Felicia, mein Engel
Inhaltsangabe
Kritik
Die siebzehnjährige Irin Felicia (Elaine Cassidy), die im Alter von vier Jahren ihre Mutter verlor, wird von ihrem nationalistisch denkenden Vater (Gerard McScorley) gewarnt: Sie dürfe sich nicht länger mit Johnny Lysaght (Peter McDonald) treffen. Der sei kein guter Umgang für sie, zumal es Gerüchte darüber gebe, dass er zur britischen Armee gehen wolle. Felicia aber hält zu ihrem Freund und glaubt ihm, als er ihr ankündigt, nach England zu ziehen, um dort in einer Rasenmäherfabrik bei Birmingham Arbeit zu finden. Gleich nach der Ankunft will er ihr seine Adresse schicken.
Felicia hört nichts mehr von ihm, und Johnnys Mutter (Brid Brennan) weigert sich, ihr die Adresse zu geben. Felicias Briefe an ihren Sohn wirft Mrs Lysaght ins Kaminfeuer.
Nachdem Felicia festgestellt hat, dass sie schwanger ist, verlässt sie heimlich ihr Elternhaus und reist nach Birmingham, um Johnny zu suchen. Trotz seiner Untreue liebt sie ihn noch immer, und sie glaubt, sich nur mit ihm zusammen jemals wieder in ihrem irischen Dorf sehen lassen zu können.
Man schickt sie von einer Adresse zur anderen, aber nirgendwo findet sie eine Spur von Johnny. Mehrmals begegnet ihr ein freundlicher Mitvierziger, Joseph Ambrose Hilditch (Bob Hoskins) und gibt ihr zuvorkommend gute Tipps für die Suche nach ihrem Freund und eine preiswerte Übernachtung in einem Quartier mit Bed & Breakfast.
Mr Hilditch ist der Chef einer Werkskantine. „Essen muss von einer liebevollen Hand serviert werden, nicht von einem Automaten“, meint er. Zu Hause sieht er sich ständig Aufzeichnungen von Kochsendungen seiner verstorbenen Mutter Gala (Arsinée Khanjian) an, die in den Fünfzigerjahren eine Fernsehköchin war. Entweder steht er dabei in der professionell eingerichteten Küche seines Hauses und kocht nach den Anweisungen oder er verfolgt das Video mit einem Opernglas von seinem riesigen Esstisch aus. Als Kind durfte er seiner Mutter bei den Kochsendungen hin und wieder assistieren. In einer der Aufzeichnungen ist zu sehen, wie sie ihm zur Strafe für einen missglückten Handgriff ein Stück rohe Leber in den Mund stopfte. Anschließend erbrach er sich.
In seinem herrschaftlichen Elternhaus, das er noch immer bewohnt, hat Mr Hilditch Regale voller Schachteln, die alle mit einem Foto seiner Mutter beklebt sind. Einige davon enthalten Filme, auf denen junge Mädchen zu sehen und zu hören sind, die sich mit ihm unterhalten.
Am nächsten Morgen passt Mr Hilditch Felicia erneut ab und schlägt vor, sie zu einer 50 Meilen entfernten Fabrik zu fahren. Er müsse ohnehin in die Gegend, um seine schwerkranke Ehefrau Ada zu besuchen, die dort im Krankenhaus liege.
Während Felicia in der von Mr Hilditch ausgesuchten Fabrik nach Johnny fragt, bleibt er hinter dem Steuer sitzen, durchsucht ihren Rucksack und steckt das Geldbündel ein, das zwischen ihrer Kleidung versteckt war. Dabei erinnert er sich an seine Kindheit, sieht sich als pummeliger, tollpatschiger Junge, der während der Filmaufnahmen seiner Mutter in einem Kräutergarten ein Portemonnaie findet, das Geld herausnimmt und die Geldbörse verscharrt.
Nachdem Felicia enttäuscht zurückgekommen ist, fährt er mit ihr zu einem Krankenhaus in der Nähe, bittet sie im Auto zu warten und tut so, als besuche er seine Frau. Auf dem Korridor überfallen ihn Erinnerungen an junge Mädchen, denen er offenbar geholfen hatte, die dann aber von ihm weg wollten und sich vor ihm fürchteten. Als Felicia seine aufgewühlte Mimik sieht, befürchtet sie, dass es seiner Frau nicht gut geht, und er bestätigt, unter Schock zu stehen, weil Ada um 5 Uhr morgens plötzlich operiert werden musste.
