Ein Engel an meiner Tafel

Ein Engel an meiner Tafel

Ein Engel an meiner Tafel

Der Engel an meiner Tafel – Originaltitel: An Angel at My Table – Regie: Jane Campion – Drehbuch: Laura Jones, nach den autobiografischen Romanen "Zu den Inseln", "Ein Engel an meiner Tafel" und "Der Gesandte aus der Spiegelstadt" von Janet Frame – Kamera: Stuart Dryburgh – Schnitt: Veronika Jenet – Musik: Don McGlashan, Peter Tschaikowsky, Franz Schubert – Darsteller: Kerry Fox, Alexia Keogh, Karen Fergusson, Iris Churn, Kevin J. Wilson, Samantha Townsley, Glynis Angell, Natalie Ellis, Sarah Smuts-Kennedy, Colin McColl, Martyn Sanderson, David Letch, William Brandt u.a. – 1990; 150 Minuten

Inhaltsangabe

Die neuseeländische Eisenbahner-Tochter Janet Frame gilt schon in der Grundschule als schüchterne Außenseiterin. Statt mit anderen zusammen zu sein, zieht sie sich auf den Friedhof zurück und schreibt Gedichte. Nach einem Selbstmordversuch verbringt sie acht Jahre in einer Nervenheilanstalt und wird mit zweihundert Elektroschocks gemartert. Erst spät findet sie sich im Leben zurecht.

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Kritik

Langsam und unaufdringlich erzählt Jane Campion von Janet Frames Entwicklung bis zu ihrer Rückkehr nach Neuseeland mit neunund­dreißig Jahren. Dabei geht sie nicht analytisch vor, sondern porträtiert die junge Schriftstellerin mit viel Feingefühl in einem stillen, poetischen Film.
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(1) Die Insel im Fluss

Janet Frame wird am 28. August 1924 als drittes von fünf Kindern einer Eisenbahnarbeiter-Familie in dem neuseeländischen Dorf Dunedin geboren. Ihre namenlose Zwillingsschwester stirbt zwei Wochen nach der Geburt.

In der Schule in Oamaru im Süden Neuseelands gilt Janet als Außenseiterin. Um ihre Klassenkameradinnen für sich zu gewinnen, stiehlt sie ihrem Vater Geld und kauft davon Kaugummi für alle. Der Lehrerin (Ailene Herring) entgeht das Gekaue nicht. Als sie fragt, von wem die Kaugummis sind, wird Janet von einer Mitschülerin verraten und muss zur Strafe für den Rest des Unterrichts in der Ecke stehen.

Ihr Bruder George leidet unter Epilepsie. Ihre Schwester Myrtle (Melina Bernecker) ertrinkt.

Janet zieht sich noch mehr zurück, flüchtet in die Fantasie und beginnt, Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben. Für ein Gedicht wird sie erstmals in der Schule gelobt.

(2) Ein Engel an meiner Tafel

Als erste in der Familie besucht Janet Frame eine Hochschule. Sie soll Lehrerin werden. In der Stadt Dunedin wohnt sie bei ihrem kranken Onkel George (Eddie Hegan) und ihrer Tante Isy (Natalie Ellis). Ihre jüngere Schwester Isabel (Katherine Murray-Cowper, Samantha Townsley, Glynis Angell) folgt ihr nach Dunedin und teilt sich das Zimmer mit ihr. Isabel stiftet Janet an, heimlich die von Tante Isy aufgestellten Pralinenschachteln leer zu essen. Als Tante Isy – die darauf sehr stolz ist, weil es sich um Anerkennungen handelt – den Verlust bemerkt, wirft sie ihre beiden Nichten aus dem Haus.

Janet versucht vergeblich, sich einzureden, dass sie gern Lehrerin wird. Statt sich in den Pausen den anderen Referendarinnen anzuschließen, zieht sie sich allein auf den Friedhof zurück, setzt sich auf einen Grabrand und schreibt Gedichte. Als 1946 ein Schulinspektor auftaucht und sich eine Unterrichtsstunde von ihr anhören will, bringt sie kein Wort heraus und läuft davon.

