Pierre Lemaitre : Drei Tage und ein Leben

Drei Tage und ein Leben
Originalausgabe: Trois jours et une vie Éditions Albin Michel, Paris 2016 Drei Tage und ein Leben Übersetzung: Tobias Scheffel Klett-Cotta, Stuttgart 2017 ISBN: 978-3-608-98106-3, 272 Seiten ISBN: 978-3-608-10876-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Antoine, ein unauffälliger Zwölfjähriger, der gerade mit ansehen musste, wie der Nachbar seinen verletzten Hund erschoss und den Kadaver auf den Müll warf, erschlägt im Gefühlschaos den sechs Jahre alten Nachbarjungen. Innerhalb weniger Minuten ändert sich Antoines Leben dramatisch. Kurz darauf wird das Dorf, in dem er mit seiner Mutter wohnt, von einer Sintflut heimgesucht, und der Wald, in dem Antoine die Leiche versteckt hat, ist vorübergehend unpassierbar ...
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Kritik

Pierre Lemaitre geht in diesem Roman der Frage nach, was aus einem Kind wird, das von Schuldgefühlen und Angstzuständen überfordert ist, ohne darüber reden zu können. "Drei Tage und ein Leben" ist eine subtile psycho­logische Studie, eine ergreifende Lektüre.
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1999

Der zwölfjährige Schüler Antoine lebt mit seiner alleinerziehenden Mutter Blanche Courtin in dem französischen Dorf Beauval. Sein Vater nutzte 1993 – vor sechs Jahren – eine Versetzung nach Deutschland, um auch die Frau zu wechseln. Blanche Courtin, die in Beauval geboren wurde und aufwuchs, arbeitet seit langem für den Fleischer und Geflügelhändler Andrei Kowalski, der einen Laden in Marmont besitzt und mit seinem Verkaufswagen zu den Märkten der umliegenden Dörfer fährt.

Madame Courtin tat in jeder Hinsicht, was sich gehörte, und schlicht deshalb, weil alle um sie herum das taten.

Als die anderen Jungen sich treffen, um mit einer PlayStation zu spielen, darf Antoine nicht mitmachen, weil seine Mutter nichts von solchen Geräten hält. Er geht stattdessen jeden Tag mit Odysseus, dem Hund der Nachbarfamilie Desmedt, in den Wald von Saint-Eustache und baut dort im Geäst einer Buche ein Baumhaus. Das hält er geheim. Erst nach der Fertigstellung will er damit die anderen Jungen beeindrucken. Aber er zeigt es dem sechs Jahre alten Rémi Desmedt, der ihn grenzenlos bewundert. Antoine träumt davon, einmal mit Émilie, der zwölfjährigen Tochter der Nachbarfamilie Mouchotte, in dem Baumhaus allein zu sein. Aber als er sie im Dezember 1999 hinführt, hat sie keine Lust, es sich näher anzuschauen. Das ist für ihn eine schwere Enttäuschung.

Am 23. Dezember wird Odysseus von einem Auto angefahren. Jemand trägt das schwer verletzte Tier zu den Desmedts und legt es in den Garten. Antoine sieht den schwer atmenden Hund. Man müsste ihn zum Tierarzt bringen. Stattdessen geht Roger Desmedt ins Haus, kommt mit einem Gewehr wieder heraus und schießt Odysseus aus nächster Nähe tot. Den Kadaver packt er in einen Plastiksack und wirft ihn auf einen Haufen Bauschutt.

Das ist zu viel für Antoine. Verstört rennt er in den Wald und zerstört in blindem Zorn sein Baumhaus. Rémi kommt hinzu. Schluchzend brüllt Antoine: „Warum hat dein Vater das gemacht?“

Von einem unüberwindlichen Gefühl der Ungerechtigkeit erfüllt, war Antoine plötzlich nicht mehr er selbst. Der Effekt der Erstarrung, den Odysseus‘ Tod ausgelöst hatte, verwandelte sich in diesem Moment in Raserei.

Mit einem Stock schlägt Antoine auf den Sechsjährigen ein und trifft ihn an der rechten Schläfe. Rémi bricht zusammen. Antoine rüttelt ihn an der Schulter, aber das Kind ist tot.

Fieberhaft überlegt Antoine, was er tun soll. Er kennt die unter einer umgestürzten Buche verborgene Öffnung einer Höhle. Dorthin trägt er die Leiche und stößt sie in das Loch.

Zu Hause merkt er, dass er seine Armbanduhr verloren hat. Wie soll er das seiner Mutter erklären?

Roger und Bernadette Desmedt machen sich Sorgen, als ihr Sohn nicht nach Hause kommt. Antoine behauptet, nicht zu wissen, wo Rémi ist. Dem Gendarm, der ihn befragt, sagt er, er habe Rémi zuletzt im Garten gesehen, da habe er gestanden und auf den Sack mit dem toten Hund gestarrt.

