Die Eleganz der Madame Michel
Die Eleganz der Madame Michel
Inhaltsangabe
Kritik
Renée Michel (Josiane Balasko) ist seit 26 Jahren Concierge bzw. Guardienne in einem Pariser Wohnhaus. So wie die großbürgerlichen Bewohner die 54-Jährige wahrnehmen, entspricht sie voll und ganz dem Klischee ihrer beruflichen Funktion: unattraktiv, mürrisch, ungebildet. Aber hinter dem von der Türe her einsehbaren Raum, indem stets das Fernsehgerät läuft, gibt es noch ein Zimmer, und dabei handelt es sich um eine Bibliothek, denn in Wirklichkeit handelt es sich bei Madame Michel um eine belesene, feinsinnige Witwe, die ihren Kater aus Verehrung Tolstois Leo nennt und beim Lesen gern Schokoladestückchen auf der Zunge zergehen lässt.
In eine durch einen Todesfall frei gewordene Wohnung des Hauses zieht ein vornehmer Japaner: Herr Ozu. Als er der Concierge zum ersten Mal begegnet, sagt sie während des kurzen Gesprächs: „Alle glücklichen Familien ähneln einander.“ Und Kakuro Ozu (Togo Igawa) antwortet zu ihrer Verwunderung: „Jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Damit setzt er das Zitat aus „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi fort. Seine beiden Katzen heißen Kitty und Ljewin nach zwei Figuren des Romans. Bald nach seinem Einzug schenkt er Madame Michel eine schöne alte Ausgabe von „Anna Karenina“ in zwei Bänden. Er ist der Einzige im Haus, der hinter die Fassade der Concierge blickt und sie nicht als Funktionsträgerin, sondern als Mensch betrachtet.
Nun beginnt jedoch noch jemand sich für Madame Michel zu interessieren: Paloma Josse (Garance Le Guillermic), ein altkluges elfjähriges Mädchen, das mit seinem Vater Paul (Wladimir Yordanoff), einem Abgeordneten, der neurotischen, mit ihren Pflanzen sprechenden Mutter Solange (Anne Brochet) und der älteren Schwester, der Philosophiestudentin Colombe (Sarah Le Picard), in einer der Wohnungen lebt. Obwohl sie noch ein Kind ist, hat Paloma den Materialismus, die Hohlheit und Heuchelei der großbürgerlichen Erwachsenen durchschaut, die sich wie Colombes Goldfisch in einer Parallelwelt bewegen. Weil sie auf keinen Fall so werden will wie ihre Eltern, die sich nur oberflächlich um sie kümmern, hat sie beschlossen, sich am 16. Juni, ihrem 12. Geburtstag, mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Die 165 Tage bis 16. Juni verwendet sie, um zur Begründung ihres Suizids die Menschen in ihrer Umgebung zu filmen.
Eines Nachts vergiftet Paloma den Goldfisch ihrer Schwester und spült ihn im WC hinunter.
Sie drängt sich der Concierge auf, fragt sie aus und gibt keine Ruhe, bis ihr Madame Michel zeigt, was sich hinter der stets verschlossenen Türe zum Nebenraum verbirgt. Auch mit Herrn Ozu beschäftigt Paloma sich, zumal sie Japanisch lernt, und als er seine Enkelin Yoko (Miyako Ribola) zu Besuch hat, spielt sie mit den beiden Go.
Madame Michel wird von Kakuro Ozu zum Essen eingeladen. Sie findet das zwar höchst ungewöhnlich, sagt aber zu. Sie vertraut es dem Dienstmädchen Manuela Lopez (Ariane Ascaride) an, das inzwischen von Familie Josse zu Herrn Ozu wechselte, der sie großzügiger entlohnt. Manuela ist begeistert und besorgt Renée Michel nicht nur einen Termin bei ihrer Friseurin (Jeanne Candel), sondern bringt ihr auch noch das elegante Kleid einer kürzlich verstorbenen Frau, für die sie ebenfalls arbeitete. Falls die Hinterbliebenen danach fragen, wird sie ihnen sagen, es sei in der Reinigung.
Kakuro Ozu hat selbst gekocht. Beim Essen der Nudelsuppe bekleckert Madame Michel ihr Kleid. Aber der Abend ist sehr schön. Renée Michel erfährt, dass auch Kakuro Ozu Witwer ist: Seine Frau starb vor 15 Jahren an Krebs.
Am Samstagnachmittag geht Renée Michel, wie verabredet, mit einer Videokassette und einem Kuchen zu Kakuro Ozu hinauf. Auf seinem Großbildschirm schauen sie sich einen Film des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu an.
