Vor der Morgenröte

Vor der Morgenröte

Vor der Morgenröte

Originaltitel: Vor der Morgenröte. Stefan Zweig in Amerika – Regie: Maria Schrader – Drehbuch: Maria Schrader, Jan Schomburg – Kamera: Wolfgang Thaler – Schnitt: Hansjörg Weißbrich – Musik: Tobias Wagner – Darsteller: Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt, Charly Hübner, Tómas Lemarquis, Lenn Kudrjawizki, Harvey Friedman, Nicolau Breyner, Ivan Shvedoff, André Szymanski, Valerie Pachner, Daniel Puente Encina u.a. – 2016; 100 Minuten

Inhaltsangabe

Der 1934 vor den Nationalsozialisten geflohene Schriftsteller Stefan Zweig weigert sich 1936 in einer Pressekonferenz in Buenos Aires, ein Statement gegen Hitler abzugeben. Unter Gleichgesinnten gegen ein Regime zu schimpfen, sei wohlfeil und wirkungslos, meint er. Er leidet nicht nur unter seiner Entwurzelung, sondern auch darunter, hilflos aus der Ferne den Untergang der Kultur mit ansehen zu müssen ...
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Kritik

"Vor der Morgenröte" ist kein Biopic, sondern eine von Maria Schrader aus vier Episoden zusammengestellte Charakterstudie über Stefan Zweig, den Josef Hader überzeugend verkörpert. Ungewöhnlich ist nicht nur die Struktur, sondern auch die Kameraführung.
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Prolog: Im September 1936 wird der 54 Jahre alte, vor den Nationalsozialisten aus Wien geflohene Schriftsteller Stefan Zweig (Josef Hader) durch einen festlichen Empfang in Rio de Janeiro geehrt. In seiner kleinen Ansprache lobt er das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft in Brasilien als weltweites Vorbild.

Episode 1: Stefan Zweig nimmt an dem vom 5. bis 15. September 1936 in Buenos Aires stattfindenden PEN-Kongress teil. Der deutsche Schriftsteller Emil Ludwig (Charly Hübner) hält eine Rede gegen die Barbarei der Nationalsozialisten. In einer anschließenden Pressekonferenz erwarten die spanisch, amerikanisch oder französisch sprechenden Journalisten von Stefan Zweig ebenfalls ein Statement gegen das NS-Regime. Aber er weigert sich. Er sei zwar in der Lage, Bücher mit politischer Bedeutung zu schreiben, erklärt er, aber er werde keine politischen Aussagen gegen ein Land machen. Er äußert die Hoffnung, dass eines Tages keine Reisepässe innerhalb von Europa mehr nötig seien. Allerdings, so fährt er fort, werde seine Generation das nicht mehr erleben. Die Anwesenden halten Stefan Zweigs Weigerung, ein Statement gegen Hitler abzugeben, für Feigheit. Aber sie irren sich: Nach der Pressekonferenz sagt Stefan Zweig zu einem amerikanischen Journalisten, es sei wohlfeil und wirkungslos, unter Gleichgesinnten über ein Regime zu schimpfen. Jede ohne persönliches Risiko gemachte Geste des Widerstands sei bloß geltungs­süchtig.

Episode 2: Im Januar 1941 besichtigen Stefan Zweig und seine Sekretärin Lotte (Aenne Schwarz), mit der er seit gut zwei Jahren verheiratet ist, eine Zucker­rohr­plantage in Bahia, denn der Schriftsteller arbeitet an einem Buch über Brasilien („Brasilien. Land der Zukunft“). Während einer Autofahrt blickt er versonnen auf Felder, die nach einer Brandrodung verkohlt sind. Auf dem Weg zum Flughafen Recife müssen Stefan und Lotte Zweig noch einen Abstecher zu einer Kleinstadt machen, deren Bürgermeister am 18. Januar einen Empfang für sie vorbereitet hat. Aus Zeitgründen fahren sie statt zum Rathaus zur Finca des aufgeregten Bürgermeisters, der den berühmten Schriftsteller „Zeig“ nennt. Die Musikkapelle wird mit einem Lastwagen herangekarrt, aber der Bus mit den Gästen, die vor dem Rathaus versammelt waren, bleibt unterwegs mit einer Reifenpanne liegen. Die Kapelle hat eigens den Walzer „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss Sohn eingeübt. Die scheppernde Darbietung amüsiert Stefan Zweig zunächst, aber dann sieht man an seiner Mimik, dass er traurig über diesen dürftigen Abglanz der Heimat ist.

