Tore tanzt

Tore tanzt

Tore tanzt

Originaltitel: Tore tanzt – Regie: Katrin Gebbe – Drehbuch: Katrin Gebbe – Kamera: Moritz Schultheiß – Schnitt: Heike Gnida – Musik: Johannes Lehniger, Peter Folk – Darsteller: Julius Feldmeier, Sascha Alexander Gersak, Annika Kuhl, Swantje Kohlhof, Til-Niklas Theinert, Daniel Michel, Nadine Boske, Christian Bergmann, Uwe Dag Berlin, Hartmut Lange, Christoph Jacobi, Katinka Auberger u.a. – 2013; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Tore ist überzeugter "Jesus Freak". Als auf einem Rastplatz ein Auto nicht anspringt, beugt der Junge sich über die Motorhaube und betet. Ungläubig dreht der Fahrer Benno den Zündschlüssel: Der Wagen springt an! Benno, der mit seiner Lebensgefährtin und deren Kindern in einem Schrebergarten haust, nimmt Tore auf. Als Gegenleistung hilft dieser im Haushalt und im Garten, obwohl Benno ihn wie einen Lakaien herumkommandiert. Bald begreift selbst der kleine Dennis, wer nun am unteren Ende der Hackordnung steht. Der sanftmütige Jesus-Jünger wird ein Opfer sadistischer Spiele ...
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Kritik

In dem verstörenden, minimalistisch und realistisch inszenierten Drama "Tore tanzt" beschäftigt Katrin Gebbe sich mit der Dynamik, die ein Gläubiger durch seine Sanftmut in einer verwahrlosten Familie auslöst.

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Tore (Julius Feldmeier) schließt sich den „Jesus Freaks“ in Hamburg an und lässt sich in der Elbe taufen. Als er mit seinem ebenfalls zur Kommune gehörenden Freund Eule (Daniel Michel) unterwegs ist, begegnen sie auf einem Rastplatz einer Familie, deren Pickup nicht anspringt. Tore beugt sich über die Motorhaube und betet zu Jesus um Hilfe. Ungläubig dreht der Fahrer Benno (Sascha Alexander Gersak) den Zündschlüssel: Der Wagen springt an!

Kapitel 1: Glaube

Tore tanzt ekstatisch zu Heavy Metal-Musik, bis er zusammenbricht. Benno hebt ihn auf und nimmt ihn mit in die Schrebergarten-Hütte, die er mit seiner Lebensgefährtin Astrid (Annika Kuhl) und deren Kindern bewohnt. Sanny (Swantje Kohlhof) wird in den nächsten Tagen ihren 15. Geburtstag feiern; Dennis (Til-Niklas Theinert) geht noch nicht zur Schule. Nachdem Tore auf der Couch übernachtet hat, kehrt er am nächsten Tag zu seinem Mitbewohner Eule zurück, aber der ist gerade mit Maithe (Leoni Schulz) beim Vorspiel, obwohl vorehelicher Sex für die Jesus Freaks tabu ist. Enttäuscht kehrt Tore in die Kleingartenanlage zurück und wird von Benno ungeachtet des Einwands von Astrid, dass der Platz nicht reiche, aufgenommen. Zum Schlafen weist Benno dem Jungen ein Zelt zu, und als Gegenleistung hilft Tore sowohl im Haushalt als auch bei den Arbeiten im Schrebergarten. Benno behandelt ihn dabei wie einen Lakaien und kommandiert ihn herum. Als Tore sich die Finger klemmt, dreht Benno sich um und geht kommentarlos weg. Bald begreift selbst der kleine Dennis, wer hier am unteren Ende der Hackordnung steht – und uriniert gegen das Zelt.

Zum 15. Geburtstag schenkt Benno seiner Stieftochter ein Stoffkänguru und wundert sich darüber, dass sie sich dafür zu alt fühlt. Als Tore kurz darauf über das am Boden liegende Plüschtier stolpert, hebt Benno es auf und fragt ihn, was ein Känguru mache. Es boxe, erklärt Benno und schlägt Tore mit der Faust ins Gesicht. Der verlässt daraufhin den Schrebergarten, aber Benno holt ihn zurück.

