Kurt Schwitters


»Ich wurde als ganz kleines Kind geboren. Meine Mutter schenkte mich meinem Vater, damit er sich freute […] Die größte Freude für meinen Vater aber war es, dass ich kein Zwilling war«, schreibt Kurt Schwitters. Er hatte tatsächlich keine Geschwister, aber er kam im Tierkreiszeichen Zwilling auf die Welt, am 20. Juni 1887, als Sohn von Henriette und Eduard Schwitters, die seit einem Jahr in Hannover ein Damenkonfektionsgeschäft am Theaterplatz betrieben.

Nach dem Abitur im Jahr 1908 besuchte Kurt Schwitters die Kunstgewerbeschule in Hannover und wechselte im Jahr darauf zur Königlichen Kunstakademie in Dresden. In der sächsischen Metropole hatten die Expressionisten Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff und Fritz Bleyl 1905 den Künstlerbund »Die Brücke« gegründet, aber dafür interessierte sich Kurt Schwitters ebenso wenig wie für den »Blauen Reiter« in München oder andere avantgardistische Kunstrichtungen.

Am 5. Oktober 1915, ein Jahr nach der Beendigung seiner Ausbildung in Dresden, heiratete Kurt Schwitters die Sprachlehrerin Helma Fischer, eine Cousine zweiten Grades, und zog mit ihr nach Hannover. Wegen seiner Kränklichkeit – die im Gegensatz zu seiner sportlichen Leistungsfähigkeit, seinen Bärenkräften und seiner Energie stand – wurde er erst im März 1917 zum Kriegsdienst eingezogen und nach drei Monaten Dienst auf der Schreibstube wieder entlassen. Als Ersatz musste er vom 25. Juni 1917 bis 8. November 1918 in einem Eisenwerk bei Hannover kriegswichtige Werkstattzeichnungen anfertigen.

Bald danach begründete Kurt Schwitters mit einer Assemblage eine neue Kunstauffassung. »Aus Sparsamkeit nahm ich dazu, was ich fand, denn wir waren ein verarmtes Land […] Kaputt war sowieso alles, und es galt, aus den Scherben Neues zu bauen.« Er nagelte Metallgitter auf eine Platte, klebte Holzstücke und Papierfetzen dazu und spannte Linien aus Fäden und Drähten. Eines der Schnipsel stammte aus einer Zeitungsanzeige der »KOMMERZ- UND PRIVATBANK«, aber Kurt Schwitters hatte nur die Silbe »MERZ« ausgeschnitten – und gab mit diesem Fragment dem Bild und der Idee einen assoziativ schillernden Namen.

Mit den Worten »Ich bin Maler, ich nagle meine Bilder« stellte sich Kurt Schwitters dem Dadaisten Raoul Hausmann in Berlin vor. »Indem ich verschiedenartige Materialien gegeneinander abstimme«, erläuterte er, »habe ich gegenüber der Nur-Ölmalerei ein Plus, da ich außer Farbe gegen Farbe, Linie gegen Linie, Form gegen Form usw. noch Material gegen Material, etwa Holz gegen Sackleinen werte.«

Die Dinge, die er für eine Collage oder Assemblage verwendete, wurden »entmaterialisiert« und in neue Zusammenhänge gebracht, ließen sich jedoch zugleich mit ihrer ursprünglichen Bedeutung assoziieren und erhielten dadurch eine Doppelwertigkeit. Kurt Schwitters hat weder die Collage noch das Materialbild erfunden – ein von Marcel Duchamp 1913 auf einen Sockel montiertes Rad eines Fahrrads gilt als erstes »Ready-made« –, aber er hat ihnen in der »Merz«-Kunst eine neue Bedeutung gegeben. »Merz meint nicht eine Kunstart oder Kunstgattung, sondern ein künstlerisches Weltverhalten, das keine Grenze zwischen den Kunstdisziplinen, auch nicht zwischen […] Kunst und Kitsch, zwischen Bedeutendem und Banalem, zwischen Sinn und Unsinn, vor allem aber auch nicht zwischen Kunst und Leben, Kunstwerk und Welt kennt. Die Revolution des Kurt Schwitters war individuell – und total.« (Ernst Nündel) Obwohl Kurt Schwitters wie viele mit ihm befreundete Dadaisten versuchte, bildende Kunst, Lyrik und Musik zu verbinden, legte er Wert darauf, dass die Merzkunst eigenständig blieb, und er verglich sie mit einem Hut, der nur auf einen einzigen – seinen – Kopf passte.

