Vier Minuten

Vier Minuten

Vier Minuten

Originaltitel: Vier Minuten – Regie: Chris Kraus – Drehbuch: Chris Kraus – Kamera: Judith Kaufmann – Schnitt: Uta Schmidt – Musik: Annette Focks – Darsteller: Monica Bleibtreu, Hannah Herzsprung, Sven Pippig, Richy Müller, Jasmin Tabatabai, Vadim Glowna, Nadja Uhl u.a. – 2006; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Traude Krüger kann sich nicht von ihren traumatischen Erinnerungen lösen. Als greise Klavierlehrerin in einem Frauengefängnis trifft sie auf eine ebenso geniale wie widerspenstige junge Schülerin, die sich ebenfalls aufgrund psychischer Verletzungen isoliert hat. Im Gegensatz zu Traude Krüger ordnet Jenny von Loeben ihr Leben jedoch nicht mit strenger Disziplin, sondern in ihrer grenzenlosen Wut verliert sie rasch die Beherrschung und verteidigt sich dann mit brutaler Gewalt gegen Übergriffe ...
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Kritik

"Vier Minuten" ist ein kraftvolles, eindrucksvoll gefilmtes Drama. Zwar sind viele Szenen unrealistisch, aber das Psychoduell der beiden ungleichen, von Monika Bleibtreu und Hannah Herzsprung überzeugend dargestellten Frauen ist überaus spannend.
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Die Pianistin Traude Krüger (Monica Bleibtreu) erteilt seit mehr als sechzig Jahren Klavierunterricht in einem Frauengefängnis. Einige Vollzugsbeamte halten das Klavierzimmer für einen Luxus, zumal derzeit nur vier Häftlinge von dem Angebot Gebrauch machen. Als Meyerbeer (Stefan Kurt), der neue Direktor, Traude Krüger jovial darauf hinweist, ärgert sie sich, denn für die meisten Kosten kommt sie selbst auf. Beispielsweise lässt sie gerade einen neuen Flügel aufstellen, den sie selbst gekauft hat.

Nachdem eine der Klavierschülerinnen sich in ihrer Zelle erhängt hat, bewirbt sich eine wegen Mordes verurteilte junge Frau um die freie Stelle. Jenny von Loeben (Hannah Herzsprung) bringt die alte Dame jedoch mit ihrem frechen Benehmen so gegen sich auf, dass diese es ablehnt, sie auszubilden oder auch nur vorspielen zu lassen. Stattdessen fordert Traude Krüger den Vollzugsbeamten Mütze (Sven Pippig) auf, die Bewerberin wegzubringen. Als er Jenny anfasst, schlägt sie ihn krankenhausreif. Danach verbarrikadiert sie sich in dem Musikzimmer und spielt wilden Jazz. Traude Krüger hört es auf dem Korridor, während Beamte gerannt kommen, um die Tür aufzubrechen und die renitente junge Frau zu überwältigen. Traude Krüger verabscheut zwar diese „Negermusik“, aber sie erkennt, dass Jenny außergewöhnlich begabt ist. Deshalb sucht sie Jenny auf, als diese in einer Einzelzelle gefesselt auf einer Pritsche liegt und erklärt sich bereit, ihr Klavierunterricht zu erteilen: „Ich halte Sie für niederträchtig, das sollten Sie wissen. Aber Sie haben eine Gabe geschenkt bekommen, und damit haben Sie eine Pflicht. Ich kann Ihnen helfen, dass Sie besser spielen – nicht, dass sie besser werden.“

In der Gefängnisleitung sind die Meinungen geteilt, ob Jenny nach dem Angriff auf Mütze für einen Jugendwettbewerb angemeldet werden soll oder nicht. Kowalsky (Richy Müller), der Vertreter der Vollzugsbeamten, spricht sich strikt dagegen aus. Seine Ex-Frau, die Gefängnispsychologin Nadine Hoffmann, erwartet von der Vergünstigung einen positiven Einfluss auf Jenny, und Meyerbeer stimmt schließlich Traude Krügers Vorschlag zu.

Bei den ersten Klavierstunden verweist Kowalsky auf Dienstvorschriften und ist nicht bereit, Jenny die Handschellen abzunehmen. Als die Medien von der Anmeldung der verurteilten Mörderin zu einem Musikwettbewerb erfahren, wollen sie Jenny bei der Vorbereitung fotografieren. Im Beisein der Journalisten ist es Jenny, die darauf besteht, wie bisher Handschellen zu tragen. Zum Erstaunen der Anwesenden spielt sie mit den am Rücken gefesselten Händen kraftvoll Jazz. Nur Traude Krüger ist von dem Kunststück nicht begeistert: Sobald sie mit ihrer Schülerin allein ist, ohrfeigt sie Jenny und fordert sie noch einmal auf, nur klassische Musik zu spielen.