Sie fahren zurück. Unterwegs sagt er: „Ich bin froh, dass Sie ein Kind bekommen, Felicia.“ Und als er ihre Verwunderung bemerkt, fügt er hinzu: „Ein anderes Leben entsteht. Ada verlässt uns und gleichzeitig sind Sie hier, und Ada hat sich Sorgen um Sie gemacht, als ich ihr von Ihnen erzählt habe.“ Nach dem Aussteigen bedankt Felicia sich unvermittelt und läuft weg.
Zufällig begegnet sie einer schwarzen, aus Jamaika stammenden Predigerin. Miss Calligary (Claire Benedict) lädt Felicia ein, mit ins Stammhaus der Sekte zu kommen und dort kostenlos zu übernachten. Beim Auspacken ihres Rucksacks merkt Felicia, dass ihr Geld fehlt. Sie unterrichtet Miss Calligary darüber. Die nimmt an, Felicia beschuldige zu Unrecht jemand im Stammhaus, das Geld gestohlen zu haben, regt sich schrecklich über das undankbare Mädchen auf und jagt sie fort.
Heimlich ruft Mr Hilditch in einer nahen Kasernen an und erkundigt sich nach Johnny Lysaght. Tatsächlich befindet der irische Junge sich dort.
Am Abend kauft Mr Hilditch Frauenkleider, Korsetts, Pumps, Toilettenartikel und verteilt sie in seinem Haus.
Wie von ihm erwartet, steht bald darauf Felicia bei ihm in der Tür. Sie bittet ihn, ihr etwas Geld zu leihen, damit sie nach Hause fahren könne. „Es war ein Fehler, hierher zu kommen.“ Da macht Mr Hilditch ihr neue Hoffnung, indem er von einem Pub erzählt, in dem junge Iren verkehren. Sie fahren zusammen hin. Unerwartet taucht dort Johnny Lysaght auf. Mr Hilditch bemerkt ihn und intensiviert das Gespräch mit Felicia, damit sie sich nicht umdreht. Mit dem Versprechen, dass eine Bürokraft in seiner Firma am folgenden Tag die Personalabteilungen aller in Frage kommenden Firmen anrufen und nach Johnny fragen werde, überredet er Felicia, bei ihm zu übernachten.
Am anderen Morgen, bevor er angeblich zur Beerdigung seiner inzwischen verstorbenen Frau fährt, schärft er Felicia ein, weder das Haus zu verlassen noch das Telefon abzuheben, damit die Nachbarn nicht auf falsche Gedanken kommen.
Vom Büro aus telefoniert Mr Hilditch mit Kliniken in der Umgebung und arrangiert eine ambulante Abtreibung. Am Abend lügt er Felicia vor, das Mädchen im Büro habe vergeblich versucht, Johnny ausfindig zu machen, und er redet so lange auf sie ein, bis sie bereit ist, die Schwangerschaft abbrechen zu lassen.
Nach dem Eingriff fährt er mit ihr nach Hause, legt sie ins Bett und gibt ihr eine Tasse Kakao zu trinken, in dem er eine größere Menge Schlafmittel aufgelöst hat. Während ihr die Augen zufallen, gesteht er ihr, er habe vom ersten Augenblick an väterliche Gefühle für sie gehabt, „anders als bei den anderen“. „Welche anderen?“, fragt Felicia. Mr Hilditch zählt ihr die Namen von Mädchen auf – Elsie, Beth, Sharon, Gaye, Bobbi, Jakki –, bei denen es sich um verirrte Seelen gehandelt habe. Sie seien ihm dankbar gewesen, aber dann hätten sie fort gewollt. „Sie schliefen alle, als es geschah.“ Felicia begreift, dass sie in tödlicher Gefahr ist, aber sie ist zu erschöpft, um aufzustehen und schläft ein, während Mr Hilditch leise „You Are My Special Angel“ von Malcolm Vaughan singt.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Beim Ausheben eines Grabes im Garten findet Mr Hilditch das Portemonnaie, das er als Kind verscharrt hatte. Miss Calligary kommt mit einer jungen Anhängerin ihrer Sekte vorbei. Sie erinnerte sich daran, dass das undankbare irische Mädchen Mr Hilditch als außergewöhnlichem Wohltäter bezeichnet hatte und möchte ihn deshalb in ihre Schar aufnehmen. „Ich habe dem Mädchen das Geld weggenommen, damit sie bei mir bleibt“, gesteht Mr Hilditch verstört. „Ich bin der Dieb. Ich bin manchmal sehr einsam in meinem Haus. Ich bin oft einsam.“ Entsetzt fliehen die beiden Frauen.
