Victoria

Victoria

Victoria

Originaltitel: Victoria – Regie: Sebastian Schipper – Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz – Kamera: Sturla Brandth Grøvlen – Musik: Nils Frahm, DJ Koze, Deichkind – Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff, André M. Hennicke u.a. – 2015; 135 Minuten

Inhaltsangabe

Um 4 Uhr morgens in Berlin schließt sich die gescheiterte spanische Musikstudentin Victoria einer Clique junger Männer an. Einer von ihnen war im Gefängnis, und auch die anderen nehmen es mit den Gesetzen nicht so genau, aber Victoria findet sie amüsant und ist endlich nicht mehr allein. "Boxer" schuldet einem ehemaligen Mithäftling noch etwas, und soll mit seinen Freunden im Morgengrauen eine Bank überfallen. Weil einer von ihnen sturzbetrunken ist, springt Victoria für ihn ein und fährt das Fluchtauto ...
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Kritik

Das Besondere an "Victoria" ist, dass Sebastian Schipper den über zwei Stunden langen Film ohne einen einzigen Schnitt drehte. Das reißt die Zuschauer mit und schafft eine außergewöhnliche Wirkung der Authentizität.
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Victoria (Laia Costa), eine junge Spanierin, tanzt in einer Diskothek in Berlin. Nachdem sie an der Bar noch einen Schnaps getrunken hat, schließt sie sich morgens um 4 Uhr einer Clique von vier jungen Berlinern an, die sich als „Sonne“, „Boxer“, „Blinker“ und „Fuß“ vorstellen (Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, Max Mauff). Zur Verständigung dient die englische Sprache, die alle zumindest ansatzweise beherrschen. Victoria amüsiert sich über die dick aufgetragenen Flunkereien Sonnes und stiehlt mit ihm zusammen Getränke aus einem nachts geöffneten, angeblich ihm selbst gehörenden Laden, dessen Angestellter eingeschlafen ist. „Late Night Shopping“ nennt Sonne das.

Getrunken wird auf dem Dach eines Hochhauses. Angeblich feiert Fuß seinen Geburtstag. Als Victoria sich an die Dachkante setzt und in die Tiefe schaut, macht Sonne sich Sorgen, bis sie endlich auf ihn hört und sich wieder zur Gruppe gesellt. Dass Boxer bereits eine Haftstrafe verbüßte, schreckt Victoria nicht ab: Sie ist froh, in Berlin endlich Anschluss gefunden zu haben und findet die Jungs lustig, vor allem den herumalbernden Sonne. Aber sie möchte noch ein wenig schlafen, bevor sie um 7 Uhr das Café öffnen muss, in dem sie hinter der Theke arbeitet. Nachdem Victoria sich von Boxer, Blinker und Fuß verabschiedet hat, bringt Sonne sie mit dem Fahrrad zum Café.

Sie nimmt ihn mit hinein, und während sie ihm einen Kakao macht, entdeckt er ein Klavier. Im Spaß behauptet er, ein Konzertpianist zu sein und schlägt ein paar Tasten an. Victoria sagt lachend, sie könne auch ein wenig spielen und gibt den Mephisto Walzer von Franz Liszt zum Besten. Verblüfft und beeindruckt hört Sonne zu. Victoria erzählt ihm, sie habe nach sechseinhalb Jahren täglichen Übens am Konservatorium in Madrid gemerkt, dass ihre Begabung für eine Karriere als Musikerin nicht ausreichen würde.

Die anderen Jungs kommen, um Sonne abzuholen. Er verabschiedet sich von Victoria und steigt zu Boxer, Blinker und Fuß in ein gestohlenes Auto. Nach kurzer Zeit kommen sie zurück. Sonne erklärt Victoria, sie hätten ein Problem. Sie seien mit anderen verabredet und müssten, wie vereinbart, bei dem Treffen zu viert aufkreuzen. Weil Fuß jedoch sturzbetrunken ist, soll Victoria für ihn einspringen. Als sie sich erkundigt, ob die Clique etwas Verbotenes vorhabe, deutet Sonne zwar an, dass es so sei, versichert ihr jedoch, dass sie nichts weiter zu machen brauche, als ihn und die anderen hinzufahren.

Boxer lotst Victoria in eine Tiefgarage, wo sie von einer mit Pistolen bewaffneten Bande erwartet werden. Ihr Anführer Andi (André M. Hennicke) hatte Boxer im Gefängnis unter seinen Schutz gestellt. Dafür verlangt er nun 10 000 Euro – Geld, das Boxer und seine Freunde durch einen Banküberfall noch an diesem Morgen beschaffen sollen.

Nachdem sie Kokain geschnupft und Waffen in Empfang genommen haben, fahren Victoria, Sonne, Boxer und Blinker mit dem besinnungslosen Fuß im Auto zu der von Andi angegebenen Bank. Während Victoria im Fluchtauto wartet, überfallen Sonne, Boxer und Blinker eine Angestellte beim Betreten der Bank und erbeuten 50 000 Euro.

