Mary Wigman


Mary Wigman wurde am 13. November 1886 in Hannover-Linden als Tochter von Heinrich Friedrich und Amalie Wiegmann (1840 – 1896 / 1857 – 1936) geboren. Den Künstlernamen verwendete sie erst später; mit bürgerlichem Namen hieß sie Karoline Sophie Marie Wiegmann. Ihr Vater führte zusammen mit seinen Brüdern Dietrich und August in Hannover ein größeres Geschäft, in dem außer Fahrrädern und Nähmaschinen chinesisches Porzellan und andere Kolonialwaren verkauft wurden. Maries älterer Bruder Bruno starb mit zwei Jahren; bei seinem Tod war sie noch kein Jahr alt. Sie wuchs zusammen mit ihren jüngeren Geschwistern Heinrich (* 17. Februar 1890) und Elisabeth (* 19. Dezember 1894) auf. Als Heinrich Friedrich Wiegmann am 9. April 1896 starb, kümmerte sich sein Zwillingsbruder Heinrich (1840 – 1918) um die Witwe und ihre Kinder, und am 29. April 1898 heiratete er Amalie Wiegmann.

Nach dem Besuch der Höheren Töchterschule in Hannover verbrachte Marie Wiegmann einige Zeit in Mädchenpensionaten in England (Petersborough, Folkestone) und in Lausanne, um ihr Englisch und Französisch zu verbessern.

Ab Herbst 1910 studierte sie bei dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze (1865 – 1950), der gerade in Dresden-Hellerau eine „Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik“ gegründet hatte. Dabei zeichnete sie sich durch eine besonders ausgeprägte Sensibilität für Raum und Bewegung, Ausdruck und Rhythmus aus. Die in der Schule gepflegte Dominanz der Musik über die Bewegung sagte ihr allerdings nicht zu, und in ihrem Zimmer experimentierte sie deshalb mit Tanzbewegungen ohne Musik. Im Frühsommer 1912 schloss Marie Wiegmann ihr Studium mit einem Diplom als Rhythmik-Lehrerin ab.

Émile Jaques-Dalcroze bot ihr an, seine Methode im Sommer 1913 bei einer Werkbundausstellung in Köln vorzustellen. Doch als Marie Wiegmann von einem Aufenthalt in Rom (November 1912 bis April 1913) nach Hellerau zurückkam, wurde doch nichts aus dem Plan. Stattdessen wurde ihr angeboten, die Leitung einer zu gründenden Dependance der „Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik“ in Berlin zu übernehmen.

Der Vertrag wurde ihr nach Ascona nachgeschickt. Dorthin war Marie inzwischen gereist, um sich mit der Lehre des ungarischen Tanztheoretikers Rudolf von Laban (1879 – 1958) vertraut zu machen. Dessen Konzept des Ausdruckstanzes ohne Musik entsprach ganz ihren Vorstellungen.

Marie Wiegmann begriff den Körper als Instrument. 1913 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Frei werden von der Musik! Das müssten sie alle! Erst dann kann sich die Bewegung zu dem entwickeln, was alle von ihr erhoffen: zum freien Tanz, zu reiner Kunst.“

Sie setzte Expressionismus in Bewegung um. (Oskar Kokoschka)

Was Kandinsky (1866 – 1944) auf dem Gebiet der Abstraktion in der Malerei und Schönberg (1874 – 1951) in der Begründung der reinen Atonalität in der Musik bewirken, bringt Mary Wigman in der Entwicklung des modernen Tanzes zum Ausdruck. (Gabriele Fritsch-Vivié: Mary Wigman, Seite 34)

Statt den Vertrag für Berlin zu unterschreiben, beschloss Marie Wiegmann, Rudolf von Laban nach München zu folgen, wo er den Winter 1913/14 verbrachte, und als er erkrankte, übernahm sie seinen Unterricht. Am 11. Februar 1914 stand sie im Museum des Palais Porzia in München erstmals als Solo-Tänzerin auf der Bühne. Im Frühsommer 1914 zog Rudolf von Laban mit seiner Entourage erneut zum Monte Verità in Ascona, und als am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg begann, beschloss er, mit seiner Ehefrau Maja Lederer, den Kindern und seiner Geliebten Suzanne Perrottet nach Zürich umzuziehen. Marie Wiegmann nahm er ebenfalls mit. Erst im Sommer 1917 kehrte er wieder auf den Monte Verità zurück.

