Die Fremde

Die Fremde

Die Fremde

Originaltitel: Die Fremde – Regie: Feo Aladag – Drehbuch: Feo Aladag – Kamera: Judith Kaufmann – Schnitt: Andrea Mertens – Musik: Stéphane Moucha, Max Richter – Darsteller: Sibel Kekilli, Nizam Schiller, Derya Alabora, Settar Tanriogen, Serhad Can, Almila Bagriacik, Tamer Yigit, Alwara Höfels, Florian Lukas, Blanca Apilanez Fernandez, Mustafa Jouni u.a. – 2010; 115 Minuten

Inhaltsangabe

Die in Deutschland geborene Türkin Umay verlässt ihren Mann in Istanbul, der ihr gewaltsam seinen Willen aufzwingt und sucht Zuflucht bei ihrer Familie in Berlin. Sie glaubt, es sei möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und von der Familie akzeptiert zu werden. Aber da täuscht sie sich: Der patriarchalische Vater Kader liebt sie, hält es jedoch für seine Pflicht, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen ...
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Kritik

Feo Aladag stellt die Konflikte in "Die Fremde" differenziert und nachvollziehbar dar. Simple Schuldzuweisungen vermeidet sie. Getragen wird die Tragödie von einer schauspielerischen Glanzleistung der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli.
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Umay (Sibel Kekilli) wurde als Kind türkischer Einwanderer in Berlin geboren. Inzwischen lebt die 25-Jährige mit ihrem Ehemann Kemal (Ufuk Bayraktar) und ihrem kleinen Sohn Cem (Nizam Schiller) in der Großfamilie ihrer Schwiegereltern am Rand von Istanbul. Weil Kemal ihr im Bett und auch sonst seinen Willen aufzwingt, sie und das Kind einsperrt und schlägt, unterzieht sie sich einer Abtreibung, als sie wieder schwanger ist. Ohne sich von Kemal und seiner Familie zu verabschieden, kehrt sie nach Berlin zurück, wo ihre Eltern Kader (Settar Tanriögen) und Halime (Derya Alabora), der ältere Bruder Acar (Serhad Can), der jüngere Bruder Mehmet (Tamer Yigit) und die Schwester Rana (Almila Bagriacik) wohnen.

Bis auf Acar freuen sich alle zunächst über den unerwarteten Besuch, aber als Umay sagt, sie habe sich von ihrem Mann getrennt, schlägt die Stimmung um, denn eine Frau, die ihren Mann verlässt, bringt Schande über die Familie, und ein ohne Vater aufwachsendes Kind gilt als Bastard. Kader verlangt, dass sie zu ihrem Mann zurückkehrt, aber Umay weigert sich. Als sie ihren türkischen Pass verbrennt, ohrfeigt die Mutter sie.

Atife (Alwara Höfels), mit der Umay schon als Kind befreundet war, vermittelt ihr eine Anstellung als Küchenhilfe in einem großen türkischen Restaurant, in dem sie selbst beschäftigt ist.

Kader telefoniert mit Kemal, um die Verhältnisse wieder in Ordnung zu bringen. Der will zwar die „Deutschländer-Hure“ nicht zurück, verlangt aber, dass Cem zu ihm nach Istanbul geschickt wird. Zufällig belauscht Umay ein Telefongespräch ihres älteren Bruders und erfährt von dem Plan, ihr Cem wegzunehmen. Um das zu verhindern, will sie sich noch in derselben Nacht mit Cem aus der Wohnung schleichen. Aber die Türe ist zugesperrt. Den Schlüssel hat vermutlich Kader. Kurz entschlossen ruft Umay die Polizei an, lässt sich von zwei Beamten (Thomas Wehling, Volker Littwin) befreien und in ein Frauenhaus bringen.

Nach ein paar Tagen passt Umay ihren jüngeren Bruder auf der Straße ab und gibt ihm einen Brief für die Mutter mit. Acar findet den Brief, bevor die Mutter ihn bekommt, und zerreißt ihn.

