Die Geschichte von Marie und Julien

Die Geschichte von Marie und Julien

Die Geschichte von Marie und Julien

Die Geschichte von Marie und Julien – Originaltitel: Histoire de Marie et Julien – Regie: Jacques Rivette – Drehbuch: Pascal Bonitzer, Christine Laurent, Jacques Rivette – Kamera: William Lubtchansky – Schnitt: Nicole Lubtchansky – Darsteller: Emmanuelle Béart, Jerzy Radziwilowicz, Anne Brochet, Bettina Kee, Olivier Cruveiller, Mathias Jung, Nicole Garcia u.a. - 2003; 150 Minuten

Inhaltsangabe

Der Pariser Uhrmacher Julien Müller verliebt sich unsterblich in eine geheimnisvolle junge Frau. Marie zieht schließlich zu ihm, doch obwohl sie ihm ihre Liebe beteuert, richtet sie sich eine Dachkammer ein, und Julien muss befürchten, dass er sie verliert. Eine von ihm gerade erpresste Frau behauptet, Marie sei eine Wiedergängerin. Julien hält die Frau für verrückt, aber er erkundigt sich bei früheren Bekannten Maries über sie ...
mehr erfahren

Kritik

Jacques Rivette nimmt sich sehr viel Zeit, die Geschichte von Marie und Julien zu erzählen, aber keine Einstellung ist überflüssig. Das Faszinosum liegt vermutlich in der geheimnisvollen, sinnlichen Atmosphäre des fantastischen Films.
mehr erfahren

Julien

Der Turmuhrmacher Julien Müller (Jerzy Radziwilowicz) sitzt auf einer Parkpark in Paris. Zufällig kommt Marie (Emmanuelle Béart) vorbei. Seit mehr als einem Jahr haben sie sich nicht mehr gesehen. Damals trafen sie sich auf einer Party des Verlegers Vincent (Olivier Cruveiller). Julien hatte eine Geliebte dabei, und Marie war in Begleitung ihres Lebensgefährten Simon. Inzwischen wohnt Julien allein mit seiner Katze Nevermore in einem alten Haus, und Simon starb vor einem halben Jahr bei einem Verkehrsunfall. Unvermittelt holt Marie mit einem Messer aus …

Es war ein Traum. Gleich darauf begegnet Julien Marie auf der Straße. Sie verabreden sich für den nächsten Tag, denn Julien hat jetzt keine Zeit: Er trifft sich mit „Madame X“ (Anne Brochet), von der er Geld erpresst für eine Puppe, ein Foto und ein Dokument, das beweist, dass ihre angeblich echten alten Seidenstoffe gefälscht sind.

Marie versetzt ihn am folgenden Tag, aber kurz danach kommt sie zu ihm ins Haus, nennt ihm die Adresse ihres Apartment-Hotels und lädt ihn für den nächsten Abend zum Essen ein. Sie verbringen die Nacht zusammen im Bett, aber als Julien am anderen Morgen erwacht, ist Marie bereits abgereist, ohne eine Adresse oder Nachricht zu hinterlassen.

Während seiner Abwesenheit wurde in seinem Haus eingebrochen und alles durchwühlt. Lockte Marie ihn nur aus dem Haus, damit Madame X nach dem Belastungsmaterial suchen konnte?

Eine Frau, die ihren Namen nicht nennt, verrät Julien am Telefon, in welchem Hotel er Marie finden könne. Er fährt sofort hin, und Marie ist bereit, zu ihm zu ziehen.

Julien und Marie

Marie wohnt bei Julien. Obwohl sie tagsüber bei ihm in der Uhrwerkstatt sitzt und nachts mit ihm zusammen schläft, richtet sie sich eine Dachkammer ein.

Durch die Katze Nevermore entdeckt Marie eines Tages zufällig die in einer Standuhr versteckten Beweisstücke gegen Madame X. Sie ahnt Unheil. Julien erklärt ihr, was es mit der Puppe, dem Foto und dem gefälschten Zertifikat auf sich hat.

Madame X ruft an: Sie hat nur einen Teil der von Julien verlangten Summe. Marie greift zum Telefon („ich bin die andere Person“) und macht ihr klar, dass sie dann auch nur einen Teil der Beweisstücke bekommen kann. Madame X wundert sich, dass statt Julien „die andere Person“ zur Geldübergabe erscheint, und obwohl diese ihrer toten Schwester gar nicht ähnlich sieht, erinnert Marie sie an Adrienne (Bettina Kee). Als Marie mit einem Drittel des Lösegelds nach Hause eilt, kommt Adrienne ihr entgegen, drückt ihr einen Brief in die Hand und geht weiter.

Marie lässt Julien das Schreiben lesen. In dem an ihre Schwester gerichteten Brief gibt Adrienne zu, sie um einen größeren Geldbetrag betrogen zu haben und beschuldigt sie zugleich, an ihrem Tod Schuld zu sein.

