Marinus Schöberl: Mord in Potzlow


Als Marco Schönfeld 14 Jahre alt war, zogen die Eltern Jutta und Jürgen Schönfeld mit ihm und seinem sechs Jahre jüngeren Bruder Marcel von Berlin in das 60 Kilometer nördlich davon gelegene Dorf Potzlow. Es liegt in einer idyllischen Gegend in der Uckermark, in der allerdings seit der Wiedervereinigung die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Marco hatte wegen eines Sprachfehlers eine Sonderschule besucht und dann die Schulausbildung abgebrochen. Bereits im Kindergarten und in der Schule war er gehänselt worden. Das setzte sich in Potzlow fort. Als Reaktion darauf stilisierte er sich mit Glatze und Springerstiefeln zum Skinhead. Immer wieder fiel der Jugendliche durch Straftaten auf: Diebstahl, Betrug, Nötigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung … 1999 wurde der inzwischen 20-Jährige zu drei Jahren Haft verurteilt. Am 3. Juli 2002 kam er frei.

Am Abend des 12. Juli 2002 besuchte Marco mit seinem Bruder Marcel und dessen Freund, dem 17 Jahre alten Sebastian Fink, einen Bekannten namens Achim F. in Strehlow. Sie tranken zusammen zwei Kästen Bier. Im Verlauf des Abends kam auch der 16-jährige Marinus Schöberl aus Gerswalde dazu, einem Dorf zehn Kilometer südwestlich von Potzlow.

Nachmittags kam mein Kumpel Sebastian mit dem Zug nach Seehausen. Mein Papa und ich haben ihn abgeholt. Dann kam mein Bruder Marco auf die Idee, nach Strehlow zu fahren, um dort Achim zu besuchen. Mein Bruder war erst neun Tage vorher aus der Haft entlassen worden. Die beiden kannten sich noch aus früheren Zeiten. Wir holten einen Kasten Bier „Sternburger“. Der wurde dann durch die anwesenden Personen geleert. Nach ca. einer Stunde war der Kasten leer, und wir holten einen zweiten. Kurz zuvor kam Marinus Schöberl mit einem Fahrrad auf den Hof von Achim gefahren. (Marcel Schönfeld bei seiner Vernehmung am 18. November 2002, zit.: Andres Veiel: Der Kick)

Marcel Schönfeld brach die Schule im Alter von 15 Jahren ab. Zu diesen Zeitpunkt trank er bereits viel Alkohol und konsumierte Drogen. Während sein Bruder im Gefängnis saß, färbte er sich die Haare, trug Baggy Pants und passte sich der örtlichen Hip-Hop-Szene an, aber nach Marcos Freilassung änderte er sein Erscheinungsbild sofort wieder.

Marinus Schöberl wurde am 4. September 1985 in Wolfen im Südosten von Sachsen-Anhalt geboren. Er trug blond gefärbtes Haar und Hip-Hop-Klamotten. Der 16-Jährige stotterte ein wenig.

Als es Achim zu viel wurde und er seine Gäste Marco, Marcel, Sebastian und Marinus vor die Tür setzte, fuhren sie noch zu einer anderen Adresse.

Es war gegen 0.30 Uhr, als wir, ich meine damit Sebastian Fink, mein Bruder Marco, Marinus und ich, dort ankamen. Frau Spiering und ihr Lebensgefährte schliefen bereits. Sebastian Fink schlug kräftig gegen die Scheibe. Diese ging dabei kaputt. Die Haustür war verschlossen. Marco drückte sie gewaltsam mit der Schulter auf. Im Schlafzimmer haben wir die beiden dann geweckt und uns zusammen in die Veranda gesetzt. Dort tranken wir die Flasche Schnaps. Mein Bruder Marco fing dann an, den Marinus zu beschimpfen. Er fragte und sagte immer wieder, ob er oder dass er ein Jude sei. Frau Spiering sagte, Marinus solle doch zugeben, dass er ein Jude sei, dann wäre Ruhe. Marinus hat dann irgendwann ja gesagt, dass er ein Jude sei. Ruhe war dann auch nicht. Dann ging es richtig los. (Marcel Schönfeld bei seiner Vernehmng, zit.: Andres Veiel: Der Kick)

Marinus Schöberl musste sich mehrmals übergeben, und Sebastian Fink urinierte auf den am Boden Liegenden. Als die beiden Brüder mit Sebastian aufbrachen, ließen sie Marinus zunächst da. Aber dann kehrten sie um und nahmen ihn mit. Bei der ehemaligen LPG-Schweinemastanlage von Potzlow traktierten sie ihn weiter. Marcel brachte ihn dazu, mit seinem Mund die Kante eines steinernen Futtertrogs zu umschließen und sprang ihm dann mit beiden Springerstiefeln auf den Kopf, wie er es in dem Film „American History X“ gesehen hatte. „Scheiße, wir haben einen umgebracht!“, entfuhr es Marco, aber Marinus röchelte noch. Aus Angst vor den Konsequenzen wollte Marco keinen Arzt rufen. Sein 17-jähriger Bruder Marcel hob schließlich einen Gasbetonstein auf und warf ihn dem Schwerverletzten zweimal auf den Kopf.

