Simone de Beauvoir


Mit den Männern von gleich zu gleich

Simone de Beauvoir wächst in der vom Standesdünkel vergifteten Welt des französischen Großbürgertums auf und geht in einem snobistischen Privatinstitut zur Schule. Sie bewundert ihren Vater wegen seiner Belesenheit und hält seine patriarchalische Art für „normal“ – bis sie zwölf Jahre alt ist und er zu ihr sagt: „Wie hässlich du bist!“ Nach diesem Schock vernachlässigt sie ihr Aussehen und setzt stattdessen alles daran, durch ihren Verstand aufzufallen. Sie lernt wie besessen, büffelt während des Essens Vokabeln und stellt detaillierte Zeitpläne auf, die sie krampfhaft einzuhalten versucht, um keine Minute ungenutzt verstreichen zu lassen.

Während des Studiums lernt sie den drei Jahre älteren Kommilitonen Jean-Paul Sartre kennen. Die beiden belegen 1929 bei der äußerst schwierigen staatlichen Ausleseprüfung für die Bewerber um eine Anstellung als Philosophielehrer die zwei besten Plätze. Bald darauf schließen sie einen Pakt und garantieren sich gegenseitig sexuelle Freiheit. Die Lügen und Täuschungen ihrer Eltern vor Augen, weigert sich Simone de Beauvoir, Ehefrau zu werden oder auch nur hausfrauliche Pflichten zu übernehmen; sie und Jean-Paul Sartre wohnen deshalb stets getrennt, und gewöhnlich essen sie in einem einfachen Restaurant.

Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung betrachten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir als die Fundamente aller Werte. Sie gehen davon aus, dass der Einzelne sich erst durch seine Handlungen definiert; es komme darauf an, sich zu entscheiden, ohne sich hinter Traditionen und Religionen, Doktrinen und Ideologien zu verstecken – auch wenn die Verdammung zur Freiheit Angst hervorrufe. „Mein wichtigstes Werk ist mein Leben“, sagt Simone de Beauvoir. Mit dieser Philosophie – dem Existenzialismus – treffen sie den Nerv der Nachkriegszeit.


Simone de Beauvoir: Die »Familie«

Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: EigenSinnige Frauen. 10 Porträts
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1999 / Piper Taschenbuch, München 2004 (12. Auflage: 2011)

Simone de Beauvoir befreundet sich in Rouen mit der aus Rußland stammenden Schülerin Olga Kosakiewicz. Im Frühsommer 1934 hilft sie ihr beim Lernen für das Abitur, und als das Mädchen im Jahr darauf zum zweiten Mal durch die Aufnahmeprüfung für das Medizinstudium fällt, bietet sie den Eltern an, die Achtzehnjährige privat auf ein Philosophiestudium vorzubereiten. Die verzweifelten Eltern sind einverstanden, aber ihre kapriziöse, lebenshungrige und nur für den Augenblick lebende Tochter ist nicht bereit, sich in irgendeiner Weise geistig anzustrengen; sie stellt ihre »launische Unangepaßtheit als höhere Form von Moral« hin und »huldigt der Reinheit des unmittelbaren Lebens – noch nicht zersetzt von den Giften des analytischen Denkens, den Säuren der Strategie und den Austrocknungen übermäßiger Hirnbildung.« Nach ein paar Wochen gibt Simone de Beauvoir auf.

Durch ihre neun Jahre ältere Freundin hat Olga auch Jean-Paul Sartre kennengelernt. Der schlägt seiner Lebensgefährtin nun vor, in einem »Trio« neue Erfahrungen zu sammeln. Simone de Beauvoir glaubt, über die Eifersucht erhaben zu sein, aber: »er hatte Anwandlungen von Unruhe, Wut und Freude, wie er sie mit mir nicht kannte. Mein Unbehagen ging über Eifersucht hinaus. Es gab Augenblicke, in denen ich mich fragte, ob mein Glück nicht allein auf einer ungeheuren Lüge beruhe.«

Tapfer bemüht sie sich, »Sartres lässige Verachtung normaler menschlicher Gefühle in sexuellen Beziehungen zu kopieren.«

Wenig später beweist Jean-Paul Sartre, daß die »notwendige Liebe« ungeachtet aller »zufälligen Liebschaften« für ihn unverzichtbar bleibt: Während Simone im Herbst 1936 an ein Gymnasium in Paris-Passy versetzt wird, bietet man ihm eine Stelle in Lyon an, aber er schlägt sie aus, um in ihrer Nähe zu bleiben (und bekommt schließlich eine Anstellung in Laon).

Seine Eltern ärgern sich, als sie erfahren, daß er seine Karriere hintanstellt: Wenn es in ihrer Macht stünde, würden sie die unschickliche Liaison lieber heute als morgen beenden. Und die Beauvoirs denken ebenso: Georges de Beauvoir bezeichnet seine Tochter als »Hure eines Wurms«. Jedenfalls dürfen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir keines der Elternpaare gemeinsam besuchen.

Darauf legen sie ohnehin keinen Wert. Ihre »Familie« besteht aus einer Gruppe zumeist jüngerer Leute. Olga, deren um zwei Jahre jüngere Schwester Wanda und Sartres ehemaliger Schüler Jacques-Laurent Bost – der sich in Olga verliebt – sind von Anfang an dabei.