Nachdem sie das gestohlene Fahrzeug in einer Gasse abgestellt haben, feiern sie den Erfolg in der Diskothek, in der sie sich kennenlernten. Erst als sie diese wieder verlassen, fällt ihnen ein, dass sie Fuß im Auto liegen ließen. Sorglos gehen sie hin, um ihn zu holen. Zu spät bemerken sie den Streifenwagen. Sie flüchten, werden aber von der Polizei auf dem Gelände zwischen Plattenbauten gestellt. Es kommt zu einer Schießerei.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Während Boxer und Blinker erschossen werden, gelingt es Sonne und Victoria, unbemerkt in eines der Mietshäuser zu rennen. Im Treppenhaus überwältigen sie eine junge Frau (Anna Lena Klenke) und zwingen diese mit vorgehaltener Waffe, sie mit in die Wohnung zu nehmen. Dort müssen sich die Frau und ihr Mann (Philipp Kubitza) auf den Boden legen, während Sonne und Victoria Kleidungsstücke von ihnen überziehen und mit dem Säugling des Paars die Wohnung verlassen.

Im Treppenhaus und vor dem Haus treffen sie zwar auf Polizisten, aber die sind unsicher, und die Täterbeschreibung passt auch nicht zu einem bunt gekleideten Paar mit einem Kleinkind. Während Sonne das Baby, wie versprochen, in einem Laden abgibt, den sie von einem Fenster aus sahen, hält Victoria ein Taxi an. Sie steigen ein und lassen sich zu einem Hotel fahren.

In der von Victoria gemieteten Suite legt Sonne sich aufs Bett. Inzwischen ahnt sie, dass er von einem Projektil am Bauch getroffen wurde. Das Bett ist im Nu voll Blut. Gegen seinen Willen ruft Victoria einen Krankenwagen. Aber bevor dieser eintrifft, stirbt Sonne an seiner Verletzung. Victoria schluchzt zunächst, aber dann beherrscht sie sich, und als das Telefon klingelt, nimmt sie die Plastiktüte mit dem Geld und verlässt unbemerkt das Hotel.

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In dem Film „Victoria“ zeigt Sebastian Schipper die Verlorenheit einiger Jugend­licher ohne Zukunftperspektive. Obwohl nicht jede Einzelheit der Geschichte realistisch wirkt, entwickelt der Film einen Sog. Das liegt vor allem daran, dass „Victoria“ in einem einzigen, zweieinviertel Stunden langen Take aufgenommen wurde. Die konzentrierte, pausenlose Anspannung der Beteiligten reißt die Zuschauer mit. Die Hauptdarstellerin Laia Costa ist praktisch ununterbrochen im Bild, und wir können uns auch vorstellen, welche Leistung dem norwegischen Kameramann Sturla Brandth Grøvlen abverlangt wurde, der mit einer knapp 1,5 kg schweren Canon EOS C300 in der Hand durch Straßen rannte, in Autos ein- und ausstieg, sich mit Darstellern in einen Aufzug zwängte – und dabei in wechselnden Umgebungen ohne abzusetzen filmte. Die Aufnahmen wackeln entsprechend, aber in „Victoria“ geht es nicht um perfekte Hochglanz­bilder, sondern um die Dynamik dieser Schnittlosigkeit, in der Raum und Zeit der Handlung und des Films übereinstimmen (wie Aristoteles es fürs Theater verlangte).

Das war auch bei „Cocktail für eine Leiche“ (1948) so. Allerdings gab es damals noch keine Filmrollen, mit denen man mehr als 10 Minuten aufnehmen konnte. Alfred Hitchcock musste deshalb insgesamt zehn Schnitte setzen, davon fünf geschickt kaschierte („unsichtbarer Schnitt“). Bei „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ (2014) täuschen ausgeklügelte Kamerabewegungen Schnittlosigkeit vor. Tatsächlich ohne Schnitte gedreht wurde „Russian Ark“ (2002).

Während es Alexander Sokurov in „Russian Ark“ auf die besondere Ästhetik der Choreografie im Zusammenspiel der Bewegungen von Kamera und Schauspielern ankam, steigert die Schnittlosigkeit in „Victoria“ die Wirkung der Authentizität, die auch durch die zum großen Teil improvisierten Dialoge in einem Gemisch aus Deutsch und geradebrechtem Englisch unterstrichen wird. Das Drehbuch soll gerade einmal zwölf Seiten lang gewesen sein, und das, obwohl die Darsteller ständig reden müssen, weil es keine ruhenden Kameraeinstellungen gibt, in denen nur das Bild wirken soll. Für die Zuschauer entsteht durch diese Stilmittel der Eindruck, sie seien bei dem Geschehen direkt dabei („Immersion“). Ohne die Musikuntermalung hätte „Victoria“ den puristischen Kriterien von Dogma 95 entsprochen (kein Kunstlicht, keine Requisiten …).

Vor den drei geplanten Durchläufen probte Sebastian Schipper drei Monate lang mit dem Filmteam. Die erste Version verwarf er, weil sie ihm zu perfekt vorkam. Stattdessen wählte er die letzte Fassung, die am 27. April 2014 zwischen 4.30 Uhr und 7.00 Uhr in Berlin gedreht worden war.

Die Premiere von „Victoria“ fand am 7. Februar 2015 im Rahmen der 65. Berlinale statt. Sturla Brandth Grøvlen erhielt einen „Silbernen Bären“ für die Kameraführung.

„Victoria“ wurde in sechs Kategorien mit einem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet: Bester abendfüllender Spielfilm, Regie, weibliche Hauptrolle, männliche Hauptrolle, Kamera, Filmmusik. Nominiert hatte man „Victoria“ auch für die Beste Tongestaltung.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015

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