Der Code des Lebens: DNA (DNS)

Gen und Chromosom

1868 war der Schweizer Biochemiker Johann Friedrich Miescher im Zellkern (nucleus) auf eine Substanz gestoßen, die er „Nukleinsäure“ genannt hatte. Die Nukleinsäure – und nicht etwa das Eiweiß der Chromosomen – trägt die Erbinformation. Der deutsche Physiologe Albrecht Kossel vermutete das. Bewiesen wurde es von Oswald T. Avery 1944. Eiweißumhüllte Nukleinsäure-Moleküle bilden die Chromosomen, und die Einheiten der Vererbung – für die Wilhelm Johannsen 1909 den Begriff „Gen“ eingeführt hatte – sind nichts anderes als bestimmte Abschnitte, funktionelle Einheiten der Nukleinsäure.

DNA (DNS)

Als Träger des genetischen Codes wurde die Desoxyribonukleinsäure (DNS; englisch: Desoxiribo Nucleic Acid, DNA) identifiziert. Wie bei allen Nukleinsäuren handelt es sich dabei um eine hochpolymere organische Verbindung.

Anhand der Röntgen-Beugungsbilder, die die Biochemikerin Rosalind Elsie Franklin (1920 – 1958) und der Physiker Maurice Hugh Frederick Wilkins (1916 – 2004) in London hergestellt hatten, gelang es 1953 dem Engländer Francis H. C. Crick (1916 – 2004) und dem Amerikaner James D. Watson (* 1928), die Feinstruktur der DNA aufzuklären. Am 25. April 1953 veröffentlichten Crick und Watson einen Artikel mit der Beschreibung des molekularen Aufbaus der DNA. Dafür erhielten Francis Crick, James Watson und Maurice Wilkins 1962 den Nobelpreis für Medizin. Die DNA kann man sich als verdrillte Strickleiter vorstellen, deren Sprossen aus je zwei Nukleotidbasen – Adenin, Thymin, Guanin, Zytosin – zusammengesetzt sind. Ein DNA-Molekül kann mehrere Millionen solcher „Sprossen“ aufweisen. Ähnlich wie beim Morse-Alphabet oder bei der binären Maschinensprache digitaler Computer stellt die Reihenfolge der vier verschiedenen Nukleotidbasen einen Code dar, und der scheint für alle Lebewesen derselbe zu sein. Allerdings unterscheiden sich die so codierten Bau- und Betriebsanleitungen: Die Buchstaben sind gleich geblieben, aber die Sprache ist im Verlauf der Evolution reicher geworden.

Craig Venter, Claire Fraser und Hamilton Smith veröffentlichten 1995 die erste vollständige Genomsequenz eines Organismus, nämlich des Bakteriums Haemophilius influenzae. Fast zeitgleich gaben 2001 das Internationale Humangenomprojekt und Craig Venters Firma Celera Genomics bekannt, sie hätten das menschliche Genom nahezu vollständig decodiert. Damals waren 85 Prozent der etwa drei Milliarden „Leitersprossen“ bekannt. Die Genetiker arbeiteten also weiter, erhöhten den erforschten Anteil bis Ende 2004 auf über 99 Prozent, und im Mai 2006 entschlüsselten sie das letzte Gen des Humangenoms.

Für die Erforschung von Prozessen, die für die Integrität der DNA sorgen, wurden 2015 drei Wissenschaftler mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet: Paul Modrich vom Howard Hughes Medical Institute in Durham, Aziz Sancar von der University of North Carolina und Tomas Lindahl, der bis 2009 am Francis Crick Institut in London arbeitete.

