Elisabeth Noelle-Neumann

Elisabeth Noelle wurde am 19. Dezember 1916 in Berlin als zweites von vier Kindern des Ehepaares Eva und Ernst Noelle geboren. Ihr Vater war Jurist und gründete die »Tobis«-Filmgesellschaft. Bei ihren Großvätern handelte es sich um den Fabrikanten Ernst Noelle und den Bildhauer Fritz Schaper.

Mit elf Jahren übernahm Elisabeth Noelle die Chefredaktion der Schülerzeitung. Ihr Entschluss, Journalistin zu werden, stand damals bereits fest. In einem Interview erinnert sie sich später, dass sie kaum zu bändigen war: »Die Beziehung zu meinen Eltern war maßlos stürmisch. Sie mussten es ertragen, dass ich bereits mit zwölf, dreizehn Jahren spät nachts aus Bars nach Hause kam.« Weil Eva und Ernst Noelle den Willen der eigenwilligen, unangepassten Einzelgängerin nicht brechen, aber auch die beiden jüngeren Söhne nicht länger ihrem schlechten Einfluss aussetzen wollten, schickten sie Elisabeth mit sechzehn in das reformpädagogische Internat Salem im Schloss Spetzgart in Überlingen. Das musste Elisabeth Noelle allerdings wegen ihres ungebührlichen Verhaltens nach einem halben Jahr im Juli 1933 wieder verlassen. Eigentlich hätte sie sich daraufhin am liebsten ohne Abitur eine Stelle als Journalistin gesucht, aber der Berliner Verleger Heinz Ullstein riet ihr dringend, erst einmal die Schule abzuschließen und zu studieren. Also zog Elisabeth Noelle nach Göttingen, wo die Familie eines Salem-Schülers lebte, in den sie sich verliebt hatte. Dort nahm sie sich ein Zimmer und machte im Frühjahr 1935 das Abitur.

Zunächst in Berlin, dann in Königsberg und München belegte Elisabeth Noelle Zeitungswissenschaft, Geschichte und Philosophie. Als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes kam sie 1937/38 zur School of Journalism der University of Missouri. Ein Studienjahr im Ausland war unter der Herrschaft der Nationalsozialisten eine Besonderheit, aber Elisabeth Noelle – die schon mit neunzehn allein auf dem Balkan gewesen war – reiste zum Abschluss auch noch durch die USA, nach Mexiko, Japan, Korea, in die Mandschurei, nach China, auf die Philippinen, nach Sumatra, Ceylon und Ägypten.

Das Material, das sie aus Missouri mitgebracht hatte, verwendete sie für ihre Doktorarbeit »Meinungs- und Massenforschung in USA. Umfragen über Politik und Presse«, mit der sie 1940 in Berlin bei Emil Dovifat (1890 – 1969), dem Nestor der deutschen Publizistikwissenschaft, promovierte.

Nachdem man im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda auf Elisabeth Noelles Dissertation aufmerksam geworden war, wurde ihr Anfang 1942 eine Zusammenarbeit angeboten. »Da wurde ich aber sofort krank«, sagt sie später und betont ihre ablehnende Haltung gegenüber den Nationalsozialisten. Hierzu sind allerdings Zweifel angebracht, denn in ihrer Dissertation warf sie den Juden vor, »einen großen Teil von Amerikas geistigem Leben monopolisiert« zu haben und »ihre demagogischen Fähigkeiten auf Deutschlandhetze« zu konzentrieren. Außerdem schrieb Elisabeth Noelle nach einem Volontariat bei der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« 1940 in Berlin für die von Joseph Goebbels herausgegebene NS-Wochenzeitung »Das Reich«.

Nach dem Krieg lebte Elisabeth Noelle zuerst in Tübingen, dann ließ sie sich in Allensbach am Bodensee nieder. 1946 heiratete sie den Journalisten und späteren CDU-Bundestagsabgeordneten Erich Peter Neumann (1912 – 1973), mit dem sie im Jahr darauf nach dem Vorbild des 1934 von George H. Gallup gegründeten »American Institute for Public Opinion«, des ersten Meinungsforschungsinstituts der Welt, das »Institut für Demoskopie Allensbach, Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung mbH« ins Leben rief, die erste Einrichtung dieser Art in Europa.

Konsequenter als die meisten der inzwischen mehr als 200 Markt- und Meinungsforschungsinstitute in Deutschland hat die »Pythia vom Bodensee« ihr Unternehmen von Anfang an als wissenschaftliche Einrichtung verstanden und großen Wert auf eine Vernetzung mit Universitäten gelegt.

