Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Originaltitel: La tourneuse de pages – Regie: Denis Dercourt – Drehbuch: Denis Dercourt, Jacques Sotty – Kamera: Jérôme Peyrebrune – Schnitt: François Gédigier – Musik: Jérôme Lemonnier – Darsteller: Catherine Frot, Déborah François, Pascal Greggory, Xavier De Guillebon, Christine Citti, Clotilde Mollet, Jacques Bonnaffé, Antoine Martynciow, Julie Richalet, Martine Chevallier u.a. – 2006; 85 Minuten

Inhaltsangabe

Mélanie Prouvost, die zehnjährige Tochter eines Pariser Metzgers, träumt von einer Karriere als Pianistin. Trotz ihres hervorragenden Könnens scheitert sie bei der Aufnahmeprüfung am Konservatorium, weil sie durch Ariane Fouchécourt, die das Prüfungskomitee leitet, abgelenkt wird. – Zehn Jahre später erschleicht Mélanie sich als Hausangestellte das Vertrauen der Familie Fouchécourt und macht sich als "Mädchen, das die Seiten umblättert" für die berühmte Konzertpianistin unentbehrlich ...
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Kritik

In "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" gibt es weder äußere Gewalt noch Horror- oder Schockeffekte. Es handelt sich um eine linear erzählte, zurückhaltend und unterkühlt inszenierte Elegie mit zwei überzeugenden Hauptdarstellerinnen.
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Mélanie Prouvost (Julie Richalet), die zehnjährige Tochter eines Pariser Metzgers (Jacques Bonnaffé) und dessen Ehefrau (Christine Citti), spielt hervorragend Klavier und träumt von einer Karriere als Pianistin. Wochenlang übt sie für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium. Die Prüfungskommission ist zunächst von ihrem Können am Flügel sehr beeindruckt, doch als die Konzertpianistin Ariane Fouchécourt (Catherine Frot), die den Ausschuss leitet, mit einer Bewunderin flüstert und ihr ein Autogramm gibt, wird Mélanie abgelenkt und macht daraufhin einen Fehler nach dem anderen. Ohne ein Wort zu sagen, die Tränen mühsam unterdrückend, verlässt Mélanie den Saal. Sie weiß, dass sie die Prüfung nicht bestanden hat und gibt dafür Ariane Fouchécourt die Schuld. In stiller Wut schlägt sie bei einem anderen Mädchen, das sich für die Prüfung einspielt, den Klavierdeckel zu.

Zu Hause packt sie ihre kleine Beethoven-Büste ein und sperrt das Klavier ab.

Zehn Jahre später bewirbt Mélanie Prouvost (ab jetzt: Déborah François) sich erfolgreich für ein Praktikum in der Kanzlei des angesehenen Rechtsanwalts Jean Fouchécourt (Pascal Greggory). Sie arbeitet sich rasch ein und bleibt auch abends länger im Büro. Als sie von ihrer Kollegin Jacqueline Onfray (Martine Chevallier) erfährt, dass der Maître für die Ferienzeit eine Vertretung seiner Hausangestellten sucht, erklärt sie ihm, sie würde das gern übernehmen, und Fouchécourt nimmt das Angebot an.

Seine Frau bereitet sich zusammen mit der Geigerin Virginie Galtier (Clotilde Mollet) und dem Cellisten Laurent Galtier (Xavier De Guillebon) auf ein wichtiges Konzert vor. Da sie seit einem von ihr unverschuldeten Autounfall sehr labil ist, möchte Fouchécourt nicht, dass sie sich während der Ferien des Dienst- und Kindermädchens um den Haushalt kümmern muss. Das Ehepaar lebt mit seinem kleinen Sohn Tristan (Antoine Martynciow) in einem Herrenhaus vierzig Kilometer außerhalb von Paris und stellt Mélanie eine Dachkammer zur Verfügung.

