Günter Grass


Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 als Sohn eines protestantischen Lebensmittelhändlers und einer Katholikin kaschubischer Herkunft in Danzig-Langfuhr (heute: Gdansk) geboren. Der Vater trat 1936 in die NSDAP ein.

Mein Vater ist der typische opportunistische Mitläufer gewesen.
(Günter Grass, zit. Heinrich Vormweg: Günter Grass, Seite 22)

Am 10. November 1944 wurde Günter Grass zur Waffen-SS einberufen und zum Panzerschützen ausgebildet (10. SS-Panzer-Division „Jörg von Frundsberg“). Nach einer Verwundung am 20. April 1945 geriet er am 8. Mai in amerikanische Gefangenschaft.

Nach seiner Freilassung am 24. April 1946 wollte Günter Grass zuerst in Göttingen das Abitur nachholen, aber dann überlegte er es sich anders und arbeitete etwa ein Jahr lang als Koppeljunge in einem Kalibergwerk zwischen Hildesheim und Hannover – bis er die Namen seiner Eltern und seiner Schwester Waltraut auf einer Flüchtlings-Liste des Roten Kreuzes entdeckte und erfuhr, dass sie in der Nähe von Köln als Hilfskräfte bei einem Großbauern untergekommen waren. Er fuhr zu ihnen, blieb aber nur zwei oder drei Wochen, dann nahm er einen Zug nach Düsseldorf und absolvierte dort ein Steinmetz-Praktikum. 1948 bis 1952 studierte er Grafik und Bildhauerei an der Kunstakademie in Düsseldorf. Dieses Studium setzte er bei Karl Hartung (1908 – 1967) an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin fort, bis er 1956/57 seine ersten Arbeiten in Berlin und Stuttgart ausstellte.

Parallel zu seiner Arbeit als bildender Künstler begann Günter Grass zu schreiben und gehörte ab 1957 der „Gruppe 47“ an. Sein erster Gedichtband erschien 1956: „Die Vorzüge der Windhühner“. Sein Theaterstück „Hochwasser“ wurde am 19. Januar 1957 in Frankfurt am Main uraufgeführt. Der im Jahr darauf veröffentlichte Roman „Die Blechtrommel“ – eines der bedeutendsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur – machte ihn weltberühmt.

Das Manuskript hatte Günter Grass in Paris verfasst, wo er sich von Anfang 1956 bis Anfang 1960 mit der Schweizer Balletttänzerin Anna Schwarz aufhielt, die von 1954 bis 1978 seine Frau war, und wo 1957 die Zwillinge Franz und Raoul geboren wurden. (Dreißig Jahre später lebte er noch einmal einige Zeit im Ausland, und zwar von August 1986 bis Januar 1987 mit der Organistin Ute Grunert, die er 1979 geheiratet hatte, in Indien, meistens in Kalkutta.)

Die Verabsolutierung der Form machte der Dichter und Schriftsteller Günter Grass nicht mit:

Wenn Künstlers Hand eine Zeitlang gesucht hat, doch leer blieb oder Gefundendem nicht geschickt genug war, schimpft Künstlers Mund über Inhalte, und Künstlers Kopf erinnert sich ureigenster, formaler Fähigkeiten und Qualitäten. „Es kommt nicht auf das Was an, nur auf das Wie. Der Inhalt stört nur, ist Konzession, fürs Publikum, die Kunst will die Form an sich, die Kunst ist zeitlos, muss Raum und Zeit überwinden, hat schon überwunden, nur die im Osten, die machen noch auf sozialen Realismus. Wir aber […] sind uns selbst voraus, der Flug unserer Ideen sprengt tagtäglich und von Berufs wegen alle lästigen Formate.“ – Was kann man nicht alles machen, wenn man Fantasie hat. Neue Perspektiven, Konstellationen, Strukturen, Aspekte, Akzente; und alles noch nie dagewesen. Die Maler entdecken die Fläche (als hätte Raffael Löcher in die Leinwand gebohrt), die Lyriker verweisen auf ihr Unterbewusstsein und träumen, wenn auch literarisch ergiebig, nicht ohne Angst, selbst in diesem Metaphereldorado zum Epigonen werden zu können oder, was noch schlimmer wäre, von epigonalen Traum- und Unterbewusstseinsräubern ausgeplündert zu werden.
(Günter Grass: Aufsätze zur Literatur, Darmstadt / Neuwied 1980, Seite 8f)

