seine Tochter und deren Sohn zu besuchen. Sie gibt sich nicht zu erkennen, ist aber sehr zufrieden mit ihrer neuen Rolle als Norne.

Weil sie ihren einsamen Vater nicht zu einer Reise überreden kann, holt sie heimlich den Gartenzwerg, den er im Garten aufgestellt hat und übergibt ihn einer Stewardess, um deren Katze sie sich regelmäßig kümmert. Von da an wundert sich Raphael Poulain jede Woche über Briefkuverts, die von allen Kontinenten an ihn geschickt werden und stets ein Polaroid-Foto enthalten, auf dem sein Gartenzwerg vor einer Touristenattraktion wie der Freiheitsstatue oder dem Kreml zu sehen ist.

Als Amélie in einer Zeitung liest, dass ein bei einem Flugzeugabsturz verloren gegangener Brief nach 40 Jahren zugestellt wurde, nimmt sie heimlich die von der Concierge aufbewahrten Liebesbriefe, kopiert sie und setzt aus den Schnipseln einen neuen Brief in der Handschrift desselben Mannes zusammen. Eine Fotokopie davon schickt sie der unglücklichen Frau mit einem angeblichen Entschuldigungsschreiben der Post. Überglücklich teilt ihr die Concierge am nächsten Tag im Treppenhaus mit, dass sie einen verschollenen Brief von ihrem Mann erhielt: Er war bei der Fremdenlegion und bezeichnete es als seinen größten Fehler, dass er sie verlassen hatte.

Den Gemüsehändler Collignon dagegen, der seinen etwas debilen Angestellten (Jamel Debbouze) ständig beschimpft, ärgert sie, indem sie beispielsweise den Alarm seines Weckers von 6 Uhr auf 4 Uhr vorstellt.

Weil der Maler an der Glasknochenkrankheit leidet, hat er um die Sessellehnen und sogar um das Fernsehgerät dicke Polster gebunden. Die Videokamera, die er einmal geschenkt bekam, ist auf die Uhr eines Geschäftes auf der anderen Straßenseite gerichtet. So kann er auf dem Bildschirm sehen, wie spät es ist, ohne seine eigenen Uhren aufziehen zu müssen. Jedes Jahr kopiert er dasselbe Bild. Darauf ist in einer Gruppe ein Mädchen mit einem Glas in der Hand zu sehen. Ihr Gesichtsausdruck will ihm nicht so richtig gelingen und er fragt Amélie, die gerade ein Glas Tee in der Hand hält, an was das Mädchen wohl denke.

In der Bar, in der Amélie bedient, sitzt tagsaus, tagein ein Mann (Dominique Pinon). Joseph, so heißt er, beobachtet eifersüchtig Amélies Kollegin und hält mit einem Diktiergerät minuziös fest, welche Kontaktversuche seiner ehemaligen Freundin zu anderen Männern er festzustellen glaubt – bis Amélie ihm eines Tages vormacht, die Verkäuferin in der Tabakecke (Isabelle Nanty) sei in ihn verliebt. Kurz darauf erzählt sie der Frau, die ständig an irgendwelchen Krankheiten zu leiden glaubt, Joseph sitze nur ihretwegen jeden Tag in der Bar. Zufrieden schaut Amélie zu, wie die beiden flirten und die Tabakverkäuferin erblüht. (Das geht so lange gut, bis Joseph auch die neue Freundin mit seiner übertriebenen Eifersucht verfolgt und sie entnervt vor ihm flüchtet.)

In einem Bahnhof fällt Amélie mehrmals ein junger Mann (Mathieu Kassovitz) auf, der neben einem Fotoautomaten am Boden liegt und darunter mit einem langen Blechstück nach weggeworfenen Passfotos angelt. Einmal rennt er einem anderen Mann hinterher. Dabei verliert er eine Tasche. Amélie hebt sie auf und nimmt sie mit. Sie enthält ein dickes Fotoalbum mit zahlreichen, teilweise aus Schnipseln zusammengesetzten, offenbar weggeworfenen Passfotos. Das Gesicht eines Mannes taucht dabei immer wieder auf. Wieso benützt er so häufig einen Fotoautomaten und wirft die Bilder dann fort? Der Albenbesitzer heißt Nino Quincampoix. Als Amélie seine Nummer wählt, meldet sich ein Pornoladen. Entsetzt legt sie wieder auf. Dann überwindet sie sich und geht hin. Von einer Verkäuferin erfährt sie, dass Nino in dem Pornogeschäft regelmäßig aushilft, jetzt aber auf dem Rummelplatz in der Geisterbahn zu finden sei. Sie fährt mit der Geisterbahn, ohne ihn anzusprechen. Um ihm das Album zurückzugeben, lotst sie ihn umständlich zu Sacre Coeur hinauf. Als er von oben durch das Münzfernrohr schaut, sieht er, wie Amélie das Album in die Satteltasche seines Mopeds packt. Er rennt den Abhang hinunter, aber das Mädchen ist verschwunden.

