Ernst Augustin : Robinsons blaues Haus

Robinsons blaues Haus
Robinsons blaues Haus Originalausgabe: Verlag C. H. Beck, München 2012 ISBN: 978-3-406-62996-9, 319 Seiten Taschenbuch: dtv, München 2015 ISBN: 978-3-423-14410-0, 319 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, scheint von seinem Vater ein riesiges, auf Geheimkonten verstreutes Vermögen geerbt zu haben. Der Vater, ein Bankangestellter, schärfte ihm zwar ein, redlich zu sein, betätigte sich jedoch selbst im großen Stil als Geldwäscher. Wegen eines fehlenden Geldkoffers wurde er erschossen, und der Sohn fühlt sich nun ebenfalls verfolgt. Der Einzelgänger ist deshalb viel unterwegs und lebt zeitweise in der Südsee. Die einzige Freundschaft pflegt er in einem Chatroom ...
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Kritik

Ernst Augustin spielt in dem pika­resken Roman "Robinsons blaues Haus" mit der Identität des Ich-Erzählers ebenso wie mit literari­schen Gattungen. Dabei beweist er eine leichte Hand, viel Witz und eine überbordende Fabulierlaune.
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In einer früheren, ferneren Version dieser Geschichte sagt Daniel Defoe, er habe eines der unglaublichsten und abenteuerlichsten Leben gehabt.
Ich sage: Ich auch.

Der Ich-Erzähler, der sich in einem Chatroom als Robinsonsuchtfreitag angemeldet hat, weil es den Nickname Robinson bereits 15-mal gab, chattet regelmäßig mit einer Person, die sich Freitag nennt. Wenn er sich in Grevesmühlen aufhält, wo man ihn übrigens für Butte Beerbohm hält, geht er dazu in Bodos Internet-Café in der Otto-Grotewohl-Straße. Sein Nachhauseweg führt in einen Fußgängertunnel und durch einen unauffälligen Seitenausgang mit der Aufschrift „Bhn W4“. Er wohnt dort in einer 284 mal 238 Zentimeter großen, 314 Zentimeter hohen Gerätekammer in der dritten Etage der Bahnmeisterei, die er nach dem Kauf exklusiv einrichten ließ.

Willkommen im Besenschrank.
Ich bin zu Hause.
[…] Zur Begrüßung habe ich mir einen sanften Glenfiddich in Glaskaraffe hingestellt. Zum Wohligsein. Die Holztäfelung, die ich aus einem ganz erlesenen Holz habe anfertigen lassen, atmet einen leisen zimtartigen Geruch. Es ist Abend. Und, ja, die leise einsetzende Musik aus „Hotel Costes“, die darf ich nicht unerwähnt lassen, es handelt sich um einen schwer zu beschreibenden braunsamtenen Tango, broch, broch, broch.

Seine Türe hat er mit einer acht Millimeter dicken Stahlplatte verstärken lassen, weil er verfolgt wird. Grund dafür sind frühere Machenschaften seines inzwischen verstorbenen Vaters.

Als der Erzähler noch ein Kind war, zog die Familie häufig um, weil der Vater, ein Bankangestellter, immer wieder den Arbeitgeber wechselte. Ursprünglich war er bei der Lübschen Kredit- und Depositenbank beschäftigt. Als der Sohn acht Jahre alt war, machte sich dieser bei einem Kindergeburtstag mit dem gesamten Spielgeld aus dem Staub und wagte sich erst gegen 22 Uhr nach Hause. Der Vater schärfte ihm damals ein, dass Redlichkeit sich auszahle. Außerdem meinte er, der Sohn werde eines Tages entdecken, dass er mitten unter all den Menschen allein wie auf einer unbewohnten Insel sein werde.

Zwei Jahre später zog die Familie nach Minden, wo der Vater bei der Westfälischen Kredit und Hypo anfing. Der zehnjährige Sohn wurde in der Schule gemobbt, wegen des Dialekts, der Kleidung und nicht zuletzt, weil er sich im Unterricht immer wieder meldete.