Überambitionierte stilistische Experimente belustigten Günter Grass ebenfalls:

Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn.
(Günter Grass: Die Blechtrommel)

Günter Grass misstraute Ideologien und Fanatikern zutiefst.

Ich bin ein Gegner der Revolution. Ich scheue Opfer, die jeweils in ihrem Namen gebracht werden müssen. Ich scheue ihre übermenschlichen Zielsetzungen, ihre absoluten Ansprüche, ihre inhumane Intoleranz. (Günter Grass: Denkzettel)

Ich halte es mit dem Mythos des Sisyphos von Camus, dass der Stein nie oben liegen bleibt. Nichts hasse und fürchte ich mehr als Ideologien, die mir einen Endzustand, den glücklichen Menschen beschreiben. (Günter Grass, Börsenblatt, 18. April 2001)

Nachdem er 1961 Willy Brandt persönlich kennen gelernt hatte, engagierte Günter Grass sich ab 1965 in mehreren Wahlkämpfen für die SPD – nicht als überzeugter Anhänger (Parteimitglied war er von 1982 bis 1993), sondern um „das kleinere Übel“ zu fördern. Immer wieder äußerte er sich zu politischen Themen. Er wollte nicht zulassen, dass seine Generation sich als Opfer der Nationalsozialisten darstellte.

Hitler als Dämon und das deutsche Volk verführt – diese These ist falsch, abgrundtief verlogen und falsch, und wirkt doch bis heute nach in Formulierungen wie, es seien im Namen der Deutschen Verbrechen begangen worden. Mir kam es darauf an zu zeigen, dass alles am helllichten Tag geschehen ist. (Günter Grass, zit. Heinrich Vormweg, a. a. O., Seite 48)

Als die Berliner Akademie der Künste eine Solidaritätsveranstaltung für Salman Rushdie abgelehnt hatte, trat er 1989 aus. (Neun Jahre später wurde er erneut Mitglied der Akademie der Künste.) Nach dem überraschenden Zusammenbruch des DDR-Regimes setzte er sich 1990 in Zeitungsartikeln dafür ein, Ostdeutschland nicht kurzerhand anzuschließen, sondern die beiden Teile Deutschlands schrittweise zusammenwachsen zu lassen.

Günter Grass ist zur moralischen Instanz, zur politischen Institution geworden […] Jede der reflexhaften Anfeindungen, die den Schriftsteller im Zeitalter eines gewandelten Intellektuellenbildes erreichen, bestätigt die öffentliche Rolle dieses notorischen Einmischers und Querdenkers.
(Dorothea Dieckmann: Der Trommler und sein Jahrhundert)

Zu einem Eklat kam es im Sommer 1995, als sein Roman „Ein weites Feld“ von Marcel Reich-Ranicki in einer „Spiegel“-Titelstory verrissen wurde – „‚Mein lieber Günter Grass …“ Marcel Reich-Ranicki über das Scheitern eines großen Schriftstellers“ (Der Spiegel, 21. August 1995) – und sich die meisten Literaturkritiker dem Verdikt eifrig anschlossen.

1999 erhielt Günter Grass den Nobelpreis für Literatur.

Anlässlich seines 75. Geburtstages druckte der Steidl Verlag in Göttingen 2002 eine von Volker Neuhaus und Daniela Hermes editierte Werksausgabe von Günter Grass in 18 Bänden (8192 Seiten).