Im Frühsommer 1920 ließ der Verleger Paul Steegemann ein Gedicht von Kurt Schwitters auf ein Plakat drucken und an Litfaßsäulen in Hannover kleben. Es trägt den Titel »Anna Blume« und beginnt mit den Versen: »O du, Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne, ich / liebe dir! – Du deiner dich dir, ich dir, du mir, / – Wir? / Das gehört (beiläufig) nicht hierher. / Wer bist du, ungezähltes Frauenzimmer? Du bist / – – bist du? Die Leute sagen, du wärest, – lass / sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht. / Du trägst den Hut auf deinen Füßen und wanderst / auf die Hände, auf den Händen wanderst du. / Hallo, deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. / Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich dir? – Du / deiner dich dir, ich dir, du mir, – Wir? / […]«

Wenn Kurt Schwitters das Gedicht »Anna Blume« selbst vortrug – eine Schallplattenaufnahme vom 5. Mai 1922 blieb erhalten –, wurde besonders deutlich, wie er lyrische Attitüde parodierte. »Anna Blume« entstand ähnlich wie das erste »Merzbild«: Dem grammatikalisch verunglückten Satz »Anna Blume hat ein Vogel«, den irgendjemand auf ein Brett gekritzelt hatte, entnahm er den Titel. So wie Kurt Schwitters Assemblagen aus vorhandenem Material zusammenstellte, montierte er seine abstrakte Lyrik vorzugsweise aus Fragmenten bereits existierender Texte, zum Beispiel Redensarten oder Zeitungsartikeln. Statt »Spezialist einer Kunstart« wollte Kurt Schwitters Künstler sein. »Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfasst zur künstlerischen Einheit […] Ich habe […] Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. Ich habe Bilder so genagelt, dass neben der malerischen Bildwirkung eine plastische Reliefwirkung entsteht […] Das Merzgesamtkunstwerk aber ist die Merzbühne, die ich bislang nur theoretisch durcharbeiten konnte.« (Es blieb ein Konzept, eine Utopie.)

Von 1921 bis 1926 und auch noch danach arbeitete Kurt Schwitters an einer so genannten »Ursonate«. Ernst Nündel beschreibt, wie der Künstler sie vortrug: In der Erwartung, eine Dichterlesung zu hören, hat sich ein vornehmes Publikum bei einer Dame der Gesellschaft eingefunden. Kurt Schwitters tritt im dunkelblauen Anzug auf und verbeugt sich vor den Versammelten. Dann öffnet er den Mund und »singt, flötet, zwitzschert, röhrt, gurrt, faucht, buchstabiert«. Entrüstete Zurufe und prustendes Gelächter bringen Kurt Schwitters nicht aus dem Konzept. Erst allmählich bemerken einige der Zuhörer musikalische Strukturen in dem ungewohnten Vortrag und beginnen zu verstehen, dass es sich um eine »Sonate in Urlauten« – kurz »Ursonate« – handelt.

Obwohl Kurt Schwitters sich intensiv mit Typografie beschäftigte, fand er keine befriedigende Lösung für die Visualisierung der akustischen Gestalt. Schließlich überließ er die Aufgabe seinem Freund Jan Tschichold (1902 – 1974), einem der bedeutendsten Typografen des 20. Jahrhunderts.

Um 1923 herum fing Kurt Schwitters an, das Innere seines Elternhauses in Hannover nach seinen Vorstellungen mit Brettern, Gittern und Gips zu einer begehbaren Innenplastik auszugestalten. Ab 1925/26 wuchs der »Merzbau« mit seinen Säulen und Grotten aus dem ersten Raum hinaus in andere Zimmer, schließlich durch ein Fenster ins Freie und hinauf zum Dachfirst, wo auf diese Weise eine zum Sonnenbaden geeignete Plattform entstand.

Nach dem Ersten Weltkrieg reiste Kurt Schwitters sehr viel, um Kontakte zu Künstlern, Galerien und Redaktionen zu knüpfen und seine Werke auf Ausstellungen und Veranstaltungen vorzustellen. Obwohl er ein Individualist war und sein wollte, pflegte Kurt Schwitters einen großen Freundeskreis und engagierte sich in zahlreichen Künstlervereinigungen. Auch im Zugabteil – stets in der einfachsten Klasse – und während seiner Aufenthalte bei Freunden und Bekannten arbeitete er rastlos an eigenen Projekten, aber auch an Aufträgen, etwa grafischen bzw. typografischen Entwürfen für Werbezwecke. Seine Korrespondenz nahm ein solches Ausmaß an, dass er sie allein nicht mehr bewältigen konnte und auf die Unterstützung seiner verständnisvollen Ehefrau Helma angewiesen war.

Politisch engagierte Kurt Schwitters sich nie. »Ich bin tolerant und lasse jedem seine Weltanschauung«, sagte er von sich. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, vermied er öffentliche Auftritte und bevorzugte private Zirkel.