Episode 3: Von Brasilien fliegen Stefan und Lotte Zweig im Januar 1941 nach New York. Dorthin floh zehn Wochen zuvor auch Stefan Zweigs geschiedene Frau Friderike („Fritzi“; Barbara Sukowa) mit ihren beiden Töchtern Alice („Alix“; Valerie Pachner) und Susanna („Suse“) sowie deren Ehemännern Herbert Störk und Karl Höller. Eine österreichische Bekannte hat Friderike Zweig ihre Wohnung in New York zur Verfügung gestellt.

Viele von den Nationalsozialisten verfolgte Kulturschaffende bitten Stefan Zweig in Briefen, ihnen mit den erforderlichen Bürgschaften bei der Beschaffung von Einreisepapieren zu helfen. Aber er bringt die Energie nicht auf, sich für sie alle einzusetzen, obwohl Friderike Zweig ihn deshalb kritisiert. Er leidet unter seiner Hilflosigkeit ebenso wie unter seiner Entwurzelung. Außerdem macht es ihm zu schaffen, die Barbarei der Nationalsozialisten aus der Ferne mit ansehen zu müssen.

Episode 4: Im November 1941 sehen wir Stefan Zweig erneut in Brasilien. Er und Lotte haben im Sommer ein Haus in Petrópolis gemietet. An seinem 60. Geburts­tag begegnet Stefan Zweig zufällig dem Journalisten Ernst Feder (Matthis Brandt), den er aus Berlin kennt. Wegen seiner politischen Einstellung emigrierte Ernst Feder mit seiner Frau Erna nach Brasilien, und er hat soeben ein Haus in der Nachbarschaft der Zweigs gemietet. Stefan Zweig begleitet Ernst Feder und berichtet von der „Schachnovelle“. Der Berliner nimmt ihn mit auf den Balkon des gemieteten, aber noch nicht bezogenen Hauses und zeigt ihm die Aussicht auf die Tropenwelt, in der sie einen Papagei entdecken. „Wir haben nichts zu beklagen“, meint Stefan Zweig. „Nein, wir nicht“, stimmt Ernst Feder leise zu, und Stefan Zweig ergänzt: „Wie sollen wir das nur aushalten?“

Epilog: Stefan Zweig und seine schwer asthmakranke Frau Lotte haben sich am 22. Februar 1942 vergiftet. Während Polizisten sich im Haus des Paares in Petrópolis umsehen, um den erweiterten Suizid zu untersuchen, sind auch trauernde Freunde und Bekannte gekommen. Wir sehen die Menschen flüstern und herumhuschen. Erst als die Spiegeltür eines Wandschranks geöffnet wird, sehen wir kurz das tote Paar auf dem Bett liegen. Ernst Feder verliest den Abschiedsbrief des Schriftstellers, der mit den Worten endet: „Ich grüße alle meine Freunde. Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“

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Der Titel „Vor der Morgenröte“ stammt aus dem Abschiedsbrief Stefan Zweigs.

Maria Schrader und Jan Schomburg konzentrieren sich in dem Film auf die letzten Lebensjahre des Schriftstellers in Amerika (1936 – 1942) und setzen eine Grundkenntnis der Vorgeschichte voraus.