Dass er als Jugendlicher gegen Ende des Zweiten Weltkriegs bei der Waffen-SS gewesen war, gab Günter Grass erst 61 Jahre später zu, am 12. August 2006 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Das späte Geständnis gerade eines berühmten Mahners löste heftige kontroverse Reaktionen aus. Damit gelang es Günter Grass jedenfalls, besondere Aufmerksamkeit auf sein neues Buch zu lenken: die Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ (479 Seiten, Steidl Verlag, Göttingen 2006). Klaus Wiegrefe vom „Spiegel“ wies darauf hin, schon vor dem Outing habe sich durch eine einfache Recherche in der Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin feststellen lassen, dass Günter Grass bei der Waffen-SS gewesen war.

Günter Grass starb am 13. April 2015 in Lübeck.

Günter Grass: Bibliografie (Auswahl)

  • Die Vorzüge der Windhühner (Gedichte, 1956)
  • Hochwasser (Theaterstück, UA 1957)
  • Die Blechtrommel (Roman, 1959)
  • Noch zehn Minuten bis Buffalo (Theaterstück, UA 1959)
  • Zweiunddreißig Zähne (Hörspiel, 1959)
  • Gleisdreieck (Gedichte, 1960)
  • Die bösen Köche (Drama, UA 1961)
  • Katz und Maus (Novelle, 1961)
  • Hundejahre (Roman, 1963)
  • Goldmäulchen (Theaterstück, UA 1964)
  • Onkel, Onkel. Ein Spiel in vier Akten (1956/57 / UA 1965)
  • Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel (UA 1966)
  • Über meinen Lehrer Döblin (1967)
  • Örtlich betäubt (Roman, 1969)
  • Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972)
  • Der Bürger und seine Stimme. Reden, Aufsätze, Kommentare (1974)
  • Liebe geprüft (Gedichte, 1974)
  • Der Butt (Roman, 1977)
  • Denkzettel. Politische Reden und Aufsätze (1978)
  • Das Treffen in Telgte (Erzählung, 1979)
  • Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus (1980)
  • Die Rättin (Roman, 1986)
  • Zunge zeigen (1988)
  • Unkenrufe. Eine Erzählung (1992)
  • Novemberland (Gedichte, 1993)
  • Ein weites Feld (Roman, 1995)
  • Mein Jahrhundert (1999)
  • Ein Schnäppchen namens DDR (2000)
  • Im Krebsgang (Roman, 2002)
  • Beim Häuten der Zwiebel (Autobiografie, 2006)
  • Die Box (Roman, 2008)
  • Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung (2010)

Literatur über Günter Grass

  • Britta Gries: Die Grass-Debatte. Die NS-Vergangenheit in der Wahrnehmung von drei Generationen (Marburg 2008)
  • Michael Jürgs: Bürger Grass (München 2002)
  • Hanjo Kesting (Hg.): Die Medien und Günter Grass (Köln 2008)
  • Christoph König: Häme als literarisches Verfahren: Günter Grass, Walter Jens und die Mühen des Erinnerns (Göttingen 2008)
  • Claudia Mayer-Iswandy: Günter Grass (München 2002)
  • Per Øhrgaard: Günter Grass. Ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt (Übersetzung: Christoph Bartmann; München 2007)
  • Dieter Stolz: Günter Grass, der Schriftsteller. Eine Einführung (Göttingen 2005)
  • Heinrich Vormweg: Günter Grass (Reinbek 1986)
  • Harro Zimmermann: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses (Göttingen 2006)

© Dieter Wunderlich 2005 – 2008

Heinrich Vormweg: Günter Grass

Günter Grass: Die Blechtrommel (Verfilmung)
Günter Grass: Katz und Maus
Günter Grass: Der Butt
Günter Grass: Das Treffen in Telgte
Günter Grass: Die Rättin
Günter Grass: Unkenrufe (Verfilmung)
Günter Grass: Mein Jahrhundert
Günter Grass: Im Krebsgang
Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung

George Orwell - 1984
Bei "1984" handelt es sich um eine düstere und hoffnungslose Vision, eine beklemmende Warnung vor der uneingeschränkten Vereinnahmung der Menschen durch eine Parteielite. Der längst als Klassiker geschätzte Roman ist aktueller denn je.
1984