Inzwischen ist Felicia erwacht und hat sich zur Haustür geschleppt. Mr Hilditch dreht den Schlüssel um, aber er unternimmt nichts, als Felicia wieder aufsperrt, die Tür öffnet und leise fortgeht.
Er knöpft seine Weste korrekt zu, schlüpft ins Jackett, zieht einen Mantel an – und erhängt sich neben dem Fernsehgerät in der Küche.
Felicia kehrt nach Irland zurück und schreibt Mrs Lysaght: „Ihr Enkel wurde nicht geboren.“ Sie solle ihrem Sohn ausrichten, dass es Felicia gut geht. „Der Schmerz kann fortgespült werden. Die Heilung kann beginnen.“
Über Mr Hilditch denkt sie: „Verirrt im Inneren eines Menschen, der gemordet hatte, befand sich eine Seele wie jede andere. Sicher war sie einmal die Reinheit selbst gewesen.“
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Eine schlanke siebzehnjährige Irin und ein pummeliger fünfundvierzigjähriger Engländer: Auf den ersten Blick haben die beiden wenig gemeinsam. Und doch stellt sich allmählich heraus, dass sie beide von den Schatten ihrer Vergangenheit gequält werden, Einsamkeit und Verzweiflung kennen und sich nach Zuneigung und Geborgenheit sehnen. Felicia ist von der Engstirnigkeit ihrer irischen Heimat geprägt und sucht nach dem Mann, der sie geschwängert hat. Joseph Ambrose Hilditch leidet unter dem Trauma, dass er den Ansprüchen seiner bewunderten Mutter nicht gerecht werden konnte.
Der Film „Felicia, mein Engel“ – die Verfilmung des Romans „Felicias Reise“ von William Trevor – beginnt damit, dass Felicia ihrem bornierten Vater und ihrem irischen Dorf entflieht und in die englische Industrielandschaft um Birmingham kommt, während Mr Hilditch als väterlicher Kantinenchef vorgestellt wird. Die Vorgeschichte der beiden wird in zahlreichen Rückblenden stückchenweise nachgeholt. Obwohl einige Szenen kaum eine Minute lang sind, wirkt der Film nicht zerstückelt, sondern durch assoziative Verknüpfungen entsteht der Eindruck einer fortschreitenden Darstellung.
Obwohl für Atom Egoyan die schrittweise Ausleuchtung der Charaktere der beiden Hauptfiguren im Vordergrund steht und er für diesen Zweck die Geschichte von Mr Hilditchs Mutter zur Romanhandlung hinzufügt, vernachlässigt er nicht den allmählichen Aufbau von Suspense. Immer stärker verdichtet sich die bedrohliche Atmosphäre. Dabei kommt er ganz ohne spektakuläre Effekte und Gewalttaten aus. Und es gelingt ihm, Mitleid nicht nur mit dem verzweifelten Mädchen, sondern auch mit dem tragikomisch wirkenden Serienmörder zu erzeugen.
Als Mr Hilditch über die Treppe hinaufgeht und Felicia eine Tasse Kakao bringt, erinnert das wohl nicht zufällig an die legendäre Szene, in der Johnnie Aysgarth seiner Frau Lina ein Glas Milch ans Bett bringt (Alfred Hitchcock: „Verdacht“, 1941).
Bob Hoskins und vor allem Elaine Cassidy spielen ihre Rollen sehr glaubwürdig und eindrucksvoll.
Der in Kairo geborene Armenier Atom Egoyan wuchs an der kanadischen Westküste auf. 1994 wurde der Regisseur für seinen Film „Exotica“ ausgezeichnet, drei Jahre später erhielt er für „Das süße Jenseits“ u. a. den Großen Preis der Jury von Cannes und wurde für einen „Oscar“ nominiert.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
William Trevor: Felicias Reise
Atom Egoyan (kurze Biografie / Filmografie)
Atom Egoyan: Das süße Jenseits
Atom Egoyan: Wahre Lügen
Atom Egoyan: Chloe