1918 überließ Rudolf von Laban seine Schule Suzanne Perrottet.

Mary Wigman – wie sich die Ausdruckstänzerin ab 1918 nannte – trat im Frühjahr 1919 in mehreren Schweizer Städten auf. Im September 1919 begann sie in München mit einer Deutschlandtournee, die zu einem Debakel zu werden drohte. Erst in Hamburg zeigte das Publikum Verständnis für ihre Art zu tanzen. Der Durchbruch gelang Mary Wigman

am 7. November 1919 – eine Woche vor ihrem 33. Geburtstag – in Dresden.

Weil ihr die Schweiz kein Dauervisum erteilte, zog sie im Jahr darauf nach Deutschland und richtete in Dresden eine eigene Schule ein, die bald als „Wigman-Schule“ bekannt wurde. Um die wachsenden Aufgaben bewältigen zu können, holte Mary Wigman ihre ebenfalls unverheiratete Schwester Elisabeth nach Dresden. (Wegen Meinungsverschiedenheiten gingen die beiden ab 1935 getrennte Wege, und Elisabeth Wiegmann gründete in Leipzig eine neue Schule.) Mitte der Zwanzigerjahre studierten bei Mary Wigman 360 junge Damen. Zu den berühmtesten Schülerinnen und Schülern zählten Harald Kreutzberg (1902 – 1968) und Gret Palucca (1902 – 1993).

Der Arzt Hans Prinzhorn (1880 – 1933), mit dem Mary Wigman von 1921 bis 1923 eine Liebesaffäre hatte, gründete 1922 zur Unterstützung der Schule die „Mary-Wigman-Gesellschaft“.

Die Schaffenskraft, die unausweichliche innere Notwendigkeit, schöpferisch tätig zu sein, und die dazu erforderliche Energie, das ist es, was das Leben der Mary Wigman ausmacht. (Gabriele Fritsch-Vivié: Mary Wigman, Seite 9)

Kraft und Größe, Jubel und Staunen, Ergriffenheit und Stille vor Erhabenheit und Leid könnte man als Schlüsselbegriffe ihres Schaffens bezeichnen. (Gabriele Fritsch-Vivié: Mary Wigman, Seite 11)

Als Solistin und mit ihren Schülerinnen reiste Mary Wigman zu Auftritten in verschiedene europäische Städte, aber die Einnahmen reichten kaum, um die Kosten der Wigman-Schule zu decken.

In Bonn zog sie sich Anfang 1924 auf der Bühne eine schwere Fußverletzung zu. Von der erholte sie sich bei Familie Schlegel in Uttwil am Bodensee, wo sie seit 1923 häufiger zu Besuch war. Der vier Jahre jüngere Medizinstudent Herbert Binswanger (1900 – 1975), dessen verwitwete – mit Mary Wigman befreundete – Mutter in dritter Ehe mit Ernst Schlegel verheiratet war, wurde für einige Jahre ihr Lebensgefährte.

Ernst Schlegel, der 1924 die „Gesellschaft von Freunden der Mary-Wigman-Tanzgruppe“ gegründet hatte, zog sich 1929 wieder zurück.

Ungefähr zur gleichen Zeit beendeten Mary Wigman und Herbert Binswanger ihr Verhältnis (sie blieben jedoch befreundet), und die Tänzerin wandte sich dem bei Siemens tätigen, dreizehn Jahre jüngeren Ingenieur Hanns Benket (1899 – 1948) zu.