Ariane Fouchécourt ahnt nicht, dass sie Mélanie schon einmal gesehen hat. Das stille, freundliche Mädchen arbeitet zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Als Ariane herausfindet, dass Mélanie Noten lesen kann, bittet sie die Zwanzigjährige, ihr beim Üben die Seiten umzublättern. Nicht nur durch den Schock des Unfalls, sondern auch durch den dauernden Erfolgsdruck ist Ariane zu einem ängstlichen und von Lampenfieber geplagten Nervenbündel geworden, doch wenn Mélanie an ihrer Seite sitzt, fühlt sie sich sicherer. Das macht sie emotional abhängig von der jungen Frau, die alles daran setzt, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Das bevorstehende Konzert ist für das Trio entscheidend, weil der Agent an den Musikern zweifelt und ihnen mit dem Auftritt eine letzte Chance gibt. Durch die Anwesenheit Mélanies beruhigt, spielt Ariane so gut wie schon lange nicht mehr, und das Konzert wird ein voller Erfolg. Während Ariane gefeiert wird, achtet niemand auf das Mädchen, das die Seiten umgeblättert hat. Mélanie geht hinaus, aber Ariane sucht nach ihr – und die junge Frau küsst die Pianistin in den Mundwinkel.

Während Jean Fouchécourt einige Wochen geschäftlich unterwegs ist, spornt Mélanie seinen Sohn Tristan an, ein schwieriges Musikstück einzuüben und dabei das Metronom von Tag zu Tag schneller zu stellen. Um seinen Vater bei dessen Rückkehr damit überraschen zu können, redet sie ihm ein, dass auch Ariane nichts von dem Vorhaben erfahren dürfe. Mélanie will, dass Tristan das Klavierspielen wegen einer Sehnenscheidenentzündung aufgeben muss, und als er nach einiger Zeit – wie erwartet – über Schmerzen in den Armen klagt, drängt sie ihn, trotzdem weiter zu üben.

Im hauseigenen Hallenbad sieht Ariane das Mädchen, das die Seiten umblättert, im Bikini, und das erregt sie. Auch Laurent sind Mélanies Rundungen aufgefallen: Unter dem Vorwand, ihr etwas in den Notenblättern zeigen zu wollen, stellt er sich hinter sie und begrabscht ihre Brüste. Da packt Mélanie sein Cello und stößt ihm den Stachel des Instruments in den Fuß. Um den wahren Hergang zu vertuschen, behauptet Laurent im Krankenhaus, das Cello sei ihm aus der Hand gerutscht. Seine Frau Virginie kann sich das kaum vorstellen. Sie warnt ihre Freundin aus einem vagen Gefühl heraus vor dem fremden Mädchen, aber Ariane vertraut Mélanie.

Fürs nächste Konzert kauft Ariane ihr ein passendes Abendkleid. Bei der Anprobe lässt Mélanie den Vorhang gerade so weit offen, dass Ariane eine ihrer Brüste sehen kann.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Unmittelbar vor dem Konzert, mit dem ein amerikanischer Musikproduzent gewonnen werden soll, verschwindet Mélanie. Verzweifelt sucht Ariane nach ihr. Sie muss sich schließlich damit abfinden, dass eine Assistentin des Agenten als Umblätterin einspringt – aber sie kann sich nicht konzentrieren und spielt so schlecht, dass der Amerikaner den Saal vorzeitig verlässt. Der Agent ist deshalb nicht länger bereit, das Trio zu vertreten.

Niedergeschlagen geht Ariane zu ihrem Wagen. Auf dem Parkplatz wartet Mélanie auf sie und steigt wortlos zu ihr ins Auto. „Es tut mir leid“, sagt sie. Die Pianistin nimmt ihre Hand und küsst sie.

Die lesbischen Gefühle verwirren Ariane. Sie befürchtet, dass Jean etwas davon erfährt und sich von ihr trennt.

An dem Tag, an dem Fouchécourt zurückerwartet wird, endet Mélanies Vertrag. Ariane will sie nach dem Frühstück zum Bahnhof fahren.

