Rahel Varnhagen


Eine Jüdin im Gespräch mit großen Deutschen

Rahel kommt am 19. Mai 1771 in Berlin als Tochter eines reichen preußischen Schutzjuden zur Welt. Höhere Schulen bleiben dem Mädchen verschlossen, und ihr Bruder, der seit dem Tod des Vaters das Handelsunternehmen der Familie leitet, erlaubt ihr auch keine geschäftliche Tätigkeit.

Im Alter von 24 Jahren beginnt Rahel Levin, jede Woche mit einer Gruppe von vorwiegend männlichen Besuchern über Literatur, Kunst, Philosophie, das Leben, Theateraufführungen und Universitätsvorlesungen zu diskutieren. In Rahels Salon begegnen sich Dichter, Künstler, Philosophen und Staatsmänner. Besitz und Standesunterschiede bedeuten hier ebensowenig wie religiöse Gegensätze. Auf Witz und Verstand kommt es an.

Johann Wolfgang von Goethe, dem sie 1795 vorgestellt wird, zeigt sich von Rahel Levins Eigenständigkeit des Denkens beeindruckt: „Ja, es ist ein liebevolles Mädchen; sie ist stark in ihren Empfindungen und doch leicht in ihrer Äußerung. Jenes gibt ihr eine hohe Bedeutung, dies macht sie angenehm. Jenes macht, dass wir an ihr die große Originalität bewundern, und dies, dass diese Originalität liebenswürdig wird, dass sie uns gefällt … Sie ist, soweit ich sie kenne, in jedem Augenblick sich gleich, immer in einer eignen Art bewegt und doch ruhig – kurz, sie ist, was ich eine schöne Seele nennen möchte.“

Am 27. Oktober 1806 reitet Napoleon durchs Brandenburger Tor. Zwei Jahre lang bleibt die französische Besatzung in Berlin [Napoleon in Berlin]. Die Katastrophe verändert das Leben in der preußischen Hauptstadt. Das Unternehmen der Levins gerät in Schwierigkeiten, und Rahel – die von regelmäßigen Zahlungen aus dem Familieneinkommen lebt – muss ihre Ausgaben einschränken.

Die Fremdherrschaft reißt die Intellektuellen in Deutschland aus ihrer politischen Gleichgültigkeit. Heinrich von Kleist fordert seine Landsleute auf, die Franzosen totzuschlagen.

Dieter Wunderlich: EigenSinnige Frauen © Piper Verlag

Das aufkeimende Nationalbewusstsein verdrängt den Kosmopolitismus der Berliner Salons, und der aufflammende Hurrapatriotismus richtet sich nicht nur gegen die Franzosen, sondern auch gegen die Juden. Rahels Gäste bleiben nach und nach aus.

1803 lernt sie Karl August Varnhagen kennen. Die beiden verlieren sich rasch wieder aus den Augen, bis sie sich im Frühjahr 1808 zufällig bei einem Spaziergang Unter den Linden über den Weg laufen. Varnhagen bewundert Rahels Esprit, rühmt ihre Klugheit und macht sich zum Priester seines Idols. Rahel Levin erschrickt über die Leidenschaftlichkeit des 14 Jahre Jüngeren, aber sie kümmert sich um ihn und spornt ihn an, das verhasste Medizinstudium wieder aufzunehmen. Doch im Sommer 1809 meldet er sich zur österreichischen Armee. Fünf Jahre später nimmt die inzwischen 43 Jahre alte Rahel Levin seinen Heiratsantrag an und lässt sich taufen, weil eine Eheschließung zwischen einer Jüdin und einem Christen nicht möglich wäre. Vier Tage später findet die Hochzeit statt.

Karl August Varnhagen reist als Diplomat im preußischen Gefolge zum Wiener Kongress. 1816 wird er zum preußischen Geschäftsträger am badischen Hof ernannt. Aber seine Karriere endet so jäh wie sie begann. 1819 zieht das Ehepaar wieder nach Berlin – wo Rahel erneut einen Salon eröffnet. Es geht diesmal allerdings vornehmer zu als in ihrem ersten Salon: die Gesellschaft plaudert nicht mehr am Teetisch, sondern an einer festlich gedeckten Tafel.

Rahel Varnhagen leidet zeitlebens darunter, dass sie eine Frau und noch dazu eine Jüdin ist. Sie betrachtet sich jedoch nicht als hilfloses Opfer eines Schicksals, sondern nimmt ihr Leben selbst in die Hand und versucht im kleinen Kreis eine humanistische Gesellschaft zu verwirklichen.

Am 7. März 1833 stirbt sie im Alter von 62 Jahren.


Rahel Varnhagen:
Der Salon

Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: EigenSinnige Frauen. 10 Porträts
Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1999 / Piper Taschenbuch, München 2004 (12. Auflage: 2011)

Im Alter von vierundzwanzig Jahren schart Rahel Levin [die spätere Rahel Varnhagen] eine Gruppe regelmäßiger – vorwiegend männlicher – Besucher um sich. Jede Woche treffen sie sich in der Wohnung, die Chaie Levin nach dem Tod ihres Mannes mit den Kindern bezog.

