Sansibar oder der letzte Grund

Sansibar oder der letzte Grund

Sansibar oder der letzte Grund

Originaltitel: Sansibar oder der letzte Grund – Regie: Bernhard Wicki – Drehbuch: Wolfgang Kirchner und Bernhard Wicki, nach dem Roman "Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch – Kamera: Claus Neumann, Edward Klosinski, Jürgen Lenz – Schnitt: Eva Schlensag – Musik: Günther Fischer – Darsteller: Peter Kremer, Cornelia Schmaus, Michael Gwisdek, Peter Sodann, Gisela Stein, Elisabeth Endriss, Frank Hessenland, Karin Gregorek, Rolf Ludwig, Siegfried Voß, Frieder Venus, Ulrich Mühe u.a. – 1987; 165 Minuten

Inhaltsangabe

In der Hafenstadt Rerik an der Ostsee begegnen sich im Herbst 1937 die Jüdin Judith Levin, die auf der Flucht ins Ausland ist, und der KP-Funktionär Gregor, der Geld der Partei nach Göteborg bringen soll. Als Gregor erfährt, dass der Pastor den Fischer Knudsen bat, eine Barlach-Statue zu einem Freund nach Skillinge zu bringen, um sie vor den Nazis zu retten, sieht er eine Möglichkeit, Judith zu helfen und auch selbst nach Schweden zu kommen ...
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Kritik

Der Fernsehfilm "Sansibar oder der letzte Grund" von Bernhard Wicki und Wolfgang Kirchner wird der literarischen Vorlage von Alfred Andersch nicht gerecht. Wer jedoch den Roman nicht gelesen hat, sieht vermutlich einen spannenden, etwas pathetischen Film.
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Die Handlung spielt an einem Tag und in der darauffolgenden Nacht im Herbst 1937 in der abgelegenen Ostsee-Hafenstadt Rerik nordöstlich von Wismar.

Während die anderen Fischer zum Dorsch-Fang hinausfuhren, blieb Heinrich Knudsen (Michael Gwisdek) an Land, denn er soll heute Nachmittag einen Funktionär der verbotenen und deshalb im Untergrund tätigen Kommunistischen Partei treffen. Knudsen ist das letzte Mitglied in Rerik; keiner der anderen Kommunisten redet noch über Politik.

Der kommunistische Funktionär, der sich Gregor (Peter Kremer) nennt, kommt mit dem Fahrrad aus Rostock. Die beiden Genossen treffen sich in der Georgenkirche. Der gelernte Werkzeugmacher Gregor war am Tag zuvor dabei, als die Nationalsozialisten ein Versteck aushoben, in dem er und andere Kommunisten Flugblätter gedruckt hatten. Gregor konnte sich in einem Kohlenkeller verstecken, musste aber durch den Lattenverschlag mit ansehen, wie seine Genossen brutal zusammengeschlagen und abgeführt wurden. Danach erhielt er den Auftrag, Geld der Partei nach Göteborg zu bringen. Knudsen soll ihn auf seinem Fischkutter nach Schweden bringen. Zu dessen Verwunderung und Verärgerung schlägt Gregor ihm vor, sich bei dieser Gelegenheit gemeinsam ins Ausland abzusetzen. Knudsen kann allerdings nicht fort, denn er will seine Frau Bertha (Elisabeth Endriss) nicht im Stich lassen: Sie ist geistesgestört, und er muss aufpassen, dass man sie nicht abholt, in eine Anstalt sperrt oder tötet.

Pastor Helander (Peter Sodann) taucht auf und geht auf die beiden Männer im Kirchenschiff zu. Vor ein paar Stunden bat er Knudsen, die von Ernst Barlach 1930 aus Holz gefertigte Statue „Der lesende Klosterschüler“ nach Schweden zu bringen und dem Propst von Skillinge zu übergeben. Die Figur steht auf der Liste der Kunstwerke, die nicht mehr gezeigt werden dürfen. Deshalb kündigte der Konservator Dr. Grote (Ulrich Mühe) an, dass sie am nächsten Morgen abgeholt wird. Helander will verhindern, dass die Nationalsozialisten sie zerstören. Knudsen weigerte sich, die Bitte des Pfarrers zu erfüllen, aber Gregor ist spontan bereit, bei der Rettung der Statue mitzuhelfen.

Helander war im Ersten Weltkrieg bei Verdun ein Bein zerschossen und amputiert worden. Der Stumpf schmerzt, und die Prothese sitzt nicht gut. Doktor Frerking (Siegfried Voß) rät dem Pfarrer, noch am selben Abend zu Professor Gebhard nach Rostock zu fahren, denn die entzündete Narbe droht aufzuplatzen und der Patient hat Zucker. Helander, der wütend auf Gott ist, weil dieser den nationalsozialistischen Terror zulässt, überlegt, ob er auf diese Weise um eine Entscheidung für oder gegen die Rettung der Barlach-Figur herumkommt. Doch statt ein Taxi zu rufen, bleibt Helander im Pfarrhaus.