Sie taten mir ja nichts, im allgemeinen, aber es war wieder ein solcher Tag gewesen, an dem ich unglücklicherweise den genauen Lichtweg oder die Lichtwege konvexer und konkaver Linien gewusst hatte, was ja nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Ging also besser hinten herum […]

Die Mitschüler verstellten ihm den Weg und forderten ihn auf, in „die Kuhle“ zu springen. Da ging es zehn Meter tief. Er erklärte sich bereit zu der Mutprobe, vertröstete die anderen jedoch auf den nächsten Montag. Das war der erste Ferientag. Da brauchte er nicht in die Schule zu gehen und konnte sich verstecken. Aus einem alten Badeofen baute er sich eine Taucherglocke im Färbergraben und verbrachte darin die Ferien. Im Herbst zog die Familie dann ohnehin aus Minden weg.

Auf Wunsch des Vaters machte er eine Lehre bei der Lübschen Kredit- und Handelsbank und wurde Bankkaufmann.

Die blasse und lymphatische Mutter war bereits gestorben, als er mit seinem Vater in einer Villa in Luxemburg wohnte. Er arbeitete dort beim Crédit Lyonnaise, sein Vater bei der Banque de Luxemburg. Eines Tages, als sie gemeinsam nach Hause kamen, fanden sie das Arbeitszimmer des Vaters durchwühlt und verwüstet vor. Der Vater meinte, die Einbrecher hätten nach einem bestimmten Schlüssel gesucht, aber dabei handele es sich um einen Code und den habe er im Kopf. Aufgrund des Vorfalls vertraute der Vater seinem Sohn den Code an und brachte ihn dazu, sich ihn einzuprägen. Erst jetzt erfuhr der Sohn, dass der Vater große Summen Bargeld wusch, die er aus toten Briefkästen abholte. Auch der verschrottete Badeofen am Färbergraben in Minden sei so ein Depot gewesen, sagte der Vater, aber der sei eines Tages samt dem Geldkoffer verschwunden. Seither werde er verfolgt. Bald darauf stand die Haustüre offen, als der Sohn nach Hause kam. Das Schloss hatte man herausgebrochen, und der Vater lag mit einem Schussloch in der Stirn auf dem Fußboden des Arbeitszimmers.

Inzwischen sind die Verfolger hinter dem Sohn her, der den Code kennt und ein gewaltiges, auf Geheimkonten und Investments verstreutes Vermögen geerbt hat. Der Erzähler ist deshalb unter wechselnden Identitäten viel unterwegs: Lüttich, Dijon, Warschau, Athen. In Istanbul gehört ihm das Hotel Güllül Pascha im Beyoglu Viertel. In London hat er sich das Gruselkabinett The London Dungeon gekauft.

In Kaiserslautern in der Einkaufszone betrete ich als blonder langhaariger Mensch das große Untergeschoss des Hertie und komme als Rentner mit Mütze in Saarbrücken wieder heraus.

Er überlegt, ob er seinen Wohnsitz ganz auf die Schiene verlegen soll, etwa durch eine permanente Schlafwagenreservierung. Auch einen Gefängnisaufenthalt zieht er in Betracht.

Ich hatte von jeher eine Neigung zu Gefängnissen, sind sie doch, meiner Meinung nach, der einzig sichere Ort, an dem man sich aufhalten kann […] Ich denke an die ungeheuerlichen Sicherheitsmaßnahmen, die zu bezahlen kein normal lebender Mensch in der Lage wäre […] Die Kosten für die teuerste Hollywoodvilla wären ein Pappenstiel gegen diesen ungeheuerlichen Luxus.
Der umsonst zu haben ist! Auf Staatskosten!

Ähnliche Wohnungen wie in Grevesmühlen besitzt er auch in anderen Städten. Als ihn die Verfolger aufgespürt haben, reist er ab. In Schwerin schlagen sie ihn zusammen.