Entstehung des Lebens

Woher stammt dieser Code des Lebens? Der Chemie-Nobelpreisträger Manfred Eigen gewann in den Siebzigerjahren die Überzeugung, dass sich Vorläufer der Nukleinsäuren spontan bildeten. Manfred Eigen schrieb das Vorwort für die deutsche Ausgabe des Bestsellers des französischen Medizin-Nobelpreisträgers Jacques Monod: „Zufall und Notwendigkeit“. Der hält die Entstehung des Lebens für nichts anderes als einen höchst unwahrscheinlichen Zufall. „Ist der einzelne und als solcher wesentlich unvorhersehbare Vorfall aber einmal in die DNA-Struktur eingetragen, dann wird er mechanisch getreu verdoppelt und übersetzt; er wird zugleich vervielfältigt und auf Millionen oder Milliarden Exemplare übertragen. Der Herrschaft des bloßen Zufalls entzogen, tritt er unter die Herrschaft der Notwendigkeit […]“

Zellteilung

Teilt sich eine Körperzelle, trennt sich die DNA-Leiter in der Mitte der Sprossen zwischen den beiden Nukleotidbasen auf, und an den Bruchstücken lagern sich frei vorhandene Nukleotidbasen an. Der österreichisch-amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff beobachtete 1944, dass sich dabei nur Adenin und Thymin bzw. Guanin und Zytosin zu einer Leitersprosse paaren. Auf diese Weise entstehen zwei komplette Kopien der ursprünglichen Leiter, und jede der neuen Zellen weist die gleiche genetische Anlage auf.

Körperzellen

Zellen sind die kleinsten eigenständig lebensfähigen Einheiten. Durch eine äußere Membran sind sie zwar von der Umwelt abgegrenzt, aber zugleich in der Lage, durch den Stoffwechsel mit der Umgebung einen inneren Gleichgewichtszustand mehr oder weniger lange auszubalancieren. Der Aufbau und die Funktion der Zellen konnten mit Elektronenmikroskopen zunehmend aufgehellt werden. Wesentliche Einblicke verdanken wir den Belgiern Albert Claude und Christian de Duve, vor allem aber George E. Palade, einem amerikanischen Biologen rumänischer Herkunft. Alle drei wurden dafür 1974 mit dem Nobelpreis geehrt.

Ribosom, RNS, Aminosäuren, Proteine

George E. Palade war es auch, der einen wesentlichen Bestandteil der Körperzelle entdeckte: das Ribosom. Wie in den Ribosomen Proteine aufgebaut werden, beschrieb der Amerikaner Marshall W. Nirenberg 1961.

Bei den Proteinen handelt es sich um Kettenmoleküle aus Aminosäuren. Das hatte Linus C. Pauling um 1950 erkannt. Viele Proteine bilden stützendes Körpergewebe; andere – die wir als Enzyme bezeichnen – sind an den Vorgängen in den Zellen maßgeblich beteiligt. Definiert werden sie zuallererst durch die Abfolge der Aminosäuren, also durch einen weiteren Code – wobei es allerdings nicht nur vier, sondern zwanzig verschiedene Kettenglieder gibt.

Die Information über die jeweilige Sequenz der Aminosäuren ist in der DNA gespeichert. Wie gelangt sie zu den Ribosomen? Das Medium für diesen Transfer stellt die Ribonukleinsäure (RNS; englisch: RNA) dar. Das RNS-Molekül ähnelt dem

der DNA, aber es ist wesentlich kürzer und formt nur eine einfache Spirale. Es bildet sich unter dem Einfluss von Enzymen wie ein Abdruck an den zerbrochenen Sprossen eines DNA-Leiter-Abschnitts. Jeweils drei aufeinander folgende Glieder des RNS-Moleküls (Triplets) codieren eine Aminosäure (Marshall Nirenberg, 1963). „Interpunktionen“ markieren Anfang und Ende eines Schrittes. Nach diesem Programm bildet sich schließlich in den Ribosomen die Aminosäuresequenz eines Proteins. Julius T. Fraser assoziierte damit die Transkription in der Musik. Douglas R. Hofstadter wählte ein ähnliches Bild: Er verglich das Ribosom mit dem Tonkopf eines Tonbandgerätes und den RNS-Strang mit dem Tonband: Magnetspuren, Töne und Musik entsprechen also Nukleotidbasen-Code, Aminosäuren und Proteinen.

