Hirngespinster
Hirngespinster
Inhaltsangabe
Kritik
Simon (Jonas Nay) ist Ende 22. Er wohnt noch bei seinen Eltern Hans und Elli Dallinger (Tobias Moretti, Stephanie Japp) in einem Einfamilienhaus in Memmingen. Und statt zu studieren, fährt er einen Schulbus.
Sein Vater ist Architekt und leitete früher mit seinem Freund und Kollegen Jochen Benrath (Stefan Hunstein) – Simons Patenonkel – ein erfolgreiches Architektenbüro. Die beiden kamen sogar aufs Titelbild des Magazins „Monopol“. Hans Dallinger leidet seit seiner Jugend unter paranoider Schizophrenie. Als sein Zustand das Unternehmen gefährdete, trennte sich sein Geschäftspartner Jochen Benrath von ihm. Das hat ihm Hans Dallinger nicht verziehen.
Zwei Jahre lang ging es ihm ganz gut, und erstmals seit langer Zeit nimmt er wieder an einem Architektur-Wettbewerb teil. Es geht um ein Bergbaumuseum.
Nachts wird Simon wach. Sein Vater hat eine Leiter ans Nachbarhaus gelegt und reißt die neue Satellitenschüssel herunter, von der er glaubt, dass sie auf sein Atelier ausgerichtet ist, um seine Ideen auszuspähen. Dahinter vermutet er Jochen Benrath. Der könnte die Nachbarn (Susanne Schroeder, Marcus Calvin) bestochen haben, um an Ideen für den Wettbewerb zu kommen.
Als am nächsten Tag die vom Ehepaar Hagedorn gerufene Polizei (Joachim Nimtz, Ilja Roßbander) bei den Dallingers klingelt und fragt, ob sie nachts etwas gehört oder gesehen hätten, lügt Simon und deckt seinen Vater. Die Satellitenschüssel könne auch der Sturm heruntergerissen haben, sagt er.
Vor einer Diskothek lernt Simon eine junge Frau namens Verena (Hanna Plaß) kennen, die in Hamburg Medizin studieren möchte und nach Memmingen gekommen ist, um die Wartezeit mit einem Praktikum im Krankenhaus zu überbrücken. Die beiden fühlen sich zu einander hingezogen und verabreden sich.
Die Hagedorns lassen die kaputte Satellitenschüssel ersetzen. Hans Dallinger stürmt auf die Straße und beschimpft die beiden Monteure (Thomas Grässle, Moritz Fischer), die gerade mit der Arbeit fertig sind und zu ihrem Transporter zurückkehren. Sie bleiben ruhig, lassen sich nicht provozieren, versuchen auch ihn nicht weiter zu reizen und steigen schließlich ein. Da holt der Architekt eine Axt und schlägt damit auf die Motorhaube des anfahrenden Fahrzeugs ein. Die Handwerker fliehen.
Zur gleichen Zeit trifft Simon bei Verena ein. Sie hat ihn zum Essen eingeladen. Aber bevor sie sich setzen, erhält Simon einen Anruf seiner Mutter und muss weg: Die Polizei ist gekommen, um seinen Vater abzuholen. Simon will vermitteln, aber es gelingt ihm nicht. Sein sich sträubender Vater wird vor den Augen der Nachbarn und schaulustiger Passanten gewaltsam abgeführt.
Während Elli Dallinger dem Streifenwagen nachfährt, kümmert sich Simon um seine kleine Schwester Maja (Ella Frey). Einige Stunden später kommt die Mutter mit der Nachricht zurück, dass der Vater zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde.
Simon befürchtet, dass er die Krankheit seines Vaters geerbt haben könnte. Dr. Steinhauer (Johannes Silberschneider), der behandelnde Arzt im Krankenhaus, versucht ihn mit der Bemerkung zu beruhigen, dass eine Psychose wie die seines Vaters lediglich in 20 Prozent der Fälle vererbt werde. Damit verstärkt er jedoch die Angst des Jungen.