Danach verscharrten die Täter die Leiche bei der nahen Jauchegrube.

Mitte August fuhr Marco Schönfeld mit einem gestohlenen Auto nach Prenzlau und schlug einen Afrikaner aus Sierra Leone ohne erkennbaren Grund zusammen. Daraufhin wurde er zu drei Jahren Haft verurteilt.

Birgit Schöberl meldete ihren Sohn Marinus als vermisst, aber die Leiche wurde erst im November 2002 entdeckt, nachdem Marcel im Alkoholrausch seinem Freund Matthias M. einen entsprechenden Hinweis gegeben hatte.

Im November war dann eben das Fest im Club, und da hat Marcel gesagt, ich weiß, wo Marinus ist. Und das war wohl der Suff. Dann
hab ich das gepeilt. Nächsten Tag drauf dann, hab ich gesagt, du, Dani, weißte was, ich glaub Marinus war wirklich nicht weg gewesen. – Wie jetze hier? – Na ja, der war immer bei uns, der war immer in Potzlow. – Na wo? – Na beim Schweinestall. – Na wo denn da? – Na der war da bei der Jauchegrube. Kommste mit hoch kucken, ob das stimmt? – Denn sind wir hochgegangen, zu dritt, dann hab‘ ich angefangen zu buddeln.
(Matthias M., zit. Andres Veiel: Der Kick)

Am 24. Oktober 2003 sprach das Landgericht Neuruppin die drei Täter schuldig. Sebastian Fink kam zunächst mit zwei Jahren Jugendstrafe davon und wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Das Strafmaß für den zur Tatzeit ebenfalls noch minderjährigen Marcel Schönfeld betrug achteinhalb Jahre. Sein sechs Jahre älterer Bruder sollte wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung für 15 Jahre ins Gefängnis.

Birgit Schöberl starb am Tag der Urteilsverkündigung an einer Krebserkrankung.

Nachdem der Bundesgerichtshof in Leipzig das Urteil im August 2004 revidiert hatte, erhöhte das Landgericht Neuruppin im Dezember 2004 die Jugendstrafe für Sebastian Fink auf drei Jahre. Dennoch musste er nicht wieder ins Gefängnis.

Tamara Milosevic beschäftigt sich in ihrem Dokumentarfilm „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ mit der Ermordung von Marinus Schöberl in Potzlow. Es handelt sich um ihre Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg. Ihr Film kam am 16. März 2006 in die Kinos und wurde am 27. April 2006 vom SWR erstmals im Fernsehen ausgestrahlt.

Originaltitel: Zur falschen Zeit am falschen Ort – Regie: Tamara Milosevic – Drehbuch: Tamara Milosevic – Kamera: Bettina Blümner, Sarah Rotter – Schnitt: Silva von Gerlach, Anna Weber, Thomas Wellmann – 2005; 60 Minuten

Andres Veiel und Gesine Schmidt fuhren zwischen September 2004 und April 2005 etwa vierzigmal nach Potzlow, hörten sich dort um und sammelten Material über den Mordfall Marinus Schöberl. Textauszüge aus ihren Gesprächen und anderen Protokollen stellten sie zu dem Theaterstück „Der Kick“ zusammen, das im April 2005 am Theater Basel und am Maxim-Gorki-Theater in Berlin uraufgeführt wurde. Sie vermieden jede szenische Darstellung und steigerten die Abstraktion im Geist des epischen Theaters, indem sie alle 18 Rollen von zwei Schauspielern darstellen ließen. Andres Veiel verfilmte das Theaterstück: „Der Kick“ und veröffentlichte außerdem das Buch „Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt“ (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, 285 Seiten, ISBN 978-3-421-04213-2, 14.95 €).

© Dieter Wunderlich 2013

Andres Veiel: Der Kick

Adriana Altaras - Die jüdische Souffleuse
Adriana Altaras hat den Kern ihres Romans "Die jüdische Souffleuse" – die Suche einer Jüdin nach Verwandten – in eine Rahmenhandlung eingebettet, die sie zwischendurch immer wieder aufgreift. Dabei geht es vor allem um ihre Erfahrungen als Opernregisseurin, also einen Blick hinter die Kulissen, den sie mit Aphorismen, Witz und Humor gespickt hat.
Die jüdische Souffleuse