Bei einem Abschiedsessen am Vorabend bittet Mélanie die berühmte Pianistin um ein Autogramm. Ariane schreibt auf die Rückseite des Fotos eine Liebeserklärung und schiebt die Karte unter der Tür von Mélanies Kammer durch.

Im Morgengrauen legt Mélanie die Autogrammkarte auf den Schreibtisch in Fouchécourts Arbeitszimmer und verlässt mit ihrem Koffer das Haus, bevor Ariane und Tristan aufstehen.

Als Jean Fouchécourt nach Hause kommt, spielt Tristan sich trotz der Schmerzen am Flügel ein, um seinen Vater mit dem schwierigen Stück zu überraschen. Währenddessen sieht Ariane, dass ihr Mann die Autogrammkarte mit ihrer Liebeserklärung für Mélanie in der Hand hat – und bricht ohnmächtig zusammen.

Warum Mélanie sowohl ihre Ehe als auch ihre Karriere zerstört hat, weiß Ariane nicht.

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Dass hinter großbürgerlichen Fassaden Abgründe klaffen und eine Frau Böses tut, erinnert an Claude Chabrol, aber es geht in „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ nicht um Gesellschaftskritik, sondern um die Zerstörung eines Lebensentwurfs durch eine Respektlosigkeit. Mélanie, die als Zehnjährige ihren Traum von einer Karriere als Konzertpianistin aufgeben muss, rächt sich zehn Jahre später an der Frau, der sie die Schuld dafür gibt. Eine scheinbar liebenswürdige junge Frau, die sich in das Vertrauen einer Familie schleicht, um einen obsessiven Racheplan ausführen zu können, steht auch im Mittelpunkt des Psychothrillers „Die Hand an der Wiege“, aber in „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ fließt kein Tropfen Blut, es gibt weder äußere Gewalt noch Horror- oder Schockeffekte. Denis Dercourt lockt die Zuschauer nicht einmal auf falsche Fährten, sondern erzählt linear und stringent. Suspense entsteht gerade weil wir wissen, was Mélanie vorhat. „Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ ist eine zurückhaltend und unterkühlt inszenierte Elegie, in der Spannung und Entspannung wie in einem Musikstück wechseln.

„Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ paart Einfachheit mit Vielschichtigkeit, bleibt in der Schwebe zwischen Psychothriller und leisem Drama.
(Anke Sterneborg, Süddeutsche Zeitung, 4. Mai 2007)

Die Kamera konzentriert sich auf die Mimik und Gestik der beiden Hauptfiguren, die von Déborah François und Catherine Frot subtil und nuancenreich dargestellt werden.

[Déborah François] beherrscht die Mimik ihres Gesichts so präzise wie andere ein Instrument. Hinter der reglosen Maske, hinter ihrem eindringlich beobachtenden Blick, dem Anflug eines spöttischen Lächelns ahnt man wahre Abgründe. (Anke Sterneborg, a.a.O.)

Die belgische Schauspielerin Déborah François, die als Gymnastiastin von Jean Pierre und Luc Dardenne entdeckt wurde („L’enfant“), war am 24. Mai 1987 als eines von drei Kindern eines Polizisten und einer Sozialarbeiterin in Lüttich auf die Welt gekommen.

„Das Mädchen, das die Seiten umblättert“ ist der erste Kinofilm des Musikers Denis Dercourt (* 1964), der seit 1995 am Konservatorium in Straßburg unterrichtet und zuvor als Solobratschist dem Orchestre Symphonique Français angehört hatte.

Julie Richalet, Antoine Martynciow, Catherine Frot, Clotilde Mollet und Xavier De Guillebon musizieren übrigens selbst am Klavier, auf der Geige bzw. dem Cello.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009

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In seiner Autobiografie "Der Wendepunkt", die zugleich ein zeitgeschichtliches Panorama darstellt, brilliert Klaus Mann u. a. mit prägnanten Porträts berühmter Zeitgenossen. Esprit und geschliffene Formulierungen lassen den Text funkeln.
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