Der amerikanische Impresario Sol Hurok, der Mary Wigman 1929 unter Vertrag genommen hatte, bereitete ihre erste USA-Reise gründlich vor. Mary Wigman befand sich noch an Bord der „Bremen“, als sie bereits von Reportern umlagert wurde, und auf der vom 22. Dezember 1930 bis 13. März 1931 dauernden Tournee erlebte sie einen Erfolg nach dem anderen. Im Herbst 1931 richtete Hanya Holm (1893 – 1992) in New York eine Wigman-Schule ein. Noch zweimal kam Mary Wigman in die USA zurück: Vom 17. November 1931 bis 27. April 1932 und vom 25. Dezember 1932 bis 9. März 1933.

Als sie am 16. März 1933 wieder in Dresden eintraf, war Adolf Hitler Reichskanzler, und die Gleichschaltung hatte begonnen. 1934 übernahm der nationalsozialistische Gymnastiklehrer Hans Huber die „pädagogische Leitung“ der Wigman-Schule in Dresden. Für die Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele in Berlin choreografierte Mary Wigman eine „Totenklage“, die sie am 1. August 1936 mit achtzig Tänzerinnen zusammen aufführte.

Die politisch naive Egozentrikerin Mary Wigman schrieb noch am 10. September 1939 in ihr Tagebuch: „Es darf keine Kritik mehr geben, es gibt nur mehr das eine: eine anständige, eine deutsche Haltung.“ Joseph Goebbels hielt persönlich nicht viel vom „philosophischen Tanz“; er bevorzugte Revuen und war der Meinung: „Tanz muss beschwingt sein und schöne Frauenkörper zeigen.“

Dass Hanns Benket sich im Frühjahr 1941 ohne Aussprache von ihr trennte, traf Mary Wigman schwer.

Am 31. März 1942 gab Mary Wigman ihre Schule in Dresden auf und zog nach Leipzig.

Als sie wegen der bevorstehenden Gründung der DDR um die Freiheit ihrer wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig gegründeten Schule fürchtete, zog sie am 4. Juli 1949 nach Westberlin um und richtete dort das „Wigman-Studio“ ein.

Einen ihrer größten Erfolge erzielte Mary Wigman 1957 mit der Choreografie des Balletts „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky in Berlin.

Am 16. Juli 1967 schloss die inzwischen achtzigjährige Künstlerin – die 1956 auf Elba und 1965 auf Teneriffa Herzanfälle erlitten hatte – das Wigman-Studio in Berlin.

1973 wollte sie noch einmal nach Ascona, aber während der Reisevorbereitungen stürzte sie in Berlin, brach sich einen Arm und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Dort starb sie am 18. September 1973.

Literatur über Mary Wigman:

  • Gabriele Fritsch-Vivié: Mary Wigman (Rowohlt Bildmonographie, Reinbek 1999)
  • Angela Rannow und Ralf Stabel (Hg.): Mary Wigman. Eine Künstlerin in der Zeitenwende (Dresden 2006)
  • Patricia Rissmann: Zum 120. Geburtstag von Mary Wigman. Ausdruckstanz gestern und heute. Ein Interview mit Fe Reichelt (geb. Grimm) im Wigman-Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg am 8. März 2006 mit DVD. Eine Zeitreise (Berlin 2006)
  • Amelie Soyka (Hg.): Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman (Berlin 2004)

© Dieter Wunderlich 2008

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Michel Mettler - Die Spange
Für seinen Roman "Die Spange" hat Michel Mettler sich einen aberwitzigen, surrealen Plot ausgedacht. Man kann in "Die Spange" eine verschrobene Parodie auf den Fortschrittsglauben der Wissenschaft sehen, aber entscheidend ist weniger die "Message" als die Atmosphäre.
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