Später erinnert sich Simone de Beauvoir: »Wir zogen sie dem Gerede unserer Altersgenossen vor, die sich endlos über ihre Wohnungseinrichtung und die Intelligenz ihrer Babys ausließen und vor Selbstzufriedenheit trieften wegen der bürokratischen Sicherheit ihrer Existenz.«

»Nicht zufällig ist die Schar der Liebhaber(innen) viel jünger als die beiden Stifterfiguren im Zentrum des Bildes […]; nicht zufällig sind sie psychologisch und finanziell im Banne ihrer ›Adoptiv‹eltern; nicht zufällig tauschen sich Castor und Sartre über Wonne und Weh mit ihren Blagen im Detail und in elterlichem Tonfall aus.« In der Familie heben Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre ihre Intimität auf eine neue Stufe.

Während Jean-Paul Sartre auch Wanda erobert und ihr sogar einen Heiratsantrag macht, verbringt Simone de Beauvoir viel Zeit mit deren Schwester – der ersten Frau, von der sie sich auf den Mund küssen läßt.

Sie fühlt sich durch ihre konservative Erziehung »in die Heterosexualität gestoßen«, aber sie rät den Frauen, »sich nicht länger ausschließlich auf das Begehren der Männer hin konditionieren zu lassen«. »Ideal wäre, ebensogut eine Frau lieben zu können wie einen Mann, einfach ein menschliches Wesen. Ohne Angst, ohne Zwänge, ohne Verpflichtungen.« Von manchen Frauen fühlt sie sich erotisch angezogen, aber sie wehrt sich dagegen, als Lesbierin bezeichnet zu werden, weil sie darunter eine Frau versteht, die ausschließlich am weiblichen Körper Gefallen findet – und das trifft in der Tat nicht auf sie zu.

Als sie den Sommer 1938 mit Jacques-Laurent Bost in der Provence verbringt, während Olga, Wanda und Sartre in Paris zurückbleiben, überredet sie ihren Begleiter, mit ihr zu schlafen – und teilt es gleich darauf Jean-Paul Sartre in einem Brief mit: »Vor drei Tagen habe ich mit dem kleinen Bost geschlafen. Natürlich war ich es, die das vorgeschlagen hat.«

Fünfzehn Monate später berichtet Simone de Beauvoir ihrem Lebensgefährten über eine Nacht mit der achtzehnjährigen in Polen geborenen Jüdin Bianca Bienenfeld, einer ehemaligen Schülerin: »Wir haben eine leidenschaftliche Nacht miteinander verbracht […] Es hatte einen Hauch von Verderbtheit, den ich nicht

Dieter Wunderlich: EigenSinnige Frauen © Piper Verlag

genau benennen kann, aber ich glaube, daß es einfach das Fehlen von Zärtlichkeit war. Es war das Bewußtsein, sinnliche Lust ohne Zärtlichkeit zu empfinden – etwas, was mir grundsätzlich noch nie passiert ist.«

Trotz seiner zahlreichen Amouren scheint Jean-Paul Sartre kein leidenschaftlicher Liebhaber zu sein: »Er ist ein hitziger, quicklebendiger Mann – überall, außer im Bett.« Im Zusammenleben Simone de Beauvoirs und Jean-Paul Sartres spielt der Geschlechtsverkehr bald keine Rolle mehr, aber sie bleibt sein intellektuelles Alter ego, die unentbehrliche geistige Lebensgefährtin, die ihm durch verständnisvolle Fragen und Anregungen hilft, Ideen auszubauen, Widersprüche aufzudecken und Gedanken klar zu formulieren. Simone de Beauvoir schätzt an ihm, »daß er nie aufhörte zu denken, nie etwas als gegeben und sicher hinnahm.« Und trotz ihrer wiederholten Zweifel ist ihr klar, daß sie ohne Jean-Paul Sartre eine andere wäre.

Kurzbiografie: © Dieter Wunderlich 2001 / 2007

Leseprobe: Dieter Wunderlich, EigenSinnige Frauen. 10 Porträts
© Pustet Verlag, Regensburg 1999
Als Piper-Taschenbuch überall im Buchhandel

Fußnoten wurden in der Leseprobe weggelassen. Zitate:
Walter van Rossum: Simon de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, 1998, S. 45 / 67 / 122
Simone de Beauvoir: In den besten Jahren, 1961, S. 223
Toril Moi: Simone de Beauvoir. Die Psychografie einer Intellektuellen, 1997, S. 199 / 357
Claude Francis und Fernande Gontier: Simone de Beauvoir, 1986, S. 229
Deidre Bair: Simone de Beauvoir, 1990, S. 322
Alice Schwarzer: Simone de Beauvoir heute, 1983, S. 78f / 118
Simone de Bauvoir: Das andere Geschlecht, 1970, S. 383
„Der Spiegel“, 30. Juni 1997, S. 195
Axel Madsen: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, 1982, S. 10

Jean-Paul Sartre (Kurzbiografie)

Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht

Gerhard Falkner - Apollokalypse
Identitätsverlust, Spiegelung und Verdoppelung sind Leitmotive des furiosen Romans "Apollokalypse". Dem Lyriker Gerhard Falkner geht es weniger um Inhalt als um Sprach­magie. Manchmal über­treibt er das Spiel mit ein­falls­reichen For­mu­lie­run­gen, hoch­auf­geladenen Sätzen und be­deu­tungs­schweren Metaphern.
Apollokalypse