Besitz und Standesunterschiede bedeuten hier ebensowenig wie religiöse Gegensätze. In Rahels Salon begegnen sich Künstler, Philosophen und Staatsmänner: der schwedische Diplomat Karl Gustav von Brinckmann, Antoni Henryk Fürst Radziwill; ein Neffe des Königs: Prinz Louis Ferdinand und dessen Mätresse Pauline Wiesel; Wilhelm und Caroline von Humboldt, Friedrich Schleiermacher, Moses Mendelssohns Tochter Dorothea Veit, Friedrich Schlegel, Jean Paul, Ludwig und Friedrich Tieck, Clemens Brentano und viele andere.

„Rahels angebliche ‚Wahllosigkeit‘ in der Auswahl ihrer Gesellschaft, die ihr wegen der Vielschichtigkeit der Gäste von einigen von ihnen […] bisweilen auch vorgehalten wurde, geriet zum Markenzeichen ihres Salons. Nicht nur, daß bei ihr Menschen mit jeglicher Konfession und Weltanschauung zu Worte kommen konnten; Rahel war darüber hinaus auch bekannt dafür, einen jeden ihrer Gäste nach seinem ganz eigenen Maßstab und keineswegs der gesellschaftlichen Konvention und Etikette folgend zu klassifizieren und zu behandeln.“

„Man spricht über Literatur, Kunst, Philosophie, das Leben, über neue Bücher, Theateraufführungen, Universitätsvorlesungen, hört Autoren und Autorinnen zu. Über Politik spricht man nicht“, denn für eine Dame schickt es sich nicht, eine Meinung über politische Themen wie zum Beispiel die Französische Revolution zu äußern.

Auf Witz und Verstand kommt es bei der geistreichen Unterhaltung an. Hier wird „eine Geselligkeit gepflegt, die nicht gleichzusetzen ist damit, was man heute, oft mit gequältem Lächeln, ‚zwangloses Beisammensein‘ nennt.“ Wer in dieser narzißtischen Gesellschaft glänzen möchte, muß auf Stichwörter achten, die es ihm ermöglichen, einen Geistesblitz aufleuchten zu lassen – wobei der Gedankenschnörkel oft wichtiger ist als der inhaltliche Zusammenhang. Immer wieder springt einer der Teilnehmer auf die virtuelle Bühne, um sich vor den anderen zu präsentieren, und meistens spielt Rahel selbst die Hauptrolle: Erregt durch das eigene Sprechen und berauscht von ihren Einfällen kultiviert sie ihren Esprit.

Wilhelm von Humboldt erinnert sich später: „Man suchte sie gern auf, nicht bloß weil sie wirklich von sehr liebenswürdigem Charakter war, sondern weil man fast mit Gewißheit darauf rechnen konnte, nie von ihr zu gehen, ohne nicht etwas von ihr gehört zu haben und mit hinwegzunehmen, das Stoff zu weiterem ernstem, oft tiefem Nachdenken gab, oder das Gefühl lebendig anregte.“

Der Salon stellt ihre Akademie dar: Im Salon saugt sie Wissen auf und übt ihren Verstand. Der Schriftsteller Theodor Mundt bezeichnet Rahel als „das alles am feinsten durchfühlende Nervensystem ihrer Zeit“. Sie nutzt immer zugleich ihren Scharfsinn und ihr Einfühlungsvermögen – zwei Eigenschaften, die sich bei den meisten Menschen gegenseitig ausschließen –, beweist Phantasie, beobachtet nuancenreich, versteht rasch und lernt ständig dazu, hört nie auf, sich und andere zu ergründen. Karl Gustav von Brinckmann meint: „Vielleicht gehörte aber auch eine solche Allseitigkeit des Geistes dazu, wie die ihrige, um auch aus noch so gemischten Gesellschaftsverbindungen nicht bloß Vergnügen, sondern Nutzen zu schöpfen. So reich ihre Menschenkenntnis war, so bewunderungswürdig gewandt und leicht abgewogen war ihre Behandlung der verschiedensten, sich einander oft völlig widersprechenden Charaktere […] In meiner Seele las sie, wie in einem offenen Buche mit breiten Rändern, wo sie überall etwas hinzuschrieb und verbesserte; und wo irgend die Handschrift meines unruhigen Geistes mir selbst unleserlich schien, entzifferte sie solche oft schneller und fertiger als ich selbst.“

Kurzbiografie: © Dieter Wunderlich 2001

Leseprobe: Dieter Wunderlich, EigenSinnige Frauen. 10 Porträts
© Pustet Verlag, Regensburg 1999
Als Piper-Taschenbuch überall im Buchhandel

Fußnoten wurden in der Leseprobe weggelassen. Zitate:
Gerhard Danzer: Rahel Varnhagen […],
in: Gerhard Danzer (Hg.): Frauen in der patriarchalischen Kultur, 1997, S. 48
Gabriele Hoffmann: Frauen machen Geschichte, 1991, S. 257
Tibor Simanyi: Madame Pompadour. Eine Biografie, 1979, S. 283
Ursula Isselstein: Emanzipation wovon und wofür?
in: Norbert Altenhofer und Renate Heuer (Hg.): Jüdinnen zwischen Tradition und Emanzipation, 1990, S. 86
Dieter Bähtz (Hg.): Rahel Varnhagen. Briefe und Aufzeichnungen, 1986, S. 366 / 407f

John Grisham - Die Kammer
Mit seinem Justizroman "Die Kammer" veranschaulicht John Grisham die Fragwürdigkeit und Grausamkeit der Todesstrafe. Ein Verzicht auf redundante Passagen, überflüssige Handlungsstränge und belanglose Details hätte dem Buch allerdings gut getan.
Die Kammer