Bewusstlos war ich nicht, doch tot, oh ja, tot bin ich sicherlich gewesen.

Er setzt sich in die Südsee ab. Das Internet-Café auf dem Atoll Funafuti heißt „Island Dream“.

Man hält mich hier für einen Säufer. Und zwar zu Recht.

Er heuert auf dem Zweimaster „Cook“ an. Sechs Mann gehören zur Besatzung. Käpten Kuk ist Melanesier. Seine Vorfahren waren noch Menschenfresser. Niemand an Bord weiß, dass das Schiff dem Erzähler gehört. Der Schiffsjunge Freitag wird von den anderen gemobbt. Käpten Kuk persönlich macht sich einen Spaß daraus, ihn in seiner Kajüte mit schwarzer Schuhcreme einzureiben. Als Freitag vor der unbewohnten Insel Naoumu vollständig schwarz eingefärbt und nur mit einem Baströckchen bekleidet das Deck schrubben soll, ermutigt der Erzähler ihn, mit ihm zusammen über Bord zu springen. Sie schwimmen zur nahen Insel. Dort wälzt Freitag sich im weißen Sand, und der Erzähler denkt bei dem Anblick an gezuckerte Lakritze. Am nächsten Tag verschwindet Freitag spurlos.

Meine eigene Abreise stellte dann kein Problem dar, in dieser heutigen Welt. In einer früheren hätte ich vielleicht dreißig Jahre lang am Strand gesessen und auf ein vorbeifahrendes Schiff gewartet, das dann tatsächlich vorbeigefahren wäre. Bis endlich das nächste, nach weiteren dreißig Jahren, ebenso vorbeifährt. Heute zücke ich mein Mobilphone und bestelle mir ein Taxi – es sind ohnehin nur anderthalb Flugstunden bis Pago Pago, also kein Problem (sprich Pengo Pengo).

Er kehrt nach Grevesmühlen zurück. Im Chatroom plaudert er weiter mit Freitag und verabredet schließlich mit der Person ein Treffen im Bahnhof von Grevesmühlen. Erkennungsmerkmal: eine rote Tasche. Von den zur vereinbarten Zeit aus einem Zug ausgestiegenen Fahrgästen trägt niemand außer einer schönen Frau eine rote Tasche. Er folgt ihr gebannt ein paar Meter und vergisst darüber Freitag. Wieder im Internet-Café, beschwert er sich, dass Freitag nicht gekommen sei. Aber Freitag widerspricht:

Ich bin gekommen.
Bist du nicht.
Bin ich doch.
– – –
Du hast mich sogar angesehen.
– – –
Wie ein Idiot.
– – –
– – –
Du willst doch nicht etwa sagen … Lieber Freitag, du willst doch nicht …
– – –
Das willst du doch nicht etwa sagen!!!

Freitag ist eine Frau! Und sie scheint in einer Besenkammer im 4. Stockwerk genau über der seinen zu wohnen. Zunächst stellt er sich einen verbindenden Durchbruch vor, aber dann teilt er Freitag im Chatroom mit, er habe Größeres vor: eine gemeinsame Wohnung in New York.

Dort kauft er von Blum & Shearl die oberen sechs der 68 Etagen des aus den Dreißigerjahren stammenden Wyman Tower in der 36. Straße West. Während des Umbaus wohnt er als Mr Dobis aus Witchita/Massachusetts im Chelsea Hotel und gibt sich als Reinigungskraft aus.

Hineingeht ein Mr Dobs. Herauskommt Marco Marconi, auch genannt Don Marco oder einfach M. M., und den sollte man besser nicht kennen.

Den Architekten Frank C. Wainright bringt er mit seinen ausgefallen Wünschen so zur Verzweiflung, dass dieser sich schließlich erschießt.