„Vor der Morgenröte“ ist kein Biopic, sondern eine Charakterstudie über einen heimatlosen Europäer, einen entwurzelten Humanisten und Pazifisten, der aus der Ferne hilflos die Barbarei der Nationalsozialisten mit ansehen muss. Stefan Zweig lässt sich von keiner Seite vereinnahmen und weigert sich, Statements gegen Hitler abzugeben, nicht aus Feigheit, wie die Journalisten annehmen, sondern weil er es für nutzlos, eitel und wohlfeil hielte, sich unter Gleichgesinnten als Gegner eines Regimes zu gebärden. Zum Widerstand gehöre ein persönliches Risiko, meint er. Statt sich mit Parolen gegen die Barbaren zitieren zu lassen, gibt Stefan Zweig mit seiner Haltung ein Beispiel für Kultur. Andererseits bringt er nicht die Kraft auf, noch mehr Verfolgten bei der Flucht vor den Nationalsozialisten zu helfen.

Ein abschließendes Urteil über Stefan Zweig finden wir in „Vor der Morgenröte“ nicht. So wie Stefan Zweig seinen Standpunkt durch Haltung statt verbale Äußerungen vertritt, verzichtet auch Maria Schrader auf Stellungnahmen und nimmt stattdessen die Erzählstruktur von „Sternstunden der Menschheit“ als Vorbild für den Film.

„Vor der Morgenröte“ gliedert sich in vier Episoden, einen Prolog und einen Epilog. Die Kapitel sind nicht durch Übergänge verbunden. Es gibt also keine durch­gehende Handlung. Das schafft auch eine gewollte Distanz und Sachlichkeit.

Den Prolog hat Wolfgang Thaler mit einer einzigen Einstellung aufgenommen. Die Kamera ist im Saal fixiert. Es wird weder gezoomt noch geschwenkt. Wir sehen in der Totalen mit großer Schärfentiefe, wie das Personal die letzten Vorbereitungen für das Festessen trifft und die Türen geöffnet werden. Die Gäste kommen herein. Unter ihnen ist schließlich auch Stefan Zweig. Selbst als die Hauptfigur mit dem Rücken zur Kamera steht, wird nicht gegengeschnitten. Ähnlich ist es auch im Epilog, aber da gehen Maria Schrader und Wolfgang Thaler noch einen Schritt weiter: Stefan und Lotte Zweig liegen tot auf dem Bett, aber die starre Kamera ist nicht auf sie gerichtet. Wir sehen sie nur kurz in der Spiegeltüre eines Wandschranks. Das ist virtuos.

In „Vor der Morgenröte“ gibt es mehr als 80 Sprechrollen in sieben Sprachen. Statt alles in Deutsch zu synchronisieren, arbeitet Maria Schrader mit Untertiteln. Erst nach zehn Minuten ist das erste deutsche Wort zu hören. Das betont die Heimatlosigkeit des Protagonisten, ja, aber für den Zuschauer ist es anstrengend, so viele Untertitel lesen zu müssen.

Getragen wird „Vor der Morgenröte“ nicht zuletzt von der schauspielerischen Leistung des gegen sein Image besetzten Hauptdarstellers Josef Hader.

Die Dreharbeiten für „Vor der Morgenröte“ fanden von April bis Juni 2015 in Halle, Berlin, Lissabon und Sao Tomé im Golf von Guinea statt.

Die Premiere erfolgte am 30. Mai 2016 im Delphi Filmpalast in Berlin. Ins Kino kam „Vor der Morgenröte“ am 2. Juni 2016.

„Vor der Morgenröte“ wurde in den Kategorien Beste Regie (Maria Schrader) und Beste weibliche Nebenrolle (Barbara Sukowa) für den Deutschen Filmpreis nominiert. Österreich meldete „Vor der Morgenröte“ für einen „Auslands-Oscar“ an, aber der Film kam nicht auf die Shortlist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017

Stefan Zweig (Kurzbiografie)

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"Unorthodox. Eine autobiografische Erzählung" ist kein großer literarischer Wurf. Dafür bleiben alle Personen bis auf die Ich-Erzählerin zu schemenhaft. Aber es handelt sich um ein wichtiges, aufschlussreiches Buch über ein brisantes Thema. Zu den Pluspunkten gehört außerdem, dass Deborah Feldman sachlich und unpolemisch, unaufgeregt und ohne Effekt­hascherei schreibt. Die Emanzipations­geschichte, die sie in "Unorthodox" erzählt, ist auf jeden Fall ermutigend.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.