Im Dorf kursieren verschiedene Gerüchte. Andrei Kowalski wird festgenommen, weil Zeugen sein Auto am 23. Dezember am Waldrand von Saint-Eustache sahen. Aber es ist ihm nichts nachzuweisen, und er kommt bald wieder frei.

Die Bewohner werden aufgerufen, sich an einer von Polizei und Feuerwehr organisiertzen Suchaktion zu beteiligen.

Während diese durchgeführt wird, schluckt Antoine alle Tabletten aus dem Medizinschrank im Bad. Als er wieder zu sich kommt, würgt er nur noch Galle aus. Von den Krämpfen tut ihm der Bauch weh. Seine Mutter, der das mit den Tabletten nicht entgangen sein kann, tut so, als handele sich sich um eine Magen­verstimmung durch einen verdorbenen Kapaun. Doktor Dieulafoy, der Dorfarzt, versichert Antoine, er könne jederzeit zu ihm kommen, wenn ihn etwas belaste.

Für den folgenden Tag ist eine zweite Suchaktion geplant, aber in der Nacht verwüstet ein Unwetter die Gegend. Bei Blanche und Antoine Courtin steht das Wasser meterhoch im Erdgeschoss. Beim Haus der Desmedts ist der Schornstein eingestürzt und hat dabei das Gebäude aufgerissen. Maître Vallenères, der Notar, wurde von einem Baum erschlagen. Wer kümmert sich jetzt um seine 15-jährige, auf einen Rollstuhl angewiesene Tochter?

Im Wald von Saint-Eustache steht kaum noch ein Baum.

2011

Antoine studiert Medizin und lebt seit drei Jahren mit einer Kommilitonin namens Laura zusammen. Sie wollen beide nach dem Studium mit einer Hilfsorganisation ins Ausland gehen.

Seine Mutter besucht Antoine so selten wie möglich, denn er kehrt ungern nach Beauval zurück. Blanche Courtin putzt inzwischen für Monsieur Lemercier. Andrei Kowalski musste sein Geschäft aufgeben, weil die Gerüchte, er habe etwas mit dem Verschwinden des kleinen Rémi zu tun, nicht verstummten und die Kunden ausblieben. Er ist jetzt Leiter der Fleischtheke im Supermarkt von Fuzelières.

Roger und Bernadette Desmedt zogen nach dem Sturm Ende 1999 mit ihrer damals 15-jährigen Tochter Valentine in eine Sozialwohnung in Les Abesses. Roger Desmedt starb einige Monate später an einem geplatzten Aneurysma. In dem wieder aufgebauten Haus wohnt ein Ehepaar mit Zwillingstöchtern.

Bei einem seiner seltenen Aufenthalte in Beauval trifft Antoine die gleichaltrige Nachbarstochter Émilie Mouchotte wieder. Sie ist mit einem in Neukaledonien stationierten Unteroffizier verlobt, der auf seine Versetzung nach Frankreich wartet. Sobald Jérôme wieder da ist, wollen sie heiraten. Antoine gesteht, dass er früher in Émilie verliebt war. Sie küssen sich. Es fühlt sich falsch an, aber sie hören nicht auf, sondern fallen übereinander her.

Das kleine Mädchen, das er so begehrt hatte, hatte nichts mit der hinreißenden und dummen jungen Frau zu tun, die er in den Armen hielt.

Antoine erfährt in Beauval, dass die Gemeinde den Wald von Saint-Eustache gekauft hat und erschließen will, um einen Vergnügungspark für Kinder zu bauen, der den Tourismus ankurbeln soll.

Dreizehn Wochen später klingelt überraschend Émilie bei Antoine und Laura. Während Laura diskret weggeht, teilt Émilie Antoine mit, dass sie von ihm schwanger sei. Antoine drängt sie, sich auf eine Abtreibung einzulassen, aber das kommt für die Tochter einer bigotten Mutter nicht in Frage. „Wir müssen heiraten, Antoine“, meint sie. Das ist für ihn undenkbar.

Als Laura zurückkommt, ist Émilie nicht mehr da. Antoine sagt:

„Gut, ich habe EINMAL mit einer Klassenkameradin geschlafen, die mir nichts bedeutet. Sie ist gekommen, um sich an mich ranzuschmeißen, ich habe sie rausgeworfen, ich liebe dich.“

Einige Zeit später wird Blanche Courtin beim Überqueren einer Straße angefahren. Antoine nimmt den nächsten Zug und besucht sie im Krankenhaus von Saint-Hilaire. Um einige Sachen für sie zu holen, muss er nach Beauval.

Als er im Haus seiner Mutter vor dem Fernsehgerät sitzt, hört er, dass die Bauarbeiter im Park Saint-Eustache auf das Skelett eines Kindes stießen. Wenig später bestätigt sich der Verdacht, dass es sich um die Knochen von Rémi Desmedt handelt.