In Rerik legt kaum noch ein größeres Schiff an, aber an diesem Abend läuft ein schwedischer Dampfer in den Hafen ein. Am Kai fällt Gregor unter den Schaulustigen eine junge Schwarzhaarige auf, die offenbar nicht von hier ist und so aussieht, als sei sie in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen.

Judith Levin (Cornelia Schmaus) stammt aus Hamburg. Die Nationalsozialisten ließen ihre verwitwete Mutter (Gisela Stein) nicht mehr als Ärztin praktizieren, weil sie Jüdin war. Die schwer kranke Frau hatte gestern so getan, als wolle sie mit ihr ins Ausland fliehen, doch während Judith die Koffer packte, injizierte sie sich im anderen Zimmer ein tödliches Gift: Zur Flucht hatte sie nicht mehr die Kraft, und da sie wusste, dass ihre Tochter sie nicht allein lassen würde, entschloss sie sich zum Suizid.

Aufgrund der polizeilichen Anordnungen verlangt der Wirt (Rolf Ludwig) in Rerik, bei dem Judith ein Zimmer mietet, ihren Pass. Judith hält ihn hin und versucht, Zeit zu gewinnen.

Als einer der schwedischen Matrosen, die an Land gegangen sind und den Abend in der Gaststätte verbringen, Judith einen Schnaps ausgibt, sieht sie eine Chance, auf den Dampfer zu kommen und geht auf die Anmache ein. Der Wirt, der bereits anzüglich drohte, sie wegen des Passes nachts in ihrem Zimmer aufzusuchen, beschimpft sie daraufhin als Flittchen und wirft sie hinaus. Nachdem der Matrose versprochen hat, Judith mit aufs Schiff zu nehmen, zieht sie sich in einem Schuppen vor ihm aus und gibt sich ihm hin. Ihre Hoffnung, an Bord des schwedischen Dampfers das Land verlassen zu können, erfüllt sich dennoch nicht.

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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Gregor spricht Judith an und nimmt sie ohne lange Erklärungen gegen Mitternacht mit in die Georgenkirche, wo er sich mit dem Pfarrer verabredet hat. Sie schrauben die Barlach-Figur „Der lesende Klosterschüler“ vom Sockel und verladen sie auf einen Handkarren.

Knudsen hatte sich doch noch bereit erklärt, die Statue nach Skillinge zu bringen. Inzwischen fuhr er mit seinem Schiffsjungen (Frank Hessenland) auf dem Kutter hinaus und wartet an einer verborgenen Stelle. Der Junge rudert mit einem Boot zu einer Landzunge und soll mit Gregor und der Statue zum Kutter kommen.

Verwundert sieht der Junge nicht nur einen Mann, sondern auch eine Frau auftauchen. Gregor bedeutet ihm, das sei schon in Ordnung. Obwohl sie vorsichtig rudern, geraten sie in Gefahr, vom Patrouillenboot entdeckt zu werden.

Endlich gelangen sie zu der Stelle, an der Knudsen mit dem Kutter auf sie wartet. Als der Fischer die Frau sieht, wendet er sich verärgert an Gregor und poltert los: „Das hast du dir fein ausgedacht. Wenn ich das Mädchen an Bord nehme, dann gibt’s ja eigentlich keinen Grund, dass ich dich nicht auch noch mitfahren lasse – so hast du dir es wohl ausgedacht, was?“ Er will nur die Figur mitnehmen, denn die könnte er über Bord werfen, wenn ihn das Patrouillenboot aufbringen würde. Gregor prügelt sich mit Knudsen und schlägt ihn nieder. Dann fordert er den Jungen auf, Judith, ihn und die Barlach-Statue nach Schweden zu bringen. Weil Knudsen befürchtet, dass sein unerfahrener Gehilfe den Kutter kaputtmachen würde, steht er mühsam auf und übernimmt selbst wieder das Kommando. Bevor sie ablegen, geht Gregor von Bord.

Während der Überfahrt vertraut der Junge Judith an, dass er nicht mehr nach Rerik wolle. Er habe keine Lust mehr, weiter bei Knudsen in die Lehre zu gehen. Sie gibt ihm zu bedenken, dass man Knudsen festnähme, wenn er nicht nur ohne Fang, sondern auch ohne den Schiffsjungen zurückkehren würde.