Der von Elisabeth Noelle-Neumann bevorzugte Begriff »Demoskopie« (griechisch: démos = Volk, skopeín = ausspähen) wurde 1946 von dem amerikanischen Soziologen Stuart C. Dodd aufgegriffen. Dabei geht es darum, die Meinung der Bevölkerung zu politischen, wirtschaftlichen, sozialen, ethischen und anderen Themen zu erforschen und zukünftiges Verhalten – beispielsweise beim Einkaufen (Marktforschung) oder Wählen (»Sonntagsfrage«) – zu prognostizieren. Befragt wird jeweils nur eine verblüffend kleine Stichprobe von Personen, die allerdings in kritischen Merkmalen wie zum Beispiel Alter, Geschlecht, Beruf und Einkommen repräsentativ für die Gesamtpopulation ist. Auf diese Weise lässt sich von 1000 bis 2000 Befragten auf 80 Millionen Bundesbürger schließen. Renate Köcher, die das Institut in Allensbach seit 1988 zusammen mit der Gründerin leitet, hält es für die Aufgabe der Demoskopie, »Sprachrohr der Bevölkerung zu sein, die öffentliche Meinung konturenscharf und in allen ihren Facetten zu zeigen«, ohne die politische Führung quasiplebiszitär unter Druck zu setzen. An diesem Punkt setzt die Sorge einiger Beobachter an: Vor allem in Wahlkämpfen besteht die Gefahr, dass Politiker sich nach der öffentlichen Meinung richten und populistische Programme formulieren, um ihre Chancen zu erhöhen. Da werden aus Meinungsforschern leicht Meinungsmacher, also aus Beobachtern Akteure, zumal sich auch die Medien und eine wachsende Zahl von Wählern an den Ergebnissen von Meinungsumfragen orientieren. Andererseits kann die Demoskopie korrigierend wirken, wenn in der Öffentlichkeit ein falscher Eindruck von den Mehrheitsverhältnissen entstanden ist. Elisabeth Noelle-Neumann glaubt nämlich auf ein Phänomen gestoßen zu sein, das sie »Schweigespirale« nennt. Ihrer Theorie zufolge kommt es vor, dass eine scheinbar vorherrschende Meinung von ihren Anhängern offensiv vertreten wird, während die vermeintliche Minderheit, die anderer Ansicht ist, in der Öffentlichkeit zunehmend verstummt – wodurch aus einer zunächst nur fälschlicherweise dafür gehaltenen eine tatsächliche Minderheitenmeinung werden kann.

Von 1961 bis 1964 lehrte Elisabeth Noelle-Neumann an der Freien Universität Berlin. Der CDU-Politiker und spätere Bundeskanzler Helmut Kohl (* 1930) half ihr, 1964 eine außerordentliche Professur für Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz zu bekommen, wo sie das »Institut für Publizistik« aufbaute und von 1968 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1983 als Direktorin und Lehrstuhlinhaberin führte. Parallel dazu war Elisabeth Noelle-Neumann von 1978 bis 1991 Gastprofessorin für politische Wissenschaften an der Universität Chicago und 1993/94 am Institut für Kommunikationswissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Außerdem war sie zwischen 1979 und 1997 fünfmal zu wissenschaftlichen Vorträgen in Russland. »Ich habe mein Leben lang zwölf Stunden pro Tag gearbeitet, zwei Stunden lang etwas gegessen und den Rest geschlafen«, sagte sie in einem Interview. »Das ist natürlich eine merkwürdige Lebensform, aber sie führte zu außerordentlich vielen Veröffentlichungen.«

1976 wurde Elisabeth Noelle-Neumann mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und im Jahr darauf zur Ehrenbürgerin von Allensbach erklärt.

Erich Peter Neumann starb am 12. Juni 1973 in Bad Godesberg an Herzversagen. Sechseinhalb Jahre später, am 28. Dezember 1979, heiratete Elisabeth Noelle-Neumann den Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz (1911 – 2000), der von 1974 bis 1979 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewesen war. Nachdem sie am 16. Dezember 2000, drei Tage vor ihrem 84. Geburtstag, zum zweiten Mal Witwe geworden war, nahm sie ihren Geburtsnamen wieder an, publizierte jedoch weiterhin unter dem Namen Elisabeth Noelle-Neumann.

Elisabeth Noelle-Neumann starb am 25. März 2010 im Alter von dreiundneunzig Jahren in Allensbach.

© Dieter Wunderlich 2006 / 2010

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.