Elli Dallinger hat immer versucht, die Geisteskrankheit ihres Mannes in der Familie unbedeutend erscheinen zu lassen und Außenstehenden den Eindruck einer intakten Familie zu vermitteln. Weil Simon sich verantwortlich fühlt, ihr dabei zu helfen und Maja zu beschützen, ist er in Memmingen geblieben, statt zu studieren. Erst nach längerer Zeit nimmt er wieder Kontakt mit Verena auf und entschuldigt sich für den verpatzten Abend. Sein Vater habe einen Unfall gehabt, lügt er, aber es sei zum Glück nichts Schlimmes.
Simon verliert seine Anstellung als Schulbusfahrer. Weil Eltern verlangt haben, dass ihre Kinder nicht länger vom Sohn eines Geistesgestörten gefahren werden, muss ihn Rainer Grabowski (Jörg Witte) entlassen.
Elli Dallinger bezahlt für die von ihrem Mann verursachten Schäden. Dr. Steinhauer erklärt ihn für schuldunfähig. Deshalb wird Hans Dallinger wegen des Angriffs gegen die beiden Monteure nicht juristisch belangt. Und als die Psychopharmaka erfolgversprechend eingestellt sind, darf er wieder nach Hause.
Vergeblich bemüht sich Elli Dallinger, ihren Mann zur Einnahme der Neuroleptika zu überreden. Er weigert sich strikt und wirft die Pillen in den Papierkorb. Aus Sorge vor einer erneuten Zwangseinweisung in die Psychiatrie beginnt die verzweifelte Ehefrau die Tabletten zu zerstoßen und das Pulver in die Nachspeisen für Hans zu mischen. Simon ertappt sie dabei. Obwohl er die Maßnahme für falsch hält, weil dadurch das Selbstbestimmungsrecht seines Vaters unterlaufen wird, spielt er mit.
Eines Abends lässt Hans Dallinger seinen Pudding stehen. Maja will ihn aufessen. Simon hält sie davon ab. Da durchschaut Hans Dallinger, dass ihm Psychopharmaka ins Essen gemischt wurden. Ohne ein Wort zu sagen, schließt er sich in seinem Atelier ein. Nun hat sich also sogar seine eigene Familie von Jochen Benrath kaufen lassen! Wegen der Sedierung hatte er zuletzt Schwierigkeiten, mit der Arbeit für die Ausschreibung weiterzukommen! Er schottet sich ab. Und statt mit der Familie zu essen, ernährt er sich in seinem Atelier mit Konserven.
Um seine Ideen zu schützen, wickelt Hans Dallinger nicht nur seine Pläne in Goldfolie ein, sondern beginnt auch die Wände im Haus damit auszukleiden.
Verena möchte Simon, mit dem sie inzwischen auch geschlafen hat, am Tag vor ihrer Abreise nach Hamburg mit einem Abschiedsbesuch überraschen. Im Haus der Dallingers bemerkt sie als erstes den Architekten, der auf einer Leiter steht und mit Hilfe seiner kleinen Tochter Maja eine Wand mit Goldfolie tapeziert. Simon kommt aus seinem Zimmer. Ihm ist es peinlich, dass Verena das alles sieht. Enttäuscht verabschiedet sie sich von ihm.
Am Abend besinnt Simon sich und geht zu Verena. Endlich klärt er sie über die Geisteskrankheit seines Vaters und seine Sorge vor einer Vererbung auf. Die Nacht verbringt er bei ihr. Am Morgen hilft er ihr beim Packen und Verladen der Sachen in ihrem Auto.
Zu Hause informiert er sich auf einer Website über die Studienmöglichkeiten in Hamburg. Wenn er nur auch von hier weg und mit Verena zusammen studieren könnte.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
In der Nacht vor dem Abgabetermin für den Architektur-Wettbewerb verschwindet Hans Dallinger mit dem Wagen. Simon findet das Fahrzeug am Morgen vor dem Postamt und setzt sich auf den Beifahrersitz. Sein Vater kommt aus dem Postamt, steigt ein, wundert sich über die Anwesenheit seines Sohnes, fährt jedoch los, ohne ein Wort zu sagen. Er verbrachte die Nacht unter einer Autobahnbrücke im Wagen. Als ein Streifenpolizist (Thomas Limpinsel) seine Papiere sehen wollte, gab er Gas und floh. Während er nun mit Simon nach Hause fahren will, entdeckt die Besatzung eines Streifenwagens das gesuchte Fahrzeug. Hans Dallinger flüchtet erneut. Als er bei Rot vor einer Verkehrsampel hält, blockiert ihn ein Streifenwagen. Statt aufzugeben, umkurvt Hans Dallinger das Polizeifahrzeug. Simon zieht die Handbremse. Mitten auf der Kreuzung bleibt das Auto stehen. Ein anderes Fahrzeug kracht in die Beifahrertür.