Andrei Kowalski wird erneut festgenommen. Aber ein DNA-Vergleich ergibt keine Übereinstimmung zwischen ihm und dem am Fundort des Skeletts sichergestellten Haar. Er kommt erneut frei.

Inzwischen hat Antoine seine Mutter vom Krankenhaus nach Hause gebracht, und er bleibt noch eine Weile bei ihr.

Émilies Vater kommt herüber. Blanche Courtin zieht sich zurück, während der Nachbar mit ihrem Sohn redet. Monsieur Mouchotte wirft Antoine vor, seine Tochter entehrt zu haben und droht mit einer Strafanzeige.

„Ich werde Sie vor Gericht ziehen und zu einem Gentest zwingen, der klar beweisen wird, dass Sie der Vater des Kindes sind, das meine Tochter trägt!“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

2015

Um einen Gentest zu vermeiden, der ihn als Mörder entlarven könnte, trennt Antoine sich von Laura und heiratet Émilie. Der Sohn, den sie bekommen, heißt Maxime. Es ärgert ihn, wenn er seine Frau bei Seitensprüngen ertappt, aber er unternimmt nichts dagegen.

Statt sich in einer Hilfsorganisation im Ausland zu engagieren, kauft er Doktor Dieulafoy 2014 die Praxis in Beauval ab und wird Dorfarzt.

Im Jahr darauf wird er von Andrei Kowalski konsultiert, der an einer Virusinfektion leidet. Der aus Gdynia in Polen stammende 66-jährige Fleischer bezieht seit einem Monat Rente und hat nun vor, nach Südfrankreich zu ziehen. Dort steht bereits sein Wohnwagen. Antoine fällt der Vorname Andrei auf. Das war auch einer der Namen, den seine Mutter nach dem Verkehrsunfall im Delirium rief. Antoine spricht den Rentner darauf an, und der sagt ihm, er habe ihn damals, als Rémi verschwand, am Waldrand von Saint-Eustache gesehen, und zwar vom Auto aus. Er sei kurz ausgestiegen, aber Antoine habe sich versteckt. Andrei Kowalski hat nie darüber gesprochen, weil Blanche Courtin neben ihm saß und er seine heimliche Geliebte nicht kompromittieren wollte. Zum Abschied sagt er, Antoine brauche sich keine Sorgen zu machen.

Zwei Tage später erhält Antoine ein Päckchen. Es enthält die Uhr, die er damals verloren hatte.

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Antoine, ein unauffälliger Zwölfjähriger, der gerade mit ansehen musste, wie der Nachbar den verletzten Hund erschoss und den Kadaver auf den Müll warf, erschlägt im Gefühlschaos den sechs Jahre alten Nachbarjungen. Innerhalb weniger Minuten ändert sich Antoines Leben dramatisch. Kurz darauf wird das Dorf, in dem er mit seiner Mutter wohnt, von einer Sintflut heimgesucht, und der Wald, in dem Antoine die Leiche versteckt hat, ist vorübergehend unpassierbar.

Pierre Lemaitre geht in seinem tragischen Roman „Drei Tage und ein Leben“ der Frage nach, was aus einem Kind wird, das von seinen Schuldgefühlen und Angstzuständen überfordert ist, aber mit niemandem darüber reden kann. „Drei Tage und ein Leben“ ist eine psychologische Studie. Pierre Lemaitre fokussiert auf drei Lebensabschnitte Antoines (1999, 2011, 2015) und entwickelt die Geschichte ebenso subtil wie leise und ruhig. Immer wieder versetzt sich der auktoriale Erzähler in den Protagonisten und nimmt dessen subjektive Perspektive ein. Dabei leuchtet er dessen Gefühls- und Gedankenwelt tief aus. Das ist nicht nur hochinteressant, sondern auch sehr bewegend.

Der französische Schriftsteller und Drehbuchautor Pierre Lemaitre (* 1951) wurde für seinen 2013 veröffentlichten Roman „Au revoir là-haut“ / „Wir sehen uns dort oben“ mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Den Roman „Drei Tage und ein Leben“ von Pierre Lemaitre gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Torben Kessler (ISBN 978-3-7424-0187-8).

Nicolas Boukhrief verfilmte den Roman „Drei Tage und ein Leben“ von Pierre Lemaitre.

Drei Tage und ein Leben – Originaltitel: Trois jours et une vie – Regie: Nicolas Boukhrief – Drehbuch: Pierre Lemaitre nach seinem Roman „Drei Tage und ein Leben“ – Kamera: Manuel Dacosse – Schnitt: Lydia Decobert / Boukhrief – Musik: Robin Coudert – Darsteller: Sandrine Bonnaire, Pablo Pauly, Charles Berling, Philippe Torreton, Margot Bancilhon, Jérémie Senez, Dimitri Storoge, Arben Bajraktaraj, Yoann Blanc, Pierre Lemaitre: le procureur du Roi
Igor Van Dessel u.a. – 2019; 120 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.