Sie arbeitet als Küchenhilfe, denkt daran, Psychologie zu studieren und träumt davon, Schriftstellerin zu werden. Aber was werden die Eltern dazu sagen? Und wovon soll sie leben?

John Forrest (Colin McColl), ein von ihr bewunderter Lehrer an der Universität, erfährt aus einem autobiografischen Aufsatz Janets, dass sie versucht hat, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Daraufhin veranlasst er, dass sie in eine Nervenklinik eingewiesen wird. Mit der Diagnose Dementia praecox (Schizophrenie) kommt sie einige Zeit später zu ihrer Familie zurück.

Ihre Schwester Isabel ertrinkt bei einem Ausflug mit der Mutter (Iris Churn).

Mrs Chandler (Annabelle Lomas) rät Janet, sich die kaputten Zähne ziehen zu lassen und sich in einer anderen Irrenanstalt mit einer viel versprechenden Therapie behandeln zu lassen. Erst nach der ersten Tortur begreift sie, dass es sich bei der empfohlenen Therapie um Elektroschocks handelt. Zweihundertmal wird sie damit behandelt. Vor jeder Anwendung hat sie so viel Angst wie vor einer Hinrichtung. 1954, acht Jahre nach ihrer Einlieferung, teilt ihr einer der Ärzte mit, dass man beschlossen habe, eine Lobotomie bei ihr durchzuführen. Die schriftliche Einwilligung ihrer Mutter liege bereits vor.

Unvermittelt gratuliert ihr ein anderer Arzt zu dem Literaturpreis, den sie für ihren 1951 veröffentlichten Band mit Kurzgeschichten erhalten hat („The Lagoon“ – deutsch: „Die Lagune“). Durch die Preisverleihung wurde der Psychiater auf die Patientin aufmerksam und befasste sich mit ihrem Fall. Nach der Gratulation teilt er ihr mit, dass man sie nicht operieren, sondern entlassen werde.

Sie kommt bei dem Schriftsteller Frank Sargeson (Martyn Sanderson) unter, der in einer abgelegenen Kate in Auckland wohnt und ihr eine Hütte mit einem Bett zur Verfügung stellt, in der sie schreiben kann. So entsteht ihr erster Roman: „Owls Do Cry“ (1957; deutsch: „Wenn Eulen schreien“). Frank ermutigt sie, sich um ein Stipendium für ein Literaturstudium in Europa zu bewerben – das ihr tatsächlich bewilligt wird.

(3) Der Gesandte aus der Spiegelstadt

1957 reist Janet Frame auf einem Schiff nach Europa. In dem Hotel in London, das sie durch einen Brief von Neuseeland aus um eine Reservierung gebeten hatte, wird sie abgewiesen. Vorübergehend kommt sie bei einem Engländer namens Patrick (David Letch) unter. Dann reist sie weiter über Paris nach Spanien, wo sie sich ein Zimmer mietet. Weil sie weder eine Touristin noch eine Amerikanerin ist und fleißig mit ihrer Schreibmaschine arbeitet, gewinnt sie die Nachbarinnen für sich. Das ändert sich, als der amerikanische Stipendiat Colin (Michael Harry) ins selbe Haus zieht und sie mit seinen Freunden bekannt macht: Dora (Alison Bruce) wird in Paris zur Flötistin ausgebildet, und Bernhard (William Brandt) ist Geschichtsprofessor in den USA. Bernhard, der sich als verkannter Dichter fühlt, geht mit Janet spazieren und beginnt ein Liebesverhältnis mit ihr. Wochenlang schreibt sie keine Zeile. Dann kündigt Bernhard das bevorstehende Ferienende an: Er müsse wieder zurück an seine Universität, aber es sei ein schöner Sommer mit ihr gewesen. Tief enttäuscht schließt Janet sich in ihr Zimmer ein und öffnet die Tür auch nicht, als Bernhard sich von ihr verabschieden möchte.