Kapitel 2: Liebe

Benno hat Astrid und Sanny versprochen, mit ihnen tanzen zu gehen, aber an dem Abend kann er nicht. Astrid geht mit Sanny und Tore allein. Sie ist betrunken, als die Jugendlichen sie nach Hause bringen. Beim Frühstück lügt Astrid und behauptet, sie hätten nur einen Fernsehabend gehabt. Aber Dennis verrät, dass die anderen alle weg waren. Scheinbar ruhig wendet Benno sich daraufhin an Tore und wirft ihm vor, während seiner Abwesenheit nicht auf die Familie aufgepasst zu haben. In einem plötzlichen Zornesausbruch tritt er auf Tore ein.

Der will deshalb zu der Kommune zurück, erfährt jedoch von Eule, dass diese sich aufgelöst hat. Eule, der inzwischen mit Maithe Schluss gemacht hat, will nach Berlin und fordert Tore auf, mitzukommen. Aber der will bleiben, zum einen, weil er sich in Sanny verliebt hat und zum anderen, weil er überzeugt ist, dass die Misshandlungen durch Benno eine ihm von Jesus auferlegte Prüfung sind. „Was können die Menschen mir schon tun“, denkt Tore.

Während Sanny und Tore im Schwimmbecken eines unbewohnten Nachbargartens planschen, küsst die 15-Jährige den Jungen zaghaft, streift ihren BH ab und versucht ihn zu verführen, aber Tore schreckt vor Sex zurück und erklärt ihr, dass sein Glaube vorehelichen Geschlechtsverkehr nicht erlaube.

Nachts kommt Tore ins Bad, als Benno gerade dabei ist, seine weinende Stieftochter zu vergewaltigen. Sanny läuft aus dem Raum. Tore greift zum Telefon, um die Polizei zu rufen, aber Benno hindert ihn daran. Es sei doch gar nichts passiert, meint er.

Am nächsten Tag ertränkt Benno vor Tores Augen einen Kater in der Regentonne. Hilflos muss Tore zusehen, bis er zusammenbricht und in einem epileptischen Anfall zuckend am Boden liegen bleibt. Achselzuckend geht Benno weg, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

Während Tore ein paar Tage später im Auto auf Benno warten muss, lässt er das Radio an. Deshalb springt der Motor wieder nicht mehr an, und dieses Mal hilft auch kein Gebet. Zur Strafe bekommt Tore nichts mehr zu essen. Hungrig wühlt er sich im Abfall etwas Essbares und zieht ein verschimmeltes halbes Hähnchen heraus. Als Benno das bemerkt, zeigt er es Astrid und bezeichnet Tore als Dieb. Während Benno den Jungen festhält, schiebt Astrid ihm das vergammelte Fleisch Stück für Stück in den Mund. Dadurch erkrankt Tore an einer Lebensmittelvergiftung, aber Benno und Astrid bringen ihn nicht ins Krankenhaus.

Sanny, die sich Sorgen um Tore macht, bringt ihn heimlich mit dem Fahrrad in die Stadt und ruft dort von einer Telefonzelle aus den Notarzt. Bevor sie aus sicherer Entfernung das Eintreffen des Krankenwagens beobachtet, rät sie Tore, ihrer sadistischen Familie fernzubleiben.

Kapitel 3: Hoffnung

Im Krankenhaus erkundigt sich der behandelnde Arzt (Christoph Jacobi) nach den unterschiedlich alten Hämatomen. Die habe er vom Fußballspielen, lügt Tore. Eine Krankenschwester (Katinka Auberger) rät Tore, sich freiwillig in die Psychiatrie zu begeben. Stattdessen flieht er aus dem Krankenhaus und geht wieder zur Kleingartenanlage.

Tore wäscht sich nicht mehr. Als sich Cora und Klaus (Nadine Boske, Christian Bergmann), Freunde von Benno und Astrid, über den Geruch beschweren, zwingt Benno den Jungen, sich auszuziehen und spritzt ihn mit dem Gartenschlauch ab. Da hüpft Sanny neben Tore, lässt sich ebenfalls nass spritzen und macht aus der als Demütigung gemeinten Aktion ein Vergnügen. Dadurch verliert Benno das Interesse daran.