Als die Wohnung im Wyman Tower bezugsfertig ist, erwartet er Freitag bei Luigi’s. Er hat das ganze Restaurant gemietet und Sicherheitskräfte postiert. Nachdem er eine Stunde lang vergeblich gewartet hat, hält eine schwarze Stretchlimouse. Die Kapelle intoniert „Volare“. Aber es ist nicht die erwartete Dame, sondern ein höflicher kleiner Herr, der dem Erzähler bereits mehrfach begegnete. Beispielsweise saß er ihm in einem Zug nach Lüttich gegenüber. Der Herr setzt sich zu dem Wartenden und erklärt ihm, dass die Dame nicht kommen werde, weil es sie nie gegeben habe. Er sei Freitag. Dann rettet er ihm das Leben, indem er ihn warnend darauf hinweist, dass die Anwesenden zwei verfeindeten Banden angehören. Der Erzähler geht zur Toilette. Bevor er durchs offene Fenster hinausklettert, hört er, wie die Schießerei beginnt.

Erneut setzt er sich in die Südsee ab. Er lebt fortan auf Skull Island, auch Kamehameha oder St. Phyllis genannt, einer Insel, die großenteils mit Sperrmüll bedeckt ist. Es geht ihm gut. Er wird von einer Frau verwöhnt und vermutet, dass sie nicht allein ist, sondern von einer Kollegin oder vielleicht auch von zwei Kolleginnen abgelöst wird. Auf einer Reisstrohmatte liegend baut er sein letztes Haus. Hin und wieder kommt ein weißes Schiff vorbei. Die Menschen an Bord winken, und er winkt zurück. Das wiederholt sich, bis das Schiff eines Tages vor Reede geht und der freundliche Herr mit einem Boot zur Insel gebracht wird. Da legt der Erzähler seinen Finger auf die Taste ERASE. Falls er sie drückt, ist alles weg: Bankkonten, Depots, Goldbestände, Mobilien und Immobilien ebenso wie die Geheimcodes.

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Angeregt von den Erlebnissen des Seemanns Alexander Selkirk (1676 ‐ 1721), der viereinhalb Jahre auf der zum Juan-Fernández-Archipel vor der chilenischen Küste gehörenden unbewohnten Isla Más a Tierra verbracht hatte (1704 – 1709), veröffentlichte der Journalist Daniel Defoe 1719, im Alter von 59 Jahren, seinen Debütroman „The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe“ („Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe“). Er gilt damit als einer der Begründer des englischen Romans am Übergang zum realistischen Erzählen. Knapp 300 Jahre später greift der Psychiater und Schriftsteller Ernst Augustin (* 1927) die Geschichte von Robinson Crusoe und Freitag wieder auf. Stilistisch dreht er das Rad mit „Robinsons blaues Haus“ scheinbar zurück, indem er die pikareske Handlung in eine Fantasiewelt der Träume, Imaginationen und Wahnvorstellungenverschiebt. In diesem vor dem Hintergrund einer zunehmend virtuell gewordenen Finanzwelt spielenden Erzählkosmos gilt eine eigene Logik.

„Robinsons blaues Haus“ dreht sich um einen versponnenen Einzelgänger, der unter dem Nickname Robinsonsuchtfreitag mit einer unbekannten Person chatted und von seinen Erlebnissen und Erinnerungen an die Kindheit berichtet. Für einen Chatroom sind die einzelnen Äußerungen extrem lang, in einem Roman bilden sie jedoch kurze Kapitel. „Robinsons blaues Haus“ ist eine Mischung aus Abenteuer- und Schelmenroman, Satire und Groteske, Thriller und Mafia-Roman, Autobiografie und Vater-Sohn-Geschichte. Ernst Augustin spielt nicht nur mit den literarischen Gattungen, sondern auch mit der Identität seines Ich-Erzählers, der in mehrere Rollen schlüpft, ohne dass wir seinen echten Namen erfahren. Mit leichter Hand, viel Witz und überbordender Fabulierlaune hat Ernst Augustin die einzelnen Episoden assoziativ verknüpft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag C. H. Beck

Ernst Augustin (kurze Biografie / Bibliografie)

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.