Traude Krüger verlangt von ihrer neuen Schülerin Demut, Disziplin und bedingungslose Unterwerfung. Der Versuch der asketischen, strengen, authoritären Klavierlehrerin, die impulsive, sich gewaltsam gegen Übergriffe wehrende junge Frau zu bezähmen, wird zu einem unberechenbaren Psychoduell.

Nach einer der erfolgreich bestandenen Vorrunden des Klavierwettbewerbs wendet sich die sonst so unnahbare Jenny ihrer Lehrerin unvermittelt zu: „Ich sag’s jetzt mal als Erste. Und ich hab’s noch nicht mal zu Leuten gesagt, mit denen ich geschlafen habe: Ich mag Sie.“ Da ringt Traude Krüger vergeblich nach Worten.

Sie weiß nicht, was sie erwidern soll, weil sie an ihre große Liebe Hannah (Kathrin Kestler) denkt, die 1945 von den Nationalsozialisten wegen ihrer kommunistischen Überzeugung zum Tod verurteilt worden war. Auch Traude Krüger (Edita Malovcic), die damals als Krankenschwester in einem Lazarett arbeitete, wurde verhört. Auf die Frage, ob sie mit Hannah befreundet gewesen sei, antwortete sie zunächst mit „ja“, doch als der Geheimdienstoffizier entgegnete, ein Volksschädling könne ihr doch niemals nahegestanden haben, verleugnete sie ihre Liebe und Freundschaft. Die Erinnerung an ihre glücklichen Tage mit Hannah, ihren Verrat und die Hinrichtung der Geliebten hat Traude Krüger nie mehr losgelassen.

Jenny wurde von ihrem Stiefvater als Wunderkind vorgeführt und gewann Dutzende von Preisen. Als sie mit der Ausnahmekarriere nicht mehr weitermachen wollte, versuchte er, den Widerstand seiner Stieftochter durch eine Vergewaltigung zu brechen. Seither hasst Jenny ihren Stiefvater und rastet aus, wenn man sie unerlaubt berührt.

Gerhard von Loeben (Vadim Glowna) wird von Schuldgefühlen gequält und glaubt, ohne Alkohol nicht mehr leben zu können. Als er erfährt, dass seine Tochter zu einem Klavierwettbewerb angemeldet ist, sucht er Traude Krüger auf. Jenny habe niemanden ermordet, behauptet er. Er ist überzeugt, dass sie sich vor Gericht nicht entlastete, weil sie ihren damaligen Geliebten decken wollte, der seinen eigenen Vater bestialisch umgebracht hatte. Bei ihrer Festnahme war sie bereits schwanger, aber ihr Liebhaber ließ sie im Stich. Jenny erzählte ihrer Klavierlehrerin bereits, dass sie sich sechzehn Stunden lang mit der Geburt gequält habe. Einen Kaiserschnitt lehnte der Krankenhausarzt ab – bis das Kind tot war. Vor Verzweiflung wollte Jenny durch ein Fenster springen, aber die Scheibe zerbrach nicht.

Als sich Mütze von den Verletzungen erholt hat, kann er es nicht fassen, dass die Angreiferin inzwischen Ausgang bekommt, um an einem Jugendwettbewerb teilnehmen zu können. Einmal muss er sie selbst begleiten. In seiner ohnmächtigen Wut hält er ihr im Warteraum seine Dienstpistole an den Kopf. Nachdem Mütze bei einer willkürlichen Durchsuchung ihrer Zelle einen Marienkäfer gefunden hat, verlegt er Jenny wegen „Ungezieferbefalls“, und zwar zu ihrer gefährlichsten Feindin Ayse (Jasmin Tabatabai) und deren Anhängerinnen.

Eines Nachts bindet Ayse die Hand der Schlafenden mit einem Stoffstreifen fest und zündet die Fessel an. Jenny wacht von dem Schmerz auf – und schlägt Ayse zusammen.

Nach dieser erneuten Gewalttätigkeit befolgt Meyerbeer Kowalskis Rat und teilt den Medien mit, dass Jenny von Loeben nicht an dem Klavierwettwerb teilnehmen könne, weil der Vorfall sorgfältig untersucht werden müsse und sie deshalb die Justizvollzugsanstalt nicht verlassen dürfe.

