Le Bal
Le Bal
Inhaltsangabe
Kritik
1983. Ein alter Kellner humpelt durch einen Ballsaal irgendwo in Frankreich und schaltet der Reihe nach die Lampen ein. Dann legt er eine Schallplatte auf und macht sich hinter der Theke zu schaffen. Nach und nach treten neun Damen ein, kommen die Treppe herunter in den Saal, und jede von ihnen setzt sich an einen eigenen kleinen Tisch. Ihnen folgen elf Herren. Einige der Gäste sind so eitel, dass sie ihre Frisur und den Sitz ihrer Kleidung noch einmal in einem Spiegel überprüfen. Ungefähr zwanzig junge und ältere, einfache und mondäne, verklemmte und unternehmungslustige, bescheidene und arrogante Menschen mustern sich, die einen verstohlen, die anderen herausfordernd. Sobald die Platte zu Ende ist, beginnt in einer Ecke eine kleine Kapelle zu spielen, und die Herren fordern die Damen zum Tanz auf. Hinter der Theke quillt von der Espressomaschine Dampf auf. Die Kamera fährt darauf zu; das Bild verschwimmt in Weiß.
1936. Das Bild ist jetzt schwarzweiß; nur der Aufputz an dem einen oder anderen Kleid oder Hut sowie ein rotes Tuch sind blass koloriert. Die Gäste tanzen zu einer Musette. Einem eingebildeten Herrn, der zusieht, wie sich seine aufgetakelte Begleiterin von ihrem Tanzpartner küssen lässt, fallen vor Überraschung mehrere Monokel aus dem Auge und zersplittern am Boden, aber er zieht immer wieder neue aus einer Westentasche. Als die Musik aussetzt, beginnen die Tanzpaare zu steppen. Da friert das Bild in einem Rahmen ein, der an der Wand hinter der Theke hängt.
1940. Fliegeralarm. Menschen stürzen in den unbeleuchteten, leer stehenden Ballsaal und suchen dort Zuflucht. Die Motoren der Flugzeuge sind zu hören. Einschläge lassen das Gebäude erzittern. Die verängstigten Gesichter heben sich von der grauen Kleidung und Einrichtung ab. Endlich heulen die Sirenen zur Entwarnung. Nur ein Paar bleibt zurück und verschlingt hungrig einen Teller Spaghetti.
In den wieder beleuchteten Ballsaal kommt ein schlaksiger deutscher Offizier mit einem servilen französischen Kollaborateur, der sofort am Radio dreht, damit statt der amerikanischen Musik der von Lale Andersen gesungene Schlager „Lili Marleen“ ertönt. Es sind nur wenige fast ausschließlich weibliche Gäste im Lokal. Zwei Frauen tanzen. Da beginnen die Kirchenglocken zu läuten. Ungläubig schauen sich die Menschen an, dann umarmen sie sich freudig: Frankreich und Deutschland haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt!
1944. Ausgelassen tanzen die jetzt wieder zahlreicheren Gäste und bilden einen Kreis, in den sich auch der frühere Kollaborateur drängt. Eh er sich versieht, wird er in den Kreis gesperrt und herumgestoßen, bis er fliehen kann. Die Kapelle hört zu spielen auf, als ein Invalide auf Krücken hereinkommt, doch er legt die Krücken weg und tanzt auf dem einem Bein. Da greifen die Musiker wieder zu ihren Instrumenten. Unvermittelt erstarrt die Szene in einem Bilderrahmen.
1946. Musik von Glenn Miller ertönt. Der Kellner öffnet eine überschäumende Flasche Coca Cola und probiert vorsichtig ein wenig von dem Getränk, spuckt es jedoch angewidert aus. Eine Dame prüft den Sitz ihrer Nylonstrümpfe, eine andere entdeckt eine Laufmaschine, geht in den Waschraum, zieht die Nylons aus und malt sich mit einem Augenbrauenstift eine Strumpfnaht auf die Waden. Zwei GIs treten zusammen mit dem Kollaborateur ein, der sich jetzt als Schwarzhändler betätigt und der Toilettenfrau, die gerade einen Büstenhalter flickt, seine im Mantel versteckten Waren zeigt. Das Bild friert ein und hängt anschließend neben den früheren Aufnahmen an der Wand hinter der Theke.
1956. Die Gäste tanzen Samba und Tango. Die jungen Damen tragen Petticoats. Die GIs sind inzwischen in Zivil; der eine von ihnen, ein Latino, fordert mehrere Damen zum Tanz auf, wird jedoch immer wieder abgewiesen. Untätig sehen alle zu, wie ein jovialer, kräftiger Franzose den schmächtigen Ausländer zur Toilette drängt, um ihn dort zusammenzuschlagen. Bald darauf wird der übel zugerichtete aber immer noch höflich grüßende Südamerikaner von einem Kriminalkommissar abgeführt. Zwei Halbstarke kommen herein und tanzen Rock’n’Roll. Wieder friert die Szene ein.
1968. Der Ballsaal ist unbeleuchtet. Von draußen sind die Sirenen von Polizeifahrzeugen und der Lärm einer Straßenschlacht zu hören. Demonstranten flüchten sich in das Lokal. Im Radio wird „Michelle“ von den „Beatles“ übertragen.
1983. Unter den Gästen sind auch der ehemalige deutsche Offizier, der Kollaborateur und der Latino. Einer der Herren wird durch den fiepsenden Alarm seiner Armbanduhr darauf aufmerksam, wie spät es ist. Nach und nach verlassen die Gäste den Ballsaal. Zuletzt sitzt nur noch ein bebrilltes Mauerblümchen da. Die junge Frau ist an ihrem Tisch eingeschlafen. Als der Kellner sie weckt, springt sie freudig auf, weil sie glaubt, dass sie endlich zum Tanzen aufgefordert wird. Dann begreift sie ihren Irrtum und geht. Der Kellner schaltet das Licht aus.
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Ettore Scola schuf diesen poetisch-musikalischen, in der Konzeption ebenso wie in jeder Szene außergewöhnlichen Film nach einem Stück des Théâtre du Campagnol, das wiederum auf einer Idee von Jean-Claude Penchenat basiert. In einem einzigen Raum, einem Ballsaal irgendwo in Frankreich, begegnen sich 1936, 1940, 1944, 1946, 1956, 1968 und 1983 zwanzig grundverschiedene Menschen. In den wie ein Ballett choreografierten und von einer entfesselten Kamera gefilmten Szenen spiegelt sich der Zeitgeist. Obwohl kein gesprochenes Wort zu hören ist, besteht „Le Bal. Der Tanzpalast“ aus einem Kaleidoskop von kleinen Geschichten. Sie handeln von Liebe und Hass, von Ängsten und unerfüllten Sehnsüchten vorwiegend unglücklicher, einsamer, skurriler Menschen. Tausend originelle Ideen lassen aus den Bewegungen der Figuren und den – wie in Jacques Tatis Filmen – überdeutlich zu hörenden Geräuschen urkomische Szenen entstehen, keine Schenkelklopfer, sondern feine, melancholische Slapstick-Szenen. – Es ist unglaublich, wie amüsant und faszinierend ein abendfüllender Film ohne Worte sein kann.
Für „Le Bal“ wurde Ettore Scola bei der Berlinale 1984 mit einem „Silbernen Bären“ ausgezeichnet.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002/2003
Ettore Scola: Wir waren so verliebt