Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach
Inhaltsangabe
Kritik
Während eine Frau am Ausgang des Saals eines Naturkundemuseums wartet und durch die andere Tür der Kopf eines Dinosaurier-Skeletts zu sehen ist, schaut sich ein Mann die Exponate in zwei Vitrinen an: In der einen sieht er einen ausgestopften Raubvogel, in der anderen eine Taube auf einem Zweig.
„Drei Begegnungen mit dem Tod“ lesen wir auf einem Zwischentitel.
Ein Mann versucht in der Wohnung eine Weinflasche zu entkorken. Das ist anstrengend und gelingt ihm nicht. Er erleidet einen Herzanfall und bricht tot zusammen – unbemerkt von seiner Frau, die nebenan in der Küche hantiert und zur fröhlichen Radiomusik singt.
Drei erwachsene Geschwister sitzen bzw. stehen am Sterbebett der verwitweten Mutter im Krankenhaus. Die stumm und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegende Greisin hält den Henkel einer Handtasche mit Geld und Schmuck umklammert. Einer der Söhne meint, es mache doch keinen Sinn, die Wertsachen mit ins Grab zu nehmen. Zuerst mit freundlichen Worten, dann mit Gewalt versucht er, der Sterbenden die Tasche wegzunehmen, aber sie schreit, bis eine Krankenschwester kommt.
In einer Schiffskantine liegt ein Mann tot am Boden. Sein Tablett mit einem Bier und einem Krabbensandwich steht noch auf dem Tresen. Die Kassiererin erklärt, es sei bereits bezahlt und sie könne es doch nicht zweimal verkaufen. Als sie ruft, ob jemand das Bier oder das Sandwich haben wolle, meldet sich ein Gast und trinkt das Bier.
Die matronenhafte Flamenco-Lehrerin (Lotti Törnros) ist in einen Schüler (Oscar Salomonsson) verliebt und streicht während des Unterrichts mit ihren Händen zärtlich über seinen schlanken Körper. Aber er geht nicht darauf ein und ist froh, als er den Saal verlassen kann. Im Treppenhaus hört er, wie die Putzfrau ins Telefon sagt: „Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht.“
In einem Frisörsalon in Göteborg erklärt ein Mann (Ola Stensson), er sei eigentlich Schiffskapitän, vertrete jedoch seinen erkrankten Schwager und habe das Haareschneiden immerhin beim Militär gelernt. Während das Telefon klingelt und der Ersatz-Frisör abhebt, schleicht der einzige Kunde aus dem Salon
und geht in eine Kneipe, in der er mit seinem Kollegen verabredet ist. Sam und Jonathan (Nils Westblom alias Nisse Vestblom, Holger Andersson) arbeiten als Handelsvertreter. Sie bieten Scherzartikel an: Vampirzähne, Lachsäcke und gruselige Masken („Gevatter Einzahn“). „Wir helfen den Menschen, Spaß zu haben“, erklären die beiden traurigen Gestalten, die sich erfolglos abmühen, Aufträge bzw. das Geld für bereits gelieferte Waren zu bekommen.
Ein einsamer Leutnant (Jonas Gerholm) wartet vergeblich vor einem Restaurant und nimmt dann an, er habe sich entweder im Tag oder in der Uhrzeit der Verabredung geirrt. Beim zweiten Versuch geht es ihm ebenso. Durch das große Fenster des Restaurants hört er die Gäste laut lachen.
1943 singt eine wegen ihrer Gehbehinderung Hinke-Lotta (Charlotta Larsson) genannte singende Kneipenwirtin für ihre Gäste. Unter ihnen ist ein tauber Greis. Die anwesenden Matrosen, die kein Geld haben, stellen sich in einer Schlange an, denn Hinke-Lotta gibt pro Kuss einen Schnaps aus.
Ein Mann sitzt im Schlafanzug am Frühstückstisch, während seine Frau, die auch nur ein Nachthemd trägt, telefoniert. Sie sagt: „Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht.“ Dann fragt sie ihren Mann, ob sie etwas von ihm ausrichten solle und er antwortet: „Ja. Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht.“
Zwei kleine Mädchen stehen auf einem schäbigen kleinen Balkon und pusten Seifenblasen in die Luft.
Bei einer Schulaufführung kommt ein kleines Mädchen namens Wilma auf die Bühne, um ein Gedicht vorzutragen. Aber statt die Reime zu rezitieren, beantwortet Wilma nur die Fragen des Conferenciers nach dem Inhalt. Das Gedicht handelt von einer Taube, die auf einem Zweig sitzt, kein Geld hat und über das Leben nachdenkt.