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Traude Krüger weiß, dass Mütze sich auf diese Weise an Jenny rächte und redet dem Beamten ins Gewissen. Mit Rücksicht auf seine kleine Tochter Clara (Amber Bongard) ist Mütze zwar nicht zu einem Geständnis gegenüber dem Gefängnisdirektor bereit, doch als Traude Krüger ein paar Stunden vor dem Beginn des Finales im Klavierwettbewerb ihren Flügel abholen lässt, sorgt er dafür, dass sie Jenny aus der Haftanstalt schmuggeln kann.

In Traude Krügers Wohnung findet Jenny eine leere Schnapsflasche und schließt daraus, dass ihr Vater da war. Der steckt also hinter dem Ganzen! Vergeblich beteuert Traude Krüger, aus eigenen Stücken gehandelt zu haben. Jenny rast vor Wut, zertrümmert Einrichtungsgegenstände und schlägt ihre Lehrerin nieder. Um Jennys Vertrauen zurückzugewinnen, erzählt Traude Krüger ihr von ihrer lesbischen Liebesbeziehung. Am Ende zieht Jenny doch das von Traude Krüger besorgte Abendkleid an und fährt mit ihr im Taxi zur Oper.

Während Jenny die Bühne betritt, treffen Streifen- und Mannschaftswagen der Polizei mit Blaulicht und Sirenengeheul vor dem Operngebäude ein. Die Polizisten verteilen sich hinter der Bühne sowie im voll besetzten Parkett und in den Rängen. Im letzten Augenblick überredet Traude Krüger den Gefängnisdirektor, Jenny vier Minuten für ihren Auftritt zu gewähren.

Wie angekündigt, beginnt Jenny mit Schumann. Doch nach ein paar Takten springt sie auf, hämmert mit den Händen auf den Flügel, reißt an den Saiten und lässt eine wilde, eigenwillige Musik erklingen. Das Publikum ist begeistert und erhebt sich beim frenetischen Applaus. Jenny blickt zu ihrer Lehrerin, verbeugt sich stolz – und lässt sich widerstandslos abführen.

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Hauptfigur des Films „Vier Minuten“ ist Traude Krüger, eine vor Jahrzehnten traumatisierte Frau, die sich nicht von ihren Erinnerungen lösen kann und ihr einsames Leben der klassischen Musik geweiht hat. Als greise Klavierlehrerin in einem Frauengefängnis trifft sie auf eine ebenso geniale wie widerspenstige junge Schülerin, die sich ebenfalls aufgrund psychischer Verletzungen isoliert hat. Im Gegensatz zu Traude Krüger ordnet Jenny von Loeben ihr Leben jedoch nicht mit strenger Disziplin, sondern in ihrer grenzenlosen Wut verliert sie rasch die Beherrschung und verteidigt sich dann mit brutaler Gewalt gegen Übergriffe.

„Vier Minuten“ ist ein kraftvolles, von Judith Kaufmann eindrucksvoll gefilmtes Drama. Zwar sind viele Szenen unrealistisch, einige auch kitschig und klischeehaft, aber das Psychoduell der beiden ungleichen Frauen ist überaus spannend.

Hier hat der Film seine spannenden, großen Momente, wenn er sich auf seine beiden Hauptdarstellerinnen konzentriert. Wenn steinernde Disziplin auf haltlose Wut prallt, sich zwei Verhärtete immer wieder kurz füreinander öffnen, um dem anderen gleich wieder weh zu tun. Wenn die Sehnsucht nach Berührung der äußersten Angst davor begegnet. (Martina Knoben, Süddeutsche Zeitung, 1. Februar 2007)

Dass die Auseinandersetzung der Klavierlehrerin mit ihrer Schülerin die Kinobesucher so mitreißt, liegt an den beiden überzeugenden Hauptdarstellerinnen: Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung. „Vier Minuten“ ist schon allein wegen ihrer grandiosen schauspielerischen Leistung sehenswert.

„Vier Minuten“ ist der zweite Kinofilm des durch „Scherbentanz“ (2002) bekannt gewordenen Regisseurs und Drehbuchautors Chris Kraus, der sich eigentlich mehr als Schriftsteller denn als Filmemacher sieht:

Ich komme vom Schreiben, sehe mich als Autor, der seine Stoffe selbst verfilmt, damit sie nicht zerschreddert werden. (Chris Kraus im Interview mit Rainer Gansera und Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 1. Februar 2007)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007

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