Genitalverstümmelung

In vielen Gebieten Afrikas, des Mittleren Ostens und des Maghreb, aber auch auf den anderen Kontinenten werden junge Mädchen beschnitten. Die Herkunft dieser uralten Tradition ist unklar. Die weit verbreitete Auffassung, der Koran schreibe die Beschneidung vor, ist falsch. Während die Genitalverstümmelung früher ausschließlich im Rahmen von Initiationsriten vor der Menarche der Betroffenen von einer Medizinfrau ohne Betäubung durchgeführt wurde, ist es inzwischen auch üblich, den Eingriff – teilweise bereits im Säuglingsalter – wie eine andere Operation unter Lokalanästhesie im Krankenhaus vorzunehmen. Schätzungen zufolge werden jedes Jahr zwei Millionen Mädchen beschnitten.

FGM (Female Genital Mutilation) wird nicht nur in Somalia, sondern in achtundzwanzig Ländern durchgeführt. Der Hintergrund ist der, dass Familien in diesen Gesellschaften Frauen, die nicht genitalverstümmelt sind, als wertlos ansehen. Das hat seinen Grund auch darin, dass Mädchen in diesen Gesellschaften nicht aus Liebe heiraten, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auf den Markt gebracht und verkauft werden, d. h. es ist im Interesse der Familien, sicherzustellen, dass Mädchen als Jungfrauen in die Ehe gehen. Abgesehen davon werden Mädchen, die nicht genitalverstümmelt sind, als unsauber angesehen. Jede Familie glaubt, für ihre Mädchen das Beste zu tun. Wann genau die Genitalverstümmelung entstanden ist und wo sie ihren Ursprung hat, das weiß man heute nicht mehr. Sie ist auf jeden Fall Tausende Jahre alt. (Waris Dirie in einem Interview, „Wiener Zeitung“, 9. / 10. Januar 2004).

Bei der Beschneidung werden erogene Zonen des weiblichen Genitals – die Klitoriseichel und die inneren Schamlippen (Labia minora) – mehr oder weniger stark beschnitten oder ganz entfernt (Sunna, Klitoridektomie, Exzision).

In manchen Regionen ist es üblich, außerdem die Vagina auszuschaben (Introzision). Bei der so genannten pharaonischen Beschneidung (Farooni) geht der Eingriff weiter: Die Frau, die ihn vornimmt, trennt auch einen Teil der äußeren Schamlippen (Labia majora) ab, bevor sie die Vulva bis auf eine minimale Öffnung für den Abfluss von Urin und Menstruationsblut verschließt (Infibulation), und zwar durch eine Naht, das Zusammenstecken der Wundränder mit Dornen oder wochenlanges Zusammenschnüren der Oberschenkel.

Die Infibulation soll die Masturbation und eine voreheliche Defloration verhindern. Wenn sich die verbliebene Öffnung nicht ausreichend dehnen lässt, um in der Hochzeitsnacht eine Penetration zu ermöglichen, wird die zusammengewachsene Schamspalte ein Stück weit aufgeschnitten. Die Klitoridektomie steht häufig im Zusammenhang mit der Annahme, die Entfernung der als männlich geltenden Klitoris sei erforderlich, damit ein Mädchen zur Frau werden kann. Klitoridektomie und Exzision dienen in jedem Fall dazu, die als sündhaft geltende sexuelle Erregung der Frau beim Koitus zu unterdrücken. Zumeist ist der Geschlechtsverkehr für die beschnittene Frau nicht lustvoll, sondern schmerzhaft.

Wenn die Genitalverstümmelung im Rahmen eines Ritus bei mehreren Mädchen nacheinander mit einem Messer, einer Schere, einer Rasierklinge, einer Glasscherbe oder dem Deckel einer Konservendose durchgeführt wird, kommt es leicht zu Infektionen. Auch durch den unvollständigen Abfluss von Urin und Menstruationsblut nach einer Infibulation steigt das Infektionsrisiko. Beim Geburtsvorgang, für den die Vulva im Fall einer Infibulation aufgeschnitten werden muss, erhöht die Beschneidung die Schmerzen der Mutter und es kann aufgrund des vernarbten und deshalb weniger dehnungsfähigen Gewebes im Genitalbereich zu zusätzlichen Komplikationen kommen. In einigen Regionen wird die Infibulation nach jeder Geburt erneuert (Refibulation), obwohl das Gewebe dabei noch stärker vernarbt.

Seit einigen Jahren brandmarken internationale Organisationen wie WHO, UNICEF und Terre des Femmes die Beschneidung von Mädchen als genitale Verstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) und versuchen, die grausame Tradition u. a. durch entsprechende Aufklärungsaktionen zu bekämpfen. Rüdiger Nehberg und dessen Lebensgefährtin Annette Weber gründeten 2000 die Organisation „Target“, organisierten Konferenzen gegen die genitale Verstümmelung in Äthiopien, Dschibuti, Mauretanien und erreichten, dass hohe muslimische Geistliche im November 2006 in Kairo eine Fatwa gegen die Beschneidung von Mädchen aussprachen.

Bis 2013 standen Genitalverstümmelungen in Deutschland lediglich als Körperverletzung unter Strafe, verjährten also nach fünf bis zehn Jahren. Seit Herbst 2013 ist Genitalverstümmelung ein eigener Straftatbestand, und die Verjährungsfrist beträgt 20 Jahre. Weil dies nur für in Deutschland vorgenommene Beschneidungen gilt, hat sich die Zahl der sog. „Ferienbeschneidungen“ erhöht.

Der ungarisch-stämmige Arzt Pierre Foldès in Paris gilt als Pionier der Rekonstruktion beschnittender weiblicher Genitalien. Auch am Klinikum Waldfriede in Berlin-Zehlendorf sind Ärzte in der Lage, beschnittene weiblichen Genitalien zumindest teilweise wiederherzustellen und den Frauen dadurch auch die körperliche Orgasmus-Fähigkeit zu verschaffen. Die Wundheilung dauert allerdings Monate.

Literatur über die weibliche Genitalverstümmlung

  • Eiman Okroi: Weibliche Genitalverstümmelung im Sudan. Female Genital Mutilation. Hamburg 2001 (Dissertation)
  • Terre des Femmes (Hg.): Schnitt in die Seele. Weibliche Genitalverstümmelung, eine fundamentale Menschenrechtsverletzung. Frankfurt/M 2003
  • Waris Dirie: Wüstenblume, München 1988
  • Waris Dirie und Corinna Milborn: Schmerzenskinder. Berlin 2005

© Dieter Wunderlich 2005 – 2015

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