Im Morgengrauen sieht Helander vom Fenster aus, wie Gregor kommt und sein gegen die Kirchenmauer gelehntes Fahrrad nimmt. Bevor Gregor losfährt, halten eine schwarze Limousine und ein Transportauto vor dem Kirchenportal. Zwei Zivilisten und zwei uniformierte SS-Offiziere betreten die Kirche, kommen nach kurzer Zeit wieder heraus, klingeln am Pfarrhaus, drängen die Haushälterin (Waltraut Kramm) zur Seite, stürmen über die Treppe hinauf und treten die verschlossene Tür zum Zimmer des Pastors ein. Helander hat einen Revolver in der Hand und erschießt den Ersten, der hereinkommt. Dann dreht er sich um und blickt zur Kirche hinüber, während die Projektile der anderen in seinen Körper einschlagen.

Nachdem Knudsen Judith und die Barlach-Statue beim Propst von Skillinge gelassen hat, geht er mit seinem Schiffsjungen zum Kutter zurück. Unterwegs verdrückt der Junge sich in den Wald. Hier könnte er sich frei fühlen wie Huckleberry Finn, und von hier aus könnte er sich nach Amerika oder Sansibar durchschlagen! Nach kurzer Zeit besinnt er sich jedoch und folgt Knudsen.

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Bernhard Wicki und Wolfgang Kirchner übernahmen zwar viel aus der literarischen Vorlage, dem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ von Alfred Andersch, aber sie fügten einige Szenen hinzu und veränderten andere. Diese Abweichungen sind nicht überzeugend und tragen außerdem dazu bei, dass der Film zu lang ist.

Während Alfred Andersch von „den Anderen“ schreibt, statt die Nationalsozialisten beim Namen zu nennen, lassen Bernhard Wicki und Wolfgang Kirchner deren Schergen gleich zu Beginn auftreten und eine kommunistische Zelle in Rostock zerschlagen. Damit veranschaulichen sie die Brutalität des NS-Regimes, aber sie setzen auch einen ganz anderen Akzent wie Alfred Andersch: Der Film „Sansibar oder der letzte Grund“ ist sehr viel stärker auf Effekte angelegt.

Das gilt auch für die Szene, in der sich Judith vor dem schwedischen Matrosen auszieht und sich ihm hingibt. Im Vergleich zum Roman wirkt das plump: Dort verlässt den unreifen Matrosen, der seinen Kameraden in der Gaststätte beweisen will, dass er eine Frau anzusprechen wagt, auf dem Schiff der Mut.

Auf einmal spürte Judith seine Verlegenheit. Er ist ja ganz verlegen, dachte sie, verlegen und nüchtern. Er ist ein ordentlicher junger Steuermann, und ich habe ihn in Verlegenheit gebracht, als ich seine Einladung annahm […]
Er hat auf einmal Angst vor seinem Mut bekommen, Angst vor seinem Kneipenmut, vor seinem Kneipenverlangen, er hat gar nicht damit gerechnet, dass es so leicht sein würde, aber es war leicht, ich war ein leichtes Mädchen, und nun ist ihm die Sache peinlich, er ist in Wirklichkeit ein ordentlicher junger Mann aus einer ordentlichen Familie.
(Alfred Andersch, „Sansibar oder der letzte Grund“, Seite 90)

Alfred Andersch legte sehr viel Wert darauf, die Motive und Zweifel der Figuren durch innere Monologe nachvollziehbar zu machen. Diese Möglichkeit gibt es im Film nicht. In der Adaptation verstehen wir deshalb einige Handlungsweisen gar nicht. Fast noch schlimmer ist es, dass Pastor Helander seine Überlegungen in langen Selbstgesprächen darlegt. Das wirkt theatralisch.

Die Rolle des Schiffsjungen ist in der Verfilmung von Bernhard Wicki bedeutungslos.

Fazit: Der Fernsehfilm „Sansibar oder der letzte Grund“ von Bernhard Wicki und Wolfgang Kirchner wird der literarischen Vorlage von Alfred Andersch nicht gerecht. Wer jedoch den Roman nicht gelesen hat, sieht vermutlich einen spannenden, etwas pathetischen Film.

Eine DVD mit der Verfilmung von Bernhard Wicki und Wolfgang Kirchner liegt der 2008 vom Diogenes Verlag herausgebrachten Buchausgabe „Sansibar oder der letzte Grund“ von Alfred Andersch bei.

Vor Bernhard Wicki hatte bereits Rainer Wolffhardt den Roman fürs Fernsehen adaptiert: „Sansibar“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008

Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund

Bernhard Wicki: Die Brücke
Bernhard Wicki: Das Spinnennetz

Walter Kempowski - Letzte Grüße
Pointenreich spielt Walter Kempowski in dem wie ein Reisetagebuch aufgebauten Roman mit Klischees, Kalauern, Running Gags und Slapstick-Szenen. Das liest sich ausgesprochen leicht und unterhaltsam wie ein Trivialroman, aber "Letzte Grüße" hat darüber auch eine melancholische Dimension.
Letzte Grüße