Marie und Julien

Bei einem weiteren Treffen erhält Marie von Madame X ein weiteres Drittel des Geldbetrags.

Julien ist sehr beunruhigt, denn Marie schließt sich in ihrer Dachkammer ein, und es kommt vor, dass sie in seinem Beisein in eine Art Absence fällt. Aber sie beteuert ihm ihre Liebe.

Zur Übergabe der Restsumme geht Julien selbst. Madame X fragt nach dem Brief ihrer Schwester, aber Julien meint, der gehöre nicht zu ihrer Abmachung. Erst jetzt erfährt er, dass Adrienne vor einem halben Jahr ins Wasser ging und ertrank. Madame X glaubt zu wissen, dass „die andere Person“ Absencen habe, mitunter für Julien nicht erreichbar sei und bei Verletzungen nicht blute. Sie behauptet, die von ihm geliebte Frau sei wie ihre Schwester: tot! Julien hält Madame X für verrückt, aber er ist auch beunruhigt.

Ohne erkennbaren Anlass verlässt Marie das Haus und nimmt sich ein Hotelzimmer.

Verzweifelt über ihre Verschwinden sucht Julien den Verleger auf, mit dem Marie zusammen gewesen war, bis sie Simon kennen gelernt hatte. Vincent weiß nicht, wo Marie ein könnte, aber er gibt Julien die Adresse einer früheren Freundin Maries. Julien fährt zu ihr (Nicole Garcia) und erfährt, dass das Verhältnis von Marie und Simon eine amour fou war und darüber auch die Freundschaft der beiden Frauen zerbrach.

Marie

Am anderen Morgen kommt Marie zurück. Julien ist nicht da. Er ist bei der Concierge des Hauses, in dem Marie gewohnt hatte, bis sie sich in ihrem Zimmer erhängte. Verblüfft stellt Julien fest, dass es genauso eingerichtet ist wie die Dachkammer in seinem Haus. Weil das Gesicht der Leiche mit Messerstichen zerstört und ihre Hände mit Klebeband gefesselt waren, ermittelte die Polizei zunächst wegen Mordes, aber es stellte sich heraus, dass Marie sich selbst das Leben genommen hatte.

Ohne Marie hat das Leben für Julien keinen Sinn mehr. In der verzweifelten Hoffnung, der Wiedergängerin nach dem Tod näher sein zu können, versucht er, sich in der Dachkammer zu erhängen, aber Marie hält ihn davon ab und warnt ihn: „Es geht nach Gesetzen, die wir nicht verstehen. Du könntest nicht nur mich verlieren, sondern auch die Erinnerung an mich.“ Als Julien versucht, sich in der Küche zu erstechen, nimmt Marie ihm das Messer ab. Damit er sich nichts antut, macht sie sich mit einer bestimmten Geste unsichtbar und löscht sich zugleich aus seinem Gedächtnis.

Madame X kommt vorbei und fragt nach dem Brief ihrer Schwester. Julien weiß nichts mehr von einer „anderen Person“, und weder er noch Madame X nehmen Marie nicht wahr, die in einem Sessel sitzt. Nachdem Madame X mit dem Brief gegangen ist, setzt Julien seine Arbeit fort, als sei nichts geschehen.

Marie schaut ihm zu und weint vor Schmerz über die verlorene Liebe. Da platzen die Schnittwunden an ihren Handgelenken auf und beginnen zu bluten.

„Wie spät ist es?“, fragt Julien unvermittelt und wundert sich über die Fremde in seinem Haus, die ihm antwortet. Er erinnert sich nicht an sie, und als Marie behauptet, sie seien ein Paar gewesen, kann Julien sich das nicht vorstellen: „Sie sind überhaupt nicht mein Typ.“ Marie entgegnet: „Das glauben Sie nur. Geben Sie mir ein wenig Zeit.“

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Julien repariert „hinkende Turmuhren“; er dreht die Zeiger der Uhren vorwärts und rückwärts und strebt nach Isochronie. Dass es sich bei Marie, der rätselhaften Frau, in die er sich unsterblich verliebt, um eine Wiedergängerin handelt, ahnt er zunächst nicht, aber er spürt ihre Substanzlosigkeit und vergewissert sich ihrer Gegenwart im Liebesakt. Marie ist eine Allegorie der Vergänglichkeit und des Todes. Um Julien von der quälenden Liebe zu erlösen, muss sie nicht nur verschwinden, sondern sich auch aus seinen Erinnerungen löschen. Aber sie hält es ohne ihn nicht aus, verzichtet auf ihre eigene Erlösung und kehrt in der Hoffnung auf Liebe ins Leben zurück.

„Die Geschichte von Marie und Julien“ beginnt mit einem Traum. Realität, Traum und Übersinnliches sind in dem fantastischen Film von Jacques Rivette nicht klar voneinander getrennt.