Soldaten reißen die Tür einer Kneipe auf. Reiter galoppieren herein und treiben mit Peitschen alle Frauen hinaus. Bald darauf sehen die verbliebenen männlichen Gäste und das Personal der Kneipe das schwedische Heer vorbeiziehen. Wir schreiben das Jahr 1707. König Karl XII. (Viktor Gyllenberg) zieht gegen Russland in den Krieg. Er reitet herein, steigt vom Pferd auf die Rücken seiner Männer, die sich respektvoll auf den Boden geworfen haben, setzt sich an die Theke und lässt sich ein Glas Mineralwasser servieren. Der junge Kellner gefällt ihm, und er fordert ihn auf, mit in den Krieg zu ziehen.
Eine Frau sitzt auf einer Anlagenbank und versucht das Kind vor ihr im Kinderwagen zu beruhigen.
Sam und Jonathan werden in dem Armenhotel, in dem diese wohnen, von einem Mann und einer Frau aufgesucht, die offenbar das Unternehmen vertreten, das die Scherzartikel herstellt. Die Frau weist auf die überfälligen Zahlungen hin und verlangt von den beiden Handelsvertretern ultimativ die Tilgung der Schulden. Zwischendurch kommt ein Akkordeon-Spieler herein, den der Pförtner (Roger Olsen Likvern) jedoch zurückweist, weil er betrunken ist. Der Begleiter der Firmenvertreterin schweigt bis zuletzt und wiederholt am Ende nur, was sie gesagt hat.
Ein augenscheinlich lebensmüder Herr steht mit einer Pistole in der Hand in seinem barock eingerichteten Büro und telefoniert. „Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht“, sagt er zwischendurch.
Während in einer Spelunke die letzten Gläser abgeräumt und die Stühle auf die Tische gestellt werden, klagt der letzte Gast unvermittelt: „Ich war mein Leben lang ein Geizhals. Deshalb bin ich unglücklich.“
Der Betreiber eines kleines Käsegeschäfts steht im Eingang und sagt: „Heute finde ich mich nett.“ Eine junge Frau, die damit beschäftigt ist, die Auslage umzuordnen, tippt sich hinter ihrem Chef heimlich an die Stirn.
Ein Mann schaut mit nacktem Oberkörper aus dem Fenster und raucht. Eine Frau schmiegt sich von hinten an ihn, aber er beachtet sie nicht.
Nach der verlorenen Schlacht bei Poltawa im Sommer 1709 kehren die Reste des schwedischen Heeres zurück und ziehen wieder an der Kneipe vorbei, in der Karl XII. zwei Jahre zuvor ein Mineralwasser trank. Erneut reitet er herein. Der Verletzte wird vom Pferd gehoben. Er möchte die Toilette benutzen. Seine Männer bringen ihm einen Stuhl, denn er muss warten: Die Toilette ist besetzt. Zwei in Blue Jeans am Tresen sitzende Frauen brechen in Tränen aus, als sie erfahren, dass ihre Männer unter den Gefallenen sind.
Sam hat keine Lust mehr, weiter Scherzartikel anzubieten. Mitten auf der Straße leert er seinen Musterkoffer aus und geht. Jonathan sammelt die auf dem Boden liegenden Sachen ein. Am Abend entschuldigt sich Sam bei Jonathan.
Auf einem der Klappstühle vor einem Getränkekiosk sitzt Sam und beobachtet, wie eine junge Frau einen ihrer Schuhe auszieht und gegen die Außenwand des Kiosks schlägt, damit ein Stein herausfällt. Nachdem sie ihren Weg fortgesetzt hat, fragt Sam die beiden anderen Gäste, ob sie nicht zufällig an Scherzartikeln interessiert seien. Ohne darauf zu antworten, stehen der Mann und die Frau kurz nacheinander auf und gehen grußlos weg.
