Hierankl
Hierankl
Inhaltsangabe
Kritik
Freitag
Lene (Johanna Wokalek), eine etwa dreißig Jahre alte Frau, steht im Münchner Hauptbahnhof zwischen zwei Zügen: Einer fährt nach Berlin, der andere nach Salzburg. In Berlin lebt sie seit dreizehn Jahren, seit sie von zu Hause fortgelaufen ist. Ihr Zuhause war damals Hierankl, ein abgelegener Bauernhof im Chiemgau. Nach kurzem Zögern wirft Lene ihre Fahrkarte nach Berlin weg und steigt in den Zug nach Salzburg, um ihren Vater Lukas (Josef Bierbichler) zu überraschen, der am Sonntag seinen sechzigsten Geburtstag feiert – und wohl auch, um ihre Familie wiederzufinden, die sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat.
Im Bahnhof von Rosenheim sieht Lene zufällig ihren Vater, der sich mit Küssen und Umarmungen von einer Frau verabschiedet – offenbar seiner Geliebten – und dann in den Zug einsteigt. Lukas freut sich über den Besuch seiner Tochter. Die Begrüßung durch die Mutter Rosemarie (Barbara Sukowa) fällt dagegen deutlich kühler aus.
Lene erinnert sich an ihre Kindheit. Einmal las sie ihren Eltern einen Schulaufsatz vor, in dem sie geschrieben hatte, dass Kinder wie Engel fliegen können, aber nur, wenn die beiden Flügel – Vater und Mutter – sich im Gleichtakt bewegen. Rosemarie wollte das nicht hören und warf einen kleinen Engel, den Lene vor sich auf dem Klavier stehen hatte, wütend auf den Boden. Dabei brach einer der hölzernen Flügel ab, und Lene spielte seither nie wieder Klavier.
Anlässlich des bevorstehenden Geburtstags kommt auch Lenes Bruder Paul (Frank Giering) nach Hierankl und wundert sich darüber, dass sie immer noch wie früher „Papa und Rosemarie“ sagt, aber das Wort „Mutter“ nicht über die Lippen bringt.
Dann trifft mit Götz (Peter Simonischek) ein früherer Studienfreund der Eltern ein, der sich seit dreißig Jahren nicht mehr sehen ließ, aber jetzt einer Einladung von Lukas folgte. Götz war es gewesen, der die damals zwanzigjährige Architekturstudentin Rosemarie von Manstein erstmals mit nach Hierankl gebracht und seinem Freund Lukas vorgestellt hatte. Ob er verheiratet sei, wird gefragt. Nein, seine amerikanische Lebensgefährtin Rebecca wurde 1980 in Washington, D. C., ermordet.
Samstag
Beim Frühstück kündigen Lene und Götz an, dass sie zusammen auf einen nahen Berg steigen. Rosemarie will mitkommen, aber Lene sagt ihr unumwunden, sie wolle mit Götz allein sein.
Vor einer steilen Felswand erzählt Götz, hier sei er vor langer Zeit einmal mit einer unendlich traurigen Frau gewesen, mit der ihn eine irrsinnige Liebe verbunden habe. Sie wollte damals mit ihm gemeinsam von den Felsen in den Tod springen, weil sie mit ihren Gefühlen nicht klar kam. Er war jedoch nicht zum Sterben bereit und verlor sie deshalb. Obwohl Götz keinen Namen erwähnt, versteht Lene, dass es sich um Rosemarie handelte.
Paul hat inzwischen von seinem Vater erfahren, dass dessen Ehe nur noch auf dem Papier besteht und Rosemarie eine Affäre mit dem „Hausmeister“ Vinzenz (Alexander Beyer) hat.
Sonntag
Am Morgen kommen alle zu Lukas ans Bett und gratulieren ihm zum Geburtstag. Danach drückt Lene sich an Götz und brüskiert ihre Mutter, indem sie ihre Gefühle für ihn zeigt.
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Zur Geburtstagsfeier an einer langen Tafel im Freien erscheint Rosemarie mit einer Frau und stellt sie vor: Es handelt sich um Esther, die seit vier Jahren Lukas‘ Geliebte ist. Diese Provokation eskaliert, als Rosemarie auch noch zugibt, Lukas in der ersten Zeit ihrer Ehe mit Götz betrogen zu haben und verrät, dass nicht ihr Mann, sondern Götz Lenes Vater ist.
Verzweifelt läuft Lene davon. Götz sprang schon vorher auf und hörte nicht, was Rosemarie über ihn sagte. Er folgt Lene, und sie gibt sich ihm weinend hin. Lene hofft immer noch, dass Rosemarie aus Eifersucht gelogen hat, um sie und Götz auseinanderzubringen. Aber Götz gibt zu, seinen Freund damals betrogen zu haben und erfährt nun durch seine Tochter, mit der er gerade wieder schlief, von seiner Vaterschaft.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Eine junge Frau sucht nach ihrer eigenen Identität und gerät dabei in eine Familientragödie. Der Eklat während der Feier zum sechzigjährigen Geburtstag ihres Vaters erinnert an „Das Fest“ von Thomas Vinterberg. Doch während in Vinterbergs Film einer der Söhne das schreckliche Familiengeheimnis aufdeckt, geschieht es in „Hierankl“, Hans Steinbichlers Abschlussarbeit an der Hochschule für Fernsehen und Film München, durch das Geständnis der Mutter.
Was im Film gezeigt wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Land ist ein Ort, wo Konventionen und Rituale noch so funktionieren, dass Menschen daran zerbrechen. Wo ich herkomme, spielt das katholische Prinzip mit. Erst sündigen, dann beichten – und das ist beliebig wiederholbar. Neben der katholischen Kirche gibt es auf dem Land noch die soziale Kontrolle. Was zwischen diesen beiden Machtpolen alles passiert, beobachte ich, seit ich denken kann. (Hans Steinbichler in einem Interview)
Obwohl Steinbichler sich des Genres Heimatfilm bedient, sind die Figuren in „Hierankl“ keine ungebildeten Bauern, sondern Intellektuelle. Das bewahrt sie allerdings nicht davor, sich von Gefühlen überwältigen zu lassen und schuldig zu werden.
Hans Steinbichler erzählt die Geschichte langsam und bedächtigt. Bella Halben geht mit der Kamera immer wieder dicht an Details heran und zeigt beispielsweise die Bewegung von Händen in Großaufnahme. Gefühlsausbrüche verstärkt sie, indem sie zwischendurch eine Handkamera benützt und damit den Protagonisten nachläuft. Hervorragend sind auch die Schauspieler, allen voran Josef Bierbichler, Barbara Sukowa und Johanna Wokalek.
Die Dreharbeiten fanden im September und Oktober 2002 im Chiemgau statt.
Am 31. März 2006 wurde Hans Steinbichler für das Drehbuch „Hierankl“ mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Hans Steinbichler (kurze Biografie / Filmografie)
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