Als Amélie herausfindet, um wen es sich bei dem so häufig im Album abgebildeten Mann handelt, bestellt sie Nino zu einem Fotoautomaten, dessen Münzschlitz sie verstopft hat und ruft gleichzeitig den Störungsdienst an. Dadurch trifft Nino auf den Monteur, der die defekten Fotoautomaten repariert, sie anschließend ausprobiert und die Bilder achtlos wegwirft. Das Geheimnis ist aufgeklärt.

Amélie, die das Geschehen aus der Nähe beobachtet hat, wagt sich nicht zu zeigen. Als nächsten Treffpunkt schlägt sie mit einer Notiz auf einem Automatenfoto, das sie mit einer Zorro-Maske zeigt, die Bar vor, in der sie arbeitet, gibt sich jedoch wieder nicht zu erkennen. Das Mädchen, das für andere Menschen die Glücksfee spielt und sich längst in den jungen Mann verliebt hat, ist zu ängstlich, um sich auf eine Beziehung einzulassen. Da wird ihre Kollegin aktiv und verrät Nino die Adresse von Amélies Wohnung. Beim ersten Besuch wagt Amélie ihre Tür nicht zu öffnen. Aber nachdem ihr der Maler per Videokassette zugeredet hat, mutiger zu sein, lässt sie Nino beim zweiten Versuch herein. Zärtlich beginnt sie ihn zu küssen.

Der Maler widmet sich endlich einem anderen Bild, und Amélies Vater steigt mit zwei Koffern in ein Taxi: „Zum internationalen Flughafen“, sagt er dem Fahrer.

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Jeder Versuch einer Inhaltsangabe dieses Filmes bleibt darauf beschränkt, ein paar Fäden des Handlungsknäuels herauszuzupfen.

Am Anfang heißt es aus dem Off: „Auch wenn man Millionen von Daten kennt – etwa die Frequenz des Flügelschlags und den Aufenthaltsort einer einzelnen Fliege –, bleibt das Schicksal unberechenbar.“ Im nächsten Augenblick sehen wir, wie eine Fliege von einem Auto plattgefahren wird.

„Die fabelhafte Welt der Amélie“ ist völlig anders als alle Filme, die zuvor gedreht wurden. Zuerst denkt man noch an „Lola rennt“, aber das Tempo und die neuartige Sehweise von Jean-Pierre Jeunet geht noch weit darüber hinaus. Tausend aberwitzige Einfälle hat der französische Regisseur mit unbändiger Freude – die sich auf den Zuschauer überträgt – zu einer zauberhaften Geschichte kombiniert. Dabei experimentiert er mit allen technischen Möglichkeiten, die das Medium bietet. (Gelungen ist zum Beispiel eine sekundenlange Einstellung, in der Amélie das Gesicht zum Weinen verzieht, ihre Gestalt sich in Wasser verwandelt und zu Boden rauscht.) Der skurrile Film lässt sich in keine Schublade stecken, ist Comic, Slapstick, Großstadtmärchen, Komödie und romantische Lovestory zugleich. Die nicht nur in Episoden, sondern in winzige Portionen aufgeteilte Bilder- und Ideenflut wirkt wie eine Achterbahnfahrt, aber trotz des rasanten Tempos, der zahlreichen Sprünge und der vielen Figuren, Nebengassen und Umleitungen, braucht man sich nicht anzustrengen, um die Übersicht über das komplexe Geschehen zu behalten.

Von Spielfilmen mit einem Sprecher, der aus dem Off erzählt, was geschieht, halte ich normalerweise nichts, weil Bilder die Sprache des Filmregisseurs sein sollen. „Die fabelhafte Welt der Amélie“ ist eine Ausnahme: Da gehört der Erzähler wie selbstverständlich mit in das poetische Gespinst.

Auch die Musik passt genau und trägt sehr zur lebensbejahenden Atmosphäre des Films bei.

Die Hauptrolle wollte Jean-Pierre Jeunet zunächst mit Emily Watson besetzen. Ja, das wäre schon eine ausgezeichnete Wahl gewesen. Auch Juliette Binoche hätte „Amélie“ sehr gut spielen können. Aber Audrey Tautou ist die ideale Schauspielerin für diese wunderbare Rolle, weil sie mit leisen Gesten und Gebärden intensive Gefühle ausdrückt, mit ihren großen staunenden Augen wie ein Kobold wirkt und dazu noch wie eine schöne Puppe aussieht.

Wer ein wenig Lebensfreude tanken möchte, sollte sich diesen Film nicht entgehen lassen. Aber auch anderen Menschen, die sich gern durch ein kreatives Filmkunstwerk in einen rauschhaften Zustand versetzen lassen, kann ich „Die fabelhafte Welt der Amélie“ empfehlen. Ich schaue mir den Film sicher noch einige Male an.

„Oscar“-Nominierungen gab es seltsamerweise zwar nicht für Audrey Tautou, doch immerhin für Regisseur, Drehbuch, Kamera, Ausstattung und Ton.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

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