Ribosome bestehen aus Proteinen und erzeugen Proteine. Was war zuerst? Bestimmte Enzyme steuern die Proteinsynthese. Dabei kopieren sie u. a. auch die Gene, die das Programm ihrer eigenen Synthese enthalten. Ein Programm reproduziert sich selbst. Ist das nicht eine „seltsame Schleife“ wie Maurits Cornelius Eschers Lithographie „Zeichnen“ aus dem Jahr 1948, auf der zwei Hände zu sehen sind, die sich gegenseitig zeichnen?

Wie gesagt: Die Struktur eines DNA-Abschnitts codiert ein RNS-Molekül. Wenn wir aus den Buchstaben des DNA-Codes Wörter mit jeweils drei Buchstaben bilden, lesen wir Folgen von Aminosäuren ab. Auf der nächst höheren Betrachtungsebene stoßen wir auf Gene bzw. Proteine. „Zur Zeit ist das die höchste Ebene, auf der wir die DNA verstehen können. Indessen gibt es mit Sicherheit höhere Bedeutungsebenen der DNA, die schwieriger zu erkennen sind.“ (Douglas R. Hofstadter)

Viren, Bakterien

Die Aufhellung dieser Strukturen und Vorgänge ging mit der Erforschung der Viren einher. Um die Jahrhundertwende hatten Biologen und Mediziner begonnen, zwischen Viren und Bakterien zu differenzieren. Bei den Bakterien handelt es sich um 200 bis 20 000 Nanometer große einzellige Organismen, bei den Viren um 20 bis 300 Nanometer große DNA-Moleküle mit oder ohne Proteinhülle. Wendell M. Stanley gelang es 1935, ein erstes Virus zu isolieren: den Erreger einer Virose der Tabakpflanze, das 300 Nanometer lange Tabakmosaikvirus.

Da Viren weder über einen eigenen Stoffwechsel zur Energiegewinnung verfügen noch dazu fähig sind, sich eigenständig zu vermehren, stellen sie Grenzformen des Lebens dar. Wenn ein Virus sein DNA-Molekül in eine Zelle injiziert, verändert sich deren Programm, und sie produziert zum Beispiel neue Viren. 1957 bemerkten der Brite Alick Isaacs und der Schweizer Jean Lindemann, dass tierische und menschliche Organismen bei einer Virusinfektion bestimmte Proteine – Interferone – bilden, um gesunde Zellen vor einem Virusbefall zu schützen.

Genetischer Fingerabdruck

Wie eine Person anhand von DNA-Merkmalen – aufgrund ihres „genetischen Fingerabdrucks“ – identifiziert werden kann, fand Alec Jeffrey 1984 heraus. Für die Verbesserung der Methode erhielt Kary B. Mullis 1993 den Chemie-Nobelpreis.

Beim genetischen Fingerabdruck werden Körperzellen aus Speichel, Schweiß, Blut, Sperma, Haaren oder Hautschuppen am Tatort und Speichelproben potenzieller Täter untersucht. Dazu vervielfältigt man im Labor acht bestimmte DNA-Abschnitte, die nicht zum Genom gehören und keine Rückschlüsse zum Beispiel auf das Aussehen oder Erbkrankheiten der Person ermöglichen. Die durch Elektrophorese erzeugte und in einen Zifferncode übersetzbare Verteilung des aufbereiteten DNA-Materials ist für jedes Individuum einmalig. Wenn also das Ergebnis einer Speichelprobe mit dem eines am Tatort gefundenen Bluttropfen übereinstimmt, kann man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (1 : 7 Milliarden) davon ausgehen, dass es sich in beiden Fällen um ein und dieselbe Person handelt.

Ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs bestätigte 1990 die Zulässigkeit der DNA-Analyse als Beweis vor Gericht. Allerdings darf die DNA bisher lediglich zur Feststellung des Geschlechts und der Identität analysiert werden. Verboten ist die Ermittlung beispielsweise der Haar- und Augenfarbe oder der Herkunft („Racial Profiling“). Seit 1998 führt das Bundeskriminalamt eine Datei mit genetischen Fingerabdrücken. Im September 2016 enthielt sie 1 162 304 Datensätze.