Am 2. Januar 1937, einen Tag nachdem ein Gesetz in Kraft getreten war, das Achtzehnjährigen wie seinem Sohn Ernst die Ausreise verbot, brachte Kurt Schwitters ihn nach Norwegen. Eigentlich wollte er nur ein paar Monate bleiben und Ernst helfen, in dem fremden Land Fuß zu fassen, doch als er erfuhr, dass die Gestapo nach ihm suchte, kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück. Helma Schwitters blieb in Hannover, um zusammen mit ihrer seit 1931 verwitweten Schwiegermutter auf die vier Mietshäuser der Familie aufzupassen. Im Mai/Juni 1939 konnte sie Kurt und Ernst zum letzten Mal besuchen. Unglücklich war Kurt Schwitters in Norwegen nicht nur wegen der Trennung von seiner Frau, sondern auch, weil er dort mit seinen eigenwilligen Vorstellungen auf völliges Unverständnis stieß und mit niemandem darüber diskutieren konnte. Um etwas Geld zu verdienen, malte Kurt Schwitters konventionelle Gebirgslandschaften und Porträts. Heimlich und ohne Baugenehmigung legte er am Abhang unterhalb des Hauses in Lysaker bei Oslo, in dem er wohnte, einen sechs Meter hohen zweiten Merzbau an: »Haus am Bakken«.

Als die deutschen Truppen Norwegen überfielen, floh Kurt Schwitters am 9. April 1940 mit seinem Sohn und seiner Schwiegertochter Esther nach Norden. Am 8. Juni, zwei Tage bevor Norwegen kapitulierte, verließen sie das Land auf dem Eisbrecher »Fritjof Nansen« und trafen zehn Tage später in Schottland ein – wo sie erst einmal interniert wurden.

Nach 17 Monaten wurde Kurt Schwitters endlich aus einem Lager auf der Isle of Man entlassen. »Ich bin wieder frei«, schrieb er in einem Brief, »wie ein Vogel im Wasser und möchte gern singen.« Zunächst zog er zu seinem Sohn, der inzwischen für die norwegische Exilregierung in London arbeitete. Nachdem Ernst und Esther sich getrennt hatten, führte Kurt Schwitters den Haushalt. Um Geld zu verdienen, schickte er Briefe an alle möglichen Bekannten und versuchte, Aufträge für Porträts von ihnen zu bekommen.

1944 erlitt Kurt Schwitters einen Schlaganfall und erfuhr danach, dass Helma in Hannover einer Krebserkrankung erlegen war. Einige Monate später starb auch seine Mutter. Ernst Schwitters ließ sich wieder in Norwegen nieder. Sein Vater blieb jedoch nicht einsam in London zurück, denn er hatte kurz nach seiner Freilassung Edith Thomas kennen gelernt und sich eng mit »Wantee« – so nannte er sie – befreundet. Sie zogen im Juni 1945 nach Ambleside im Lake District, wo Kurt Schwitters auf den Stufen des von ihnen bewohnten Brückenhauses aus dem Mittelalter Gemälde von Landschaften und Blumen zum Kauf anbot. Obwohl er nach einer Gehirnblutung Anfang 1946 nur noch wenige Stunden am Tag arbeiten konnte, nutzte er die Gelegenheit, ein drittes Merzhaus zu bauen, und zwar in einer Scheune außerhalb von Ambleside, die ihm ein Brite zur Verfügung stellte, mit dem er sich 1947 beim Malen eines Porträts befreundet hatte: Harry Pierce. Jeden Tag fuhr Kurt Schwitters mit dem Bus zur Farm, um drei Stunden an der »Merz Barn« weiterzumachen. »Ich arbeite jede Minute, die ich dazu fähig bin«, beteuerte er. Doch im Dezember 1947 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand so, dass er ins Krankenhaus der Stadt Kendal eingeliefert werden musste. Dort starb Kurt Schwitters am 8. Januar 1948 an Herzversagen.

Literatur über Kurt Schwitters

  • Lothar Reinhard Maria Baumann: Die erzählende Prosa der deutschsprachigen Dadaisten, dargestellt am Beispiel von Hugo Ball, Richard Huelsenbeck und Kurt Schwitters. Dissertation, Mainz 1977
  • John Elderfield: Kurt Schwitters. Düsseldorf 1987
  • Helmut Heissenbüttel: Versuch über die Lautsonate von Kurt Schwitters.
    Wiesbaden 1983
  • Heinz E. Hirscher: Der Merz-Künstler Kurt Schwitters und sein Materialbild.
    Stuttgart 1978
  • Friedhelm Lach: Der Merz-Künstler Kurt Schwitters. Köln 1971
  • Ernst Nündel: Kurt Schwitters mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1981
  • Gerhard Schaub (Hg.): Kurt Schwitters. „Bürger und Idiot“. Beiträge zu Werk und Wirkung eines Gesamtkünstlers. Mit unveröffentlichten Briefen an Walter Gropius.
    Berlin 1993
  • Bernd Scheffer: Anfänge experimenteller Literatur. Das literarische Werk von Kurt Schwitters. Bonn 1978
  • Werner Schmalenbach: Kurt Schwitters. Köln 1967
  • Klaus Stadtmüller (Hg.): Schwitters in Norwegen. Arbeiten, Dokumente, Ansichten. Hannover 1997

© Dieter Wunderlich 2006

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