Bei einem heimlichen Treffen mit der Mutter in einem Park erfährt Umay, dass die Familie von Ranas Verlobtem Duran (Marlon Pulat) das Eheversprechen zurückziehen will, weil in der türkischen Gemeinde in Kreuzberg wegen Umay schlecht über die Familie der Braut geredet wird. Eine Absage der geplanten Hochzeit wäre eine Katastrophe, denn Rana ist schwanger. Kader Aslan kann das Schlimmste verhindern, indem er Durans Vater einen Umschlag mit Geld zusteckt und das Brautgeld deutlich erhöht. Das fällt dem Fabrikarbeiter nicht leicht.

Bei einem Kneipenbesuch wird Mehmet wegen seiner Schwester angepöbelt. Acar verteidigt ihn und wird zusammengeschlagen.

Nachdem Acar herausgefunden hat, wo Umay sich aufhält, wirft er mit ein paar anderen Kerlen Steine in die Fenster des Frauenhauses und rüttelt an der Türe, bis die Sirene eines Streifenwagens zu hören ist.

Weil Umay sich im Frauenhaus nicht mehr sicher fühlt, zieht sie mit Cem vorübergehend zu Atife.

Obwohl sie zur Hochzeitsfeier ihrer Schwester nicht eingeladen ist, geht sie mit Cem hin. Kader beauftragt seinen jüngeren Sohn, sie hinauszuwerfen. Mehmet beschuldigt seine Schwester, alles kaputt gemacht zu haben. Vergeblich erinnert sie ihn daran, dass sie ihm die Windeln wechselte und der Mutter dabei half, ihn großzuziehen. Er ohrfeigt sie und lässt sie stehen.

Umay geht noch einmal hinein, durch die Tische hindurch zur Bühne, nimmt das Mikrofon und versucht den Anwesenden schluchzend zu erklären, dass sie keine Schande über ihre Familie habe bringen wollen. Acar reißt sie von der Bühne herunter, zerrt sie hinaus und schleudert sie zu Boden.

Zuflucht sucht sie mit Cem bei dem Hilfskoch Stipe (Florian Lukas), der sie schon einmal zum Essen einlud und ihr zeigt, dass er sie mag.

Umays Chefin, die angesehene Restaurantbesitzerin Gül (Nursel Köse), versucht zwischen ihr und den Eltern zu vermitteln. Sie deutet respektvoll an, dass Kader auch für seine beiden Söhne verantwortlich sei und verhindern müsse, dass sie sich durch Übergriffe gegen ihre Schwester strafbar machen.

Umay mietet eine eigene Wohnung für sich und Cem und will mit Stipe zusammen ein neues Leben anfangen. Um studieren zu können, beabsichtigt sie, das Abitur nachzuholen. Zugleich sehnt sie sich nach ihrer Familie und versucht immer wieder, eine Versöhnung herbeizuführen. Aber ihre Mutter legt auf, wenn Umay anruft. Und als Umay ihrem Vater zum Zuckerfest gratuliert, sagt er, sie habe ihm das Herz gebrochen und schließt die Türe.

Acar versucht das Kind zu entführen. Er rennt mit Cem auf dem Arm zu einem Auto, in dem Kader und Halime warten. Umay läuft ihm schreiend nach. Kader hält Acar davon ab, Umay gewaltsam von ihrem Sohn zu trennen. „So funktioniert das nicht“, ruft er.

Stipe wäre bereit, Umay zu heiraten, und als sie ankündigt, aus Berlin wegzuziehen, will er mitkommen.

Kader reist allein in die Türkei und fragt seinen alten Vater um Rat. Zurück in Berlin, bespricht er sich mit den beiden Söhnen. Offenbar planen sie einen „Ehrenmord“. Kurz darauf erleidet er einen Herzanfall und wird ins Krankenhaus gebracht. Dort besucht ihn Umay. Sie beteuert, dass sie ihm nie habe weh tun wollen und dass sie ihn liebe. Er bittet sie schmerzerfüllt um Verzeihung und bittet sie, zu gehen.