In einem Labor für Tierexperimente sehen wir einen Schimpansen in einem Gestell. Eine Wissenschaftlerin steht am Fenster und telefoniert. Zwischendurch sagt sie: „Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht.“
Jonathan träumt: Dunkelhäutige Männer, Frauen und Kinder werden von englisch sprechenden Soldaten mit Peitschen in eine quer aufgehängte Metalltrommel getrieben. Ein Schäferhund bellt. Nachdem der Eingang verschlossen wurde, entzündet einer der Soldaten eine Fackel und entfacht damit unter dem Stahlbehälter ein riesiges Feuer. Bewegungslos bleiben die Soldaten stehen, während die gequälten Menschen im Inneren die heiße Trommel mit ihren Füßen langsam in Drehung versetzen. Bei der benachbarten Villa treten die Gäste einer festlichen Abendgesellschaft auf die Terrasse und schauen zu.
An einer Bushaltestelle warten ein paar Leute, während hinter ihnen ein Laden geöffnet wird. Einer der Wartenden (Göran Holm) möchte sich vergewissern, dass Freitag ist, aber die Umstehenden versichern ihm einer nach dem anderen, es sei Donnerstag. Auch ein Radfahrer, der den Schlauch seines Vorderrads aufpumpt, bestätigt, dass Donnerstag sei.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Obwohl es in „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ keine auf einen Schlusspunkt zustrebende Handlung gibt, schaut man eineinhalb Stunden lang gebannt zu. In 39 teils grotesken, teils tragikomischen Einstellungen erzählt Roy Andersson auf einzigartige Weise sowohl von der Absurdität des Alltags in unserer Zivilisationsgesellschaft als auch von der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz. Illusionslos stellt er die allesamt einsamen und unglücklichen Figuren dar. Die kafkaesken Szenen sind urkomisch und erinnern an Buster Keaton oder Monty Python, aber das Lachen bleibt einem wie bei „Warten auf Godot“ angesichts der Tristesse im Halse stecken. „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ ist mit „Pointen der Traurigkeit“ (Andreas Kilb, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Dezember 2014) gespickt.
Einige der Episoden in „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ sind durch Orte und vor allem die beiden erfolglosen Scherzartikel-Handelsvertreter verknüpft.
Einzigartig und meisterhaft wie der Aufbau und die absurde Komik des Films ist auch die Form der einzelnen Episoden. Jede davon ist als sorgfältig gestaltetes artifizielles Tableau angelegt. Die Kamera ist fest eingerichtet und zeigt die Totale in einer Weitwinkelperspektive, ohne Schwenk, ohne Zoom, fast ohne Schnitte. Die Farben sind fahl. Typisch ist eine Tür- oder Fensteröffnung im Hintergrund, durch die eine Nebenfigur (oder auch der Schädel eines Dinosaurier-Skeletts) zu sehen ist. Eine Handvoll Episoden spielt im Freien. Bei den anderen ist die Szenerie sowohl durch den Aufnahmewinkel der Kamera als auch durch den Raum begrenzt. Immer wieder sagt jemand am Telefon: „Es freut mich zu hören, dass es euch gut geht.“ Dieser running gag konterkariert die Trostlosigkeit.
„Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ wurde weitgehend in dem Gebäude in Stockholm-Östermalm gedreht, in dem sich Roy Anderssons Studio und Filmproduktion befindet. Vier Jahre lang arbeitete der Schwede an dem Film.
Der Titel „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ bezieht sich auf das Gemälde „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1565.
Die Premiere fand bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig (27. August bis 6. September 2014) statt. Roy Andersson erhielt für „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ einen „Goldenen Löwen“.
„Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ gehört zu den besten und originellsten Filmen, die ich gesehen habe.
Roy Andersson wurde am 31. März 1943 in Göteborg geboren.
Nach dem Studium von Philosophie und Literaturgeschichte schrieb er sich 1967 an der Hochschule des Schwedischen Filminstituts ein. „Eine schwedische Liebesgeschichte“, der erste von Roy Andersson inszenierte abendfüllende Kinofilm, für den er auch das Drehbuch verfasst hatte, wurde mehrfach ausgezeichnet. Die gesellschaftskritische Slapstick-Komödie „Giliap“ (1975) erwies sich dagegen als Flop. Nach diesem Misserfolg wandte sich Roy Andersson vom Kino ab und arbeitete in der Werbebranche. Für acht seiner mehr als 300 Spots erhielt er eine „Goldene Palme“. 2000 kam dann sein dritter Spielfilm in die Kinos: „Songs from the Second Floor“. Das war der Auftakt zu der mit „Das jüngste Gewitter“ 2007 fortgesetzten und 2015 mit „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ abgeschlossenen Trilogie über das menschliche Wesen („Du levande-trilogin“).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Roy Andersson: Das jüngste Gewitter