Titos Brille
Titos Brille
Inhaltsangabe
Kritik
Adriana Altaras verabschiedet sich in Berlin von ihrem Lebensgefährten, dem Filmmusiker Wolfgang Böhmer („meine deutsche Eiche“), und den beiden Söhnen Aaron und Leonard („Lenny“), steigt in einen Jahrzehnte alten, von ihrem Vater hinterlassenen Mercedes und macht sich auf den Weg zu Stationen der Familiengeschichte. Auf diese Weise möchte sie ihre „Dibbuks“ vertreiben.
Als erstes fährt sie nach Gießen. Dorthin waren ihre aus Kroatien stammenden Eltern Thea und Jakob Altaras Mitte der Sechzigerjahre gezogen. Jakob Altaras avancierte 1969 zum außerordentlichen Professor für Radiologie in Gießen, und Thea Altaras arbeitete als Architektin. 1978 gründete Jakob Altaras eine neue jüdische Gemeinde in Gießen und übernahm den Vorsitz. Mitte der Achzigerjahre gingen Thea und Jakob Altaras in den Ruhestand und erhielten beide das Bundesverdienstkreuz. Jakob Altaras starb 2001, Thea Altaras drei Jahre später.
Adriana Altaras besichtigt die Universitätsklinik, das Grab der Eltern auf dem jüdischen Friedhof und die Synagoge, für deren Wiederaufbau im Jahr 1995 ihre Mutter sich eingesetzt hatte. Von einer ehemaligen Sekretärin und einem Freund ihres Vaters möchte Adriana Altaras mehr über ihre Eltern erfahren. Dass Jakob Altaras eine blonde Geliebte hatte, bestätigt einer seiner Freunde, und sie ist auch auf einem von Jakob Altaras gedrehten Schmalfilm zu sehen.
Zweites Reiseziel ist Bled im Nordwesten von Slowenien. Dort erzählt Adriana Altaras die Geschichte von Titos Brille, auf die sich der Titel sowohl des Buches als auch des Films bezieht:
Kroatien im Krieg 1944, Marschall Titos Brille ist kaputt. Die Partisanen, angeführt von ihrem Genossen Tito, haben sich in den zerklüfteten Bergen Kroatiens verschanzt, bieten keine Angriffsfläche. Die Ustascha kriegen sie nicht zu fassen. Es sind heikle Momente. Mein Vater repariert Titos Brille. Die Partisanen gewinnen den Kampf. Mein Vater wird zum Helden ernannt und bleibt es fortan. (Zitat aus dem Buch „Titos Brille“ von Adriana Altaras)
Das wurde in der Familie immer wieder kolportiert. Adriana Altaras fand jedoch heraus, dass Tito zumindest während des Krieges gar keine Brille getragen hatte. Die Anekdote zeigt, dass die Familie eine Legendenbildung zur Verschleierung der Wahrheit über die Partisanenzeit betrieb.
Am Gardasee besucht Adriana Altaras ihre Tante Jelka („Jele“), die ältere Schwester ihrer Mutter. Sie hatte 1946 einen Italiener geheiratet und schmuggelte 1964 ihre vier Jahre alte Nichte von Zagreb nach Mantua. Adriana blieb dort drei Jahre lang, bis die Eltern sie nach Deutschland holten, allerdings nicht nach Gießen, sondern in das Waldorf-Internat in Marburg.
Adriana Altaras fährt nach Split und weiter nach Zagreb. Am Grab ihres Großvaters Furman Žiga (7. Juli 1881 – 22. Juni 1941) missfällt ihr, dass er mitten unter „frischen Christen“ liegt. Sie denkt darüber nach, ihn „umzutopfen“, zumal er hier „keine Zukunft“ hat.
Zum Schluss besichtigt Adriana Altaras noch das ehemalige italienische Konzentrationslager Kampor auf der Insel Rab. Dorthin war ihre Großmutter mit den beiden Töchtern während des Zweiten Weltkriegs von den Italienern deportiert worden.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Ich bin Jüdin. Jahrgang 1960. So, jetzt ist es heraus.
So stellt Adriana Altaras sich in ihrem Buch „Titos Brille“ vor. Im Film wird daraus:
Ich bin Adriana Altaras. Ich bin 1960 geboren, in Zagreb. Mit drei hat man mich nach Italien geschmuggelt, und mit sieben steckte man mich in ein Waldorf-Internat in Deutschland. Mittlerweile lebe ich in Berlin. Ich bin Schauspielerin oder ich führe Regie. Und ich bin Jüdin.
„Titos Brille“ dreht sich um Herkunft, Tradition und die Frage, wie weit man sich von der eigenen Familiengeschichte und den damit verbundenen Konventionen prägen lassen bzw. befreien sollte. Den Hintergrund dazu bildet die Zeitgeschichte: der Zweite Weltkrieg, der Partisanenkrieg auf der Balkanhalbinsel, die politischen Verwerfungen nach dem Krieg.
Während Adriana Altaras in ihrem Buch im lockeren Plauderton von der Geschichte ihrer „strapaziösen Familie“ erzählt und dabei zwischen Orten und Zeitebenen hin und her springt, hat Regina Schilling für die Verfilmung die äußere Form eines Road-Movies gewählt. Adriana Altaras steigt in Berlin in den Jahrzehnte alten, von ihrem Vater hinterlassenen Mercedes und macht sich auf den Weg zu Stationen der Familiengeschichte in Gießen, Slowenien, Italien und Kroatien.
Auf ihrer Reise besucht Adriana Altaras noch lebende Verwandte und andere Personen, die ihre Eltern kannten. In Zagreb erkundigt sie sich im Nationalarchiv nach ihrem Vater und erfährt, dass das politisch motivierte Gerichtsurteil gegen ihn aus dem Jahr 1964 inzwischen aufgehoben wurde. Zwischendurch sehen wir in „Titos Brille“ Schmalfilme und Familienfotos. Adriana Altaras trägt den Film mühelos; es ist eine „One-Woman-Show“. Unverblümt und unsentimental, schalkhaft und ohne ein Zuviel an Respekt greift sie einzelne Stationen der Familienchronik auf. Selbstironisch hinterfragt und kommentiert sie Familienlegenden.
Mein Vater war ein Held. Das weiß ich, seit ich denken kann. Er vertrieb die Faschisten aus Jugoslawien. Meine Mutter war auch eine Heldin. Sie baute mit Tito das sozialistische Jugoslawien auf.
Vieles in „Titos Brille“ ist tragikomisch, so zum Beispiel die Szene am Grab des Großvaters in Zagreb, als Adriana Altaras darüber nachdenkt, ihn „umzutopfen“, weil er dort „keine Zukunft“ mehr hat.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Adriana Altaras: Titos Brille