Jacques Rivette hat in seiner ebenso schönen wie unendlich traurigen „Geschichte von Marie und Julien“ unsere Worte, die hilflosen Behauptungen und Beschwörungen, dass die Liebe den Tod überlebt und der Geliebte in ihr nach dem Tod in uns und mit uns weiterlebe, ernst genommen, er hat sie nicht nur beim Wort genommen, sondern hat dem Wort einen Körper und eine berührend verführerische Körpersprache gegeben: Emmanuelle Béart. Sie spielt die liebesrätselhafte Marie auf der zitternden Trennlinie zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Hölle, zwischen Erde und Luft, zwischen Nacht- und Tagtraum. (Albert Ostermaier, Süddeutsche Zeitung, 4. März 2008)

Jacques Rivette nimmt sich sehr viel Zeit, die Geschichte von Marie und Julien zu erzählen, aber keine Einstellung ist überflüssig, und als Zuschauer verfolgt man gebannt die Entwicklung. Die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten, obwohl es keine ungeahnten Wendungen gibt, sondern nur einen langsamen Klärungsprozess. Das Faszinosum liegt vermutlich in der geheimnisvollen, sinnlichen Atmosphäre des Films, die nicht zuletzt von den hervorragenden Schauspielern – allen voran Emmanuelle Béart – getragen wird.

Hervorzuheben ist auch die Kameraführung von William Lubtchansky, der bei aller Zurückhaltung und Distanz jede einzelne Einstellung überzeugend komponiert hat.

Übrigens ist „Die Geschichte von Marie und Julien“ der erste Film von Jacques Rivette mit Bettszenen, Computereffekten und einem Kamera-Zoom.

Eigentlich hatte Jacques Rivette „Die Geschichte von Marie und Julien“ als ersten Teil einer Tetralogie mit dem Arbeitstitel „Töchter des Feuers“ geplant. Nach dem Fantasy-Thriller „Duelle“ (Unsterbliches Duell“) und dem Western „Noroît“ („Nordwestwind“) begann er 1976 mit den Dreharbeiten. Leslie Caron und Albert Finney sollten die Hauptrollen spielen. Doch am dritten Tag wartete die Filmcrew vergeblich auf Jacques Rivette, und er blieb fast zwei Jahre lang verschwunden. Später erklärte er den unerwarteten Abbruch der Dreharbeiten mit einem Erschöpfungszustand.

Unsterbliches Duell – Originaltitel: Duell. Une quarantaine – Regie: Jacques Rivette – Drehbuch: Eduardo de Gregorio, Marilù Parolini – Kamera: William Lubtchansky – Schnitt: Nicole Lubtchansky – Musik: Jean Cohen-Solal, Robert Cohen-Solal, André Dauchy, Roger Fugen, Daniel Ponsard, Jean Wiener – Darsteller: Juliet Berto, Bulle Ogier, Jean Babilée, Hermine Karagheuz, Nicole Garcia, Claire Nadeau, Elisabeth Wiener, Jean Wiener, André Dauchy, Roger Fugen u.a. – 1976

Nordwestwind – Originaltitel: Noroît – Regie: Jacques Rivette – Drehbuch: Eduardo de Gregorio, Marilù Parolini, Jacques Rivette – Kamera: William Lubtchansky – Schnitt: Nicole Lubtchansky, Cristiana Tullio-Altan – Musik: Jean Cohen-Solal, Robert Cohen-Solal, Daniel Ponsard – Darsteller: Bernadette Lafont, Geraldine Chaplin, Kika Markham, Babette Lamy, Élisabeth Lafont, Danièle Rosencranz, Carole Laurenty, Anne-Marie Fijal, Humbert Balsan, Larrio Ekson, Anne-Marie Reynaud, Georges Gatecloud, Anne Bedou, Marie-Christine Moureau-Meynard u. a. – 1976

Der Kameramann William Lubtchansky bewahrte Skizzen und Entwürfe für den Film „Die Geschichte von Marie und Julien“ auf. Sie wurden 2002 von Hélène Frappant und den Cahiers du Cinema veröffentlicht. Dadurch begann Jacques Rivette erneut über „Die Geschichte von Marie und Julien“ nachzudenken, und diesmal realisierte er sein Vorhaben.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 / 2008

Jacques Rivette: Sturmhöhe
Jacques Rivette: Die schöne Querulantin
Jacques Rivette: Johanna

Margriet de Moor - Schlaflose Nacht
Margriet de Moor entwickelt die Geschichte auf drei Zeitebenen im eleganten Wechsel. Vieles in "Schlaflose Nacht" bleibt rätselhaft. Zu der kunstvollen Erzählökonomie gehören eine mit Symbolik auf­ge­lade­ne Verdichtung und eine lakonische Sprache.
Schlaflose Nacht