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überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Auf der Straße fragt Mehmet sie, ob er sie und Cem ein Stück begleiten dürfe. Umay freut sich darüber. Plötzlich bleibt Mehmet stehen und richtet eine Pistole auf sie. Er bringt es jedoch nicht fertig, sie zu erschießen, lässt die Waffe fallen und rennt weg. Umay bleibt wie erstarrt stehen. Cem hebt die Pistole auf und spielt damit. Erst nach einer Weile sieht Umay, was er tut. Sie nimmt ihn auf den Arm. Da taucht Acar auf und sticht mit einem Messer zu. Weil Umay sich in diesem Augenblick umdreht, trifft er nicht sie, sondern das Kind. Cem stirbt in den Armen seiner Mutter.

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Die in Deutschland geborene Türkin Umay verlässt ihren Mann in Istanbul, der ihr gewaltsam seinen Willen aufzwingt und sucht Zuflucht bei ihrer Familie in Berlin. Sie glaubt, es sei möglich, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und von der Familie akzeptiert zu werden. Aber da täuscht sie sich: Der patriarchalische Vater Kader liebt sie, hält es jedoch für seine Pflicht, die Familienehre wiederherzustellen und beauftragt die beiden Söhne mit einem „Ehrenmord“. Die gesellschaftlichen Konventionen scheinen wichtiger zu sein als das Schicksal eines Menschen. Das erinnert an Theodor Fontanes Roman „Effie Briest“.

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Feo Aladag stellt diese subjektiven Zwänge in „Die Fremde“ differenziert und plausibel dar. Bei ihrer Bemühung, die Konflikte nachvollziehbar zu machen, nimmt sie Längen in Kauf. Sie vermeidet simple Schuldzuweisungen. Die Täter sind hier keine fanatischen Islamisten, sondern Alltagsmenschen in traditionellen patriarchalischen Strukturen. Bis auf Acar, der zu eindimensional geraten ist, handelt es sich um Charaktere, die durch Konflikte innerlich zerrissen werden. Dabei wird auch deutlich, wie fragwürdig das hier entscheidende Verständnis von Ehre ist. Einen Ausweg zeigt Feo Aladag nicht auf. „Die Fremde“ ist weniger ein sozialkritischer Film als eine Tragödie.

In langen Passagen lässt Feo Aladag die Figuren türkisch sprechen. Das unterstreicht wohl den Clash of Cultures, bedeutet aber auch, dass man als Zuschauer durch das Lesen von Untertiteln abgelenkt wird.

Settar Tanriögen stellt den mit sich ringenden Vater glaubwürdig und eindrucksvoll dar. Getragen wird „Die Fremde“ von der schauspielerischen Glanzleistung der Hauptdarstellerin Sibel Kekilli. Sie verkörpert die standhafte und verletzliche, mutige und verzweifelte Tochter, die um die Liebe der Familie ringt, ohne sich selbst aufzugeben. Die breite Palette von psychischen Situationen, in die Umay gerät, stellt eine außergewöhnliche Herausforderung dar, die von Sibel Kekilli überzeugend gemeistert wird.

„Die Fremde“ ist das Regiedebüt von Feo Aladag (* 1972). Ihr Ehemann war von 2002 bis 2012 der Regisseur Züli Aladag.

Die Filmförderung des Bundes vergab für „Die Fremde“ 2007 die höchstmögliche Förderung: 250 000 Euro.

Die Dreharbeiten fanden im Sommer 2008 statt.

Bei der 60. Verleihung des Deutschen Filmpreises „Lola“ am 23. April 2010 erhielt „Die Fremde“ einen Filmpreis in Bronze, und Sibel Kekilli wurde als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. „Die Fremde“ wurde auch 2011 als deutscher Beitrag in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für einen „Oscar“ nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

„Ehrenmord“

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"Über das Schreiben" ist nicht nur lehrreich, sondern auch leicht zu lesen, weil Sol Stein immer wieder szenische Darstellungen einstreut. Mit Abstand das Beste, was ich zu diesem Thema kenne!
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