Ein paar Tage später klopft Kakuro Ozu bei der Concierge. Er hat demnächst Geburtstag und lädt sie aus diesem Anlass in ein japanisches Restaurant ein. Paloma filmt die Szene. Renée Michel meint, sie halte einen gemeinsamen Restaurantbesuch nicht für angebracht und drängt Kakuro Ozu aus der Tür. Aber sobald er fort ist, sinkt sie schluchzend auf einen Stuhl, und Paloma tröstet sie. Kurz darauf schreibt sie Herrn Ozu, dass sie die Einladung gerne annehme. Er schickt ihr sogleich ein elegantes Kleid und einen Schal. Beides trägt sie, als er sie abholt. In der Haustüre treffen sie auf Madame Josse, die Herrn Ozu höflich grüßt, aber Renée Michel in der ungewohnten Aufmachung offenbar nicht erkennt, sondern für eine Fremde hält.
Nachdem Kakuro Ozu seine Begleiterin wieder nach Hause gebracht hat, verabschiedet er sich mit einem Handkuss von ihr. Sie setzt sich in ihre Bibliothek, liest und kann ihr Glück kaum fassen.
Paloma hat inzwischen eine Handvoll Schlaftabletten ihrer Mutter zerstampft und alles für den Selbstmord vorbereitet.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Als Renée Michel am nächsten Morgen die geleerten Mülltonnen hereinholen will, tanzt der Clochard Jean-Pierre (Jean-Luc Porraz) mitten auf der Straße. Besorgt geht sie ein paar Schritte auf ihn zu und warnt ihn vor der Gefahr. Aber nicht er, sondern sie wird von einem Lieferwagen der Reinigung totgefahren. Sterbend nimmt Renée Michel noch wahr, dass Kakuro Ozu sein Jackett auszieht und es über ihr Gesicht legt.
Er überbringt Paloma die Nachricht von dem Unfall. Das Mädchen läuft hinunter und sieht noch, wie die Tote weggebracht wird.
In der Wohnung der Concierge steht ein Wasserkrug mit Colombes Goldfisch. Als Zuschauer wissen wir, dass Madame Michel ihn in ihrem WC fand.
Als die Wohnung ausgeräumt ist, liegen noch die beiden Bände von „Anna Karenina“ da, die Renée Michel von Kakuro Ozu bekam. Nun schenkt er sie Paloma.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Als literarische Vorlage ihres Debütfilms wählte Mona Achache (* 1981) den 2006 veröffentlichten Roman „L’Hérisson“ (der Igel) der 1969 in Casablanca geborenen französischen Philosophin und Schriftstellerin Muriel Barbery („Die Eleganz des Igels“, Übersetzung: Gabriela Zehnder, dtv, München 2008, 363 Seiten, ISBN 978-3-423-24658-3). In deutsche Kinos kam der Film unter dem Titel „Die Eleganz der Madame Michel“.
Anders als im Roman erfahren wir nichts über die Vorgeschichte der Concierge, und es bleibt offen, ob Paloma ihre Selbstmordabsicht verwirklicht oder nicht. Aber sowohl bei der Vorlage als auch bei der Adaptation fürs Kino handelt es sich um ein Doppelporträt. Wir erleben eine kultivierte Frau, die sich in ihrer Rolle als Concierge eingeigelt hat, weil sie vom Leben enttäuscht ist und gegenüber den großbürgerlichen Bewohnern des Hauses auf Distanz bleiben möchte. Parallel dazu zeigt uns Mona Achache in „Die Eleganz der Madame Michel“ die bald zwölfjährige Tochter einer großbürgerlichen Familie, die beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen, vor dem Suizid aber noch mit ihrer Videokamera die Oberflächlichkeit nicht nur ihrer Eltern, sondern auch von deren Freunden dokumentiert. Die Figur des Herrn Ozu, die dem Klischee des weisen, besonnenen Japaners entspricht, dient als Verbindung zwischen beiden Geschichten und als Katalysator für die Entwicklung der beiden weiblichen Charaktere. Muriel Barbery und Mona Achache zeigen in „Die Eleganz des Igels“ bzw. „Die Eleganz der Madame Michel“, wie es sein könnte, wenn Menschen sich nicht nur nach äußeren Merkmalen einschätzen, sondern sich ernsthaft füreinander interessieren würden.
Die märchenhafte Handlung spielt mit wenigen Ausnahmen (Friseursalon, Reinigung, Restaurant) in einem Haus und dem Straßenabschnitt davor. Diesen Mikrokosmos zeigt uns Mona Achache vorwiegend aus der Perspektive des filmenden Mädchens.
„Die Eleganz der Madame Michel“ ist eine leise, ruhig erzählte Tragikomödie.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013