Schwanger kehrt sie nach London zurück. Patrick – der nichts davon ahnt – denkt an eine gemeinsame Zukunft mit ihr. Vom Schreiben hält er allerdings nichts, das sei eine Ferienbeschäftigung, meint er, aber nun müsse sie Geld verdienen. Als Janet einen Abgang hat und er dadurch von ihrer Schwangerschaft erfährt, trennt er sich von ihr.

Sie bewirbt sich als Schwesternhelferin in einem Krankenhaus, aber als sie angibt, acht Jahre lang in einer Nervenheilanstalt gewesen zu sein, wird sie nicht genommen. Stattdessen erhält sie Arbeit in einer Puppenwerkstatt.

In ihrer Verzweiflung denkt sie wieder an Selbstmord und sucht von sich aus eine psychiatrische Klinik auf. Dort stellen die Ärzte fest, dass sie niemals schizophren war. Sie erschrickt: Wie soll sie um Hilfe bitten, wenn sie nicht krank ist. Aber der Psychiater beruhigt sie und rät ihr, über ihr Leben zu schreiben und von der Sozialhilfe zu leben. Sie folgt seinem Vorschlag und verarbeitet ihre Erinnerungen in dem Roman „Faces in the Water“ (1961; deutsch: „Gesichter im Wasser“).

Allmählich lernt sie, selbstständig zu leben. Ihr Verleger in London stellt ihr ein Apartment zur Verfügung, damit sie ungestört schreiben kann.

Nach dem Tod ihres Vaters reist die erfolgreiche Schriftstellerin 1963 zurück nach Neuseeland. Dort erliegt sie am 29. Januar 2004 einer Krebserkrankung.

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Janet Frame (eigentlich: Nene Janet Paterson Clutha, 28. August 1924 – 29. Januar 2004) hinterließ zwölf Romane – darunter „Wenn Eulen schrein“ (1957), „Gesichter im Wasser“ (1961), „Am Rande des Alphabets“ (1962), „Auf dem Maniototo“ (1979) und „Dem neuen Sommer entgegen“ (2007) –, drei Bände mit Geschichten, einen Lyrikband – und eine dreibändige Autobiografie mit den Titeln „To the Is-Land“ (1982), „An Angel at My Table“ (1984) und „The Envoy from Mirror City“ (1985), die von Lilian Faschinger ins Deutsche übersetzt wurde („Zu den Inseln“; „Ein Engel an meiner Tafel“; „Der Gesandte aus der Spiegelstadt“). Die Neuseeländerin Jane Campion verfilmte die autobiografische Trilogie.

Der dreiteilige Film „Ein Engel an meiner Tafel“ wurde 1990 beim Filmfestival in Venedig mit einem „Silbernen Löwen“ und sechs weiteren Preisen ausgezeichnet.

Langsam und unaufdringlich erzählt Jane Campion von Janet Frames Entwicklung bis zur Rückkehr der Neununddreißigjährigen nach Neuseeland. Dabei geht sie nicht analytisch fragend und erklärend vor, sondern porträtiert mit viel Feingefühl diese junge Schriftstellerin, die sich aufgrund ihrer Schüchternheit lange Zeit nicht zurechtfindet, acht Jahre lang sinnlos in einer Nervenheilanstalt mit Elektroschocks gemartert wird und erst spät lernt, ein selbstständiges Leben zu führen. „Ein Engel an meiner Tafel“ ist ein stiller, poetischer und sehr berührender Film über eine außergewöhnliche Frau.

Janet Frame wird von Jessie Mune (Kleinkind), Karen Fergusson (Kind), Alexia Keogh (Jugendliche) und Kerry Fox (Jugendliche und Erwachsene) dargestellt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.