Simon wird ins Krankenhaus gebracht. Dort erfährt er von seiner Mutter, dass der Vater erneut in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Elli übergibt ihrem Sohn eine Ansichtskarte, die Verena aus Hamburg schickte.
Die Jury, die beim Architektur-Wettbewerb über die anonymisierten Arbeiten entscheidet, spricht den ersten Preis Hans Dallingers Entwurf zu. Mit dem Geld können die Dallingers endlich ihre Schulden tilgen.
Simon begreift, dass die Kreativität seines Vaters ebenso zu dessen Persönlichkeit gehört wie die Geisteskrankheit. Psychopharmaka gegen die Schizophrenie würden auch die Schaffenskraft des Architekten zerstören. „Ich verstand etwas, was meine Mutter schon immer gewusst hat. Er würde niemals akzeptieren, was mit ihm los ist. Denn dieser Gedanke hätte ihn umgebracht.“ Als Simon seine Mutter fragt, wie sie das alles aushalte, antwortet sie schlicht, dass sie Hans liebe. Und Simon flachst schließlich: „Wer hin und wieder den Verstand verliert, der hat wenigstens einen.“
Als der Vater wieder zu Hause ist, verabschiedet Simon sich von der Familie. Er fährt mit dem Zug nach Hamburg, wo Verena auf ihn wartet und er sich erfolgreich um einen Studienplatz beworben hat. Endlich kann er ein eigenes Leben beginnen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Christian Bach (* 1977) veranschaulicht in dem Drama „Hirngespinster“ – seinem Debütfilm –, was es für eine Familie bedeuten kann, wenn ein Mitglied psychisch krank ist. Zugleich ist „Hirngespinster“ eine Coming-of-Age-Geschichte über die Abnabelung eines jungen Mannes und ein Plädoyer sowohl für die Liebe als auch für die Familie.
Der Plural von „Hirngespinst“ lautet eigentlich „Hirngespinste“, aber die Assoziation des Titels „Hirngespinster“ mit „Gespenster“ verweist auf Hans Dallingers paranoide Krankheit.
In einem Interview erzählte Christian Bach, dass er bei der Filmfigur Hans Dallinger an den Vater eines Jugendfreundes dachte, der die Nachbarn mit einer Schrotflinte bedrohte. In „Hirngespinster“ ist es statt einer Schusswaffe eine Axt. Das erinnert an „Shining“, obwohl „Hirngespinster“ alles andere als ein reißerischer Horrorfilm ist.
In Filmen über paranoide Personen wird oft versucht, das Geschehen aus deren Sicht darzustellen. Christian Bach erzählt die Geschichte dagegen weitgehend aus der Perspektive Simon Dallingers und lässt den Sohn des psychisch Kranken als Ich-Erzähler auftreten. Allerdings fügt er auch Szenen ein, die Simon nicht erlebt hat (zum Beispiel die unter der Autobahnbrücke in der Nacht vor dem Abgabetermin für den Architektur-Wettbewerb). Die Wahl dieser Identifikationsfigur akzentuiert die Angst des Sohnes vor einer Vererbung der Psychose und die Gefahr, dass er aufgrund der Familienverhältnisse zu spät mit dem Aufbau eines eigenen Lebens anfängt.
Christian Bach entwickelt die Geschichte ruhig und differenziert, ohne Effekthascherei und stilistische Gimmicks. Dabei gelingt es ihm auch, zwischen Tragik und Komik zu balancieren. Trotz des ernsten Themas und erschütternder Szenen ist „Hirngespinster“ kein deprimierender Film.
Tobias Moretti und Jonas Nay wurden für ihre Rollen in „Hirngespinster“ mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet, Tobias Moretti als bester Darsteller, Jonas Nay als bester Nachwuchsschauspieler.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016