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Er bringt Tore von nun an regelmäßig in Guidos (Hartmut Lange) Sexklub für Schwule. Von dem Geld, das Benno dafür bekommt, kauft er einen Flachbildfernseher.

Cora und Klaus kommen zu Besuch. Sie spielen alle zusammen Gesellschaftsspiele. Auch Tore macht mit. Unvermittelt legt Benno sich nebenan auf den Boden, drückt Tore ein Kissen in die Hand und fordert ihn auf, es ihm aufs Gesicht zu pressen. Immer wieder verhöhnt er Tore, weil dieser nicht fest genug zudrückt. Sanny kommt dazu und versucht mit aller Kraft, ihren verhassten Stiefvater zu ersticken. Der befreit sich jedoch und zertrümmert in seiner Wut das neue Fernsehgerät auf Tores Kopf.

Tore habe versucht, ihn zu ermorden, behauptet Benno gegenüber den anderen. Als die beiden Frauen vorübergehend allein bei dem Verletzen sind, nutzen sie dessen Wehrlosigkeit, ziehen ihm die Hose aus und verstümmeln ihn. Klaus will die Polizei rufen, aber Benno hält ihn davon ab und weist ihn darauf hin, dass Cora mitgemacht habe. Die vier Erwachsenen zerren den Schwerverletzten auf die Ladefläche des Pickups. Sanny, die Schlimmes befürchtet, möchte mitkommen, aber Astrid sagt, es sei kein Platz mehr im Wagen, versichert ihrer Tochter, dass sie Tore ins Krankenhaus bringen und schließt die beiden Kinder in der Hütte ein.

Nachdem die Erwachsenen mit Tore weg sind, meint Dennis, dass sie nicht zum Krankenhaus fahren.

Tatsächlich steuert Benno eine abgelegene Gegend an. Während Astrid, Cora und Klaus im Wagen warten, trägt er den Schwerverletzten in ein Waldstück, wirft ihn auf den Boden und fragt ihn höhnisch: „Na, wo ist jetzt dein Gott?“ Dann tritt er den Sterbenden in einen Bach und kehrt zu den anderen zurück.

Inzwischen ist Sanny mit ihrem kleinen Bruder aus einem Fenster der Hütte geklettert. Durch das schockierende Erlebnis bringt die 15-Jährige endlich die Kraft auf, die gewalttätigen Eltern zu verlassen.

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Nachdem Katrin Gebbe in der Zeitung über die Versklavung eines Menschen in einer Kleingartenanlage gelesen hatte, schrieb sie das Drehbuch für ihren Debütfilm, das Drama „Tore tanzt“.

Der sanftmütige Tore wird zum Opfer sadistischer Gewalt. Obwohl er nicht eingesperrt ist, bleibt er bei seinen Peinigern, denn er glaubt, dass Jesus ihm diese Prüfung auferlegt habe.

Provoziert seine Wehrlosigkeit die Misshandlungen? Schwingt bei der Passion auch Masochismus mit? Katrin Gebbe legt sich da nicht fest. Sie verrät auch nichts über die Vorgeschichte. Wir erfahren weder, woher Tore kommt noch warum Benno mit seiner Familie in einem Schrebergarten haust. Katrin Gebbe konzentriert sich in dem verstörenden Drama „Tore tanzt“ ganz auf die Dynamik hier und jetzt.

Immerhin verhilft Tores Leiden – hat es etwas mit gewaltfreiem Widerstand zu tun? – einer 15-Jährigen zur Selbstbefreiung.

Im Namen der Hauptfigur steckt das Wort Tor, das sowohl Tölpel als auch Durchgang bedeutet. Das ist gewiss kein Zufall. Katrin Gebbe hat „Tore tanzt“ in drei Kapitel gegliedert: Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Inszenierung ist minimalistisch, realistisch und gnadenlos.

„Tore tanzt“ wurde 2013 bei den Filmfestspiele in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014

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