Biogenetik, DNA-Analyse, Gentechnik

Dem amerikanischen Biochemiker Arthur Kornberg, der 1959 für die Aufklärung der biologischen RNS-Synthese den Nobelpreis für Medizin erhielt, war es 1956 gelungen, aus Kolibakterien ein Enzym zu isolieren, mit dem im Labor funktionsfähige Gene synthetisiert werden können.

Der Schweizer Mikrobiologe Werner Arber sowie seine beiden amerikanischen Kollegen Daniel Nathans und Hamilton O. Smith wurden 1978 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet, und zwar für die Entdeckung der Restriktionsenzyme. Dabei handelt es sich um von Bakterien gebildete Enzyme, die DNA-Ketten an definierten Stellen spalten. In der Natur verteidigen sich Bakterien damit gegen fremde Programme. Mikrobiologen verwenden Restriktionsenzyme in der Gentechnik, etwa um aus einer DNA-Leiter ein Teilstück herauszutrennen. Kolibaktierien, die der amerikanische Biochemiker Paul Berg mit fremden DNA-Stücken „impfte“, produzierten artfremde Proteine und vererbten die neue genetische Programmierung auch weiter. Damit begann die Gentechnologie, die sich mit der gezielten Veränderung und Neukombination genetischer Anlagen beschäftigt.

1976 wurde in San Francisco erstmals eine Gentechnologie-Firma gegründet: Genentech Inc. Das erste Patent für ein Lebewesen erhielt im März 1978 in den USA die Firma General Electric für genmanipulierte ölfressende Bakterien. Den ersten kommerziellen Erfolg auf dem Gebiet der Gentechnologie erzielte 1983 ebenfalls ein kalifornisches Unternehmen: Dem Mikrobiologen Howard Goodman und dessen Forscherteam – dem auch der Deutsche Alex Ullrich angehörte – war es 1977 gelungen, die Insulin-Produktion steuernde Gene von Ratten auf Kolibakterien zu übertragen. Sechs Jahre später begann die Massenproduktion des Wirkstoffes durch genetisch umfunktionierte Bakterien.

In München wurde 1986 mit der Züchtung transgener Schweine begonnen, die weniger anfällig gegen Infektionen und robuster gegen Stress sein sollten. Das Europäische Patentamt in München erteilte 1992 das erste Patent für ein transgenes Säugetier, und das Deutsche Patentamt folgte im Januar 1995. Am 15. April 1993 genehmigte das Bundesgesundheitsministerium erstmals Freilandversuche des Berliner Instituts für Genbiologische Forschung mit genmanipulierten Pflanzen. Als erste transgene Nutzpflanzen brachte die kalifornische Firma Calgene 1994 gegen Unkrautvernichtungsmittel resistente Baumwollsamen auf den Markt und eine Tomate, die sonnenreif gepflückt werden konnte und auch nach drei Wochen noch frisch aussah.

Befürworter der Gentechnologie verheißen die Heilung bisher unheilbarer Krankheiten, die Züchtung nachwachsender Rohstoffe und ein Ende des Hungers in der Dritten Welt. Ihre Gegner befürchten, dass sich Veränderungen genetischer Anlagen ebensowenig kontrollieren lassen wie deren unbeabsichtigte Ausbreitung.

Literatur über Genetik

  • Juliette Irmer und Ulrike Siedel: Großes Handbuch Genetik. Grundwissen, Formeln, Gesetze (2004)
Anja Snellman - Zeit der Haut
Die 84 Kapitel von "Zeit der Haut" sind nicht chronologisch, sondern assoziativ angeordnet. Es handelt sich um einen ernsten, aber unpathetischen Roman in einer unverblümten, spröden und doch sehr sensiblen Sprache.
Zeit der Haut

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.