Leviathan

Leviathan

Leviathan

Leviathan – Originaltitel: Leviathan – Regie: Andrej Petrowitsch Swjaginzew – Drehbuch: Andrej Swjaginzew, Oleg Negin – Kamera: Michail Kritschman – Schnitt: Anna Mass – Musik: Philip Glass – Darsteller: Alexej Serebrjakow, Jelena Ljadowa, Sergej Pochodajew, Wladimir Wdowitschenkow, Roman Madjanow u.a. – 2014; 140 Minuten

Inhaltsangabe

Im Einvernehmen mit dem Bischof und anderen Strippenziehern hat es der korrupte Bürgermeister einer Gemeinde auf das Grundstück des Automechanikers Kolya Sergejew abgesehen. Der wehrt sich mit Unterstützung eines befreundeten Anwalts gegen die Enteignung, unterliegt aber vor Gericht. Innerhalb weniger Tage verliert Kolya alles: seine Frau, den Freund, die Würde, den Sohn, Haus und Grundstück, die Existenzgrundlage und die Freiheit ...
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Kritik

In dem zynischen Drama "Leviathan" prangert Andrej Swjaginzew Willkür und Korruption an. Die Darstellung wirkt realistisch, und die Charaktere werden nicht nur gut ausgeleuchtet, sondern auch eindrucksvoll und überzeugend verkörpert.
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Der Automechaniker Nikolai („Kolya“) Sergejew (Alexej Serebrjakow) wohnt mit seiner in einer Fischfabrik arbeitenden Ehefrau Lilia Sergejewa (Jelena Ljadowa) und seinem aus einer früheren Beziehung stammenden Sohn Roman (Sergej Pochodajew) außerhalb einer Kleinstadt an der Barentssee. Auf seinem von den Eltern geerbten Grundstück oberhalb einer Bucht, wo er aufwuchs und sich mit eigenen Händen ein Haus und eine Autowerkstatt gebaut hat, will die Gemeinde angeblich ein Kulturzentrum errichten. Gegen die Enteignung wehrt Kolya sich gerichtlich. Der Rechtsanwalt Dmitri Selesnjow (Wladimir Wdowitschenkow), ein Jugendfreund Kolyas, reist eigens mit der Bahn aus Moskau an, um ihn dabei zu unterstützen, aber im Appellationsverfahren verwirft das Gericht Kolyas Einspruch gegen ein früheres Urteil und erklärt die Enteignung gegen eine weit unter dem Wert liegende Entschädigungssumme für rechtens.

Dahinter steht der Bürgermeister Wadim Schelewjat (Roman Madjanow), der in der Gemeinde im Einvernehmen mit dem orthodoxen Bischof Arkhierey (Waleri Grishko), der Staatsanwältin (Margarita Shubina), dem Polizeichef und anderen einflussreichen Bewohnern die Fäden zieht. Am Abend nach dem Urteilsspruch des Gerichts lässt sich der Betrunkene zu Kolyas Haus fahren und pöbelt dort im Schutz seiner Leibwächter herum. Nur mit Mühe kann Dmitri seinen Freund davon abhalten, sich auf den böswilligen Bürgermeister zu stürzen.

Am nächsten Morgen wollen Dmitri und Kolya Anzeige gegen Wadim Schelewjat erstatten, aber weder bei der Polizei noch bei der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht finden sie jemand, der die Anzeige aufnehmen würde. Stattdessen wird Kolya verhaftet.

Lilia ist verzweifelt, nicht nur wegen der Enteignung und der Auseinandersetzung mit dem machttrunkenen Bürgermeister, sondern vor allem auch, weil ihr Stiefsohn Roman sie nicht leiden kann. Während Kolya die Nacht im Polizeigewahrsam verbringt, kommt sie dessen Freund näher und schläft mit ihm.

Dmitri stellt ein Dossier mit Anschuldigungen gegen den korrupten Bürgermeister zusammen, geht damit ins Rathaus und konfrontiert Wadim Schelewjat nicht nur mit dem Material, sondern lässt auch durchblicken, dass er über gute Kontakte zu einflussreichen Politikern in Moskau verfügt. Nur wenn Wadim Schelewjat die Enteignung zurücknehme oder die Entschädigungssumme mindestens versechsfache, werde er keinen Gebrauch von dem Dossier machen, droht Dmitri.

Während eines Ausflugs mit Freunden findet der betrunkene Kolya heraus, dass Lilia und Dmitri ihn betrogen haben. Er verprügelt Dmitri und droht, auch seine Frau umzubringen.

Lilia kehrt einige Stunden später nach Hause zurück. Kolya ist bereit, sich mit ihr auszusöhnen, aber Roman lehnt seine Stiefmutter nun noch entschiedener ab.

Nachdem sich Wadim Schelewjat der weiteren Unterstützung seiner mächtigen Verbündeten versichert hat, ohne ihnen etwas von den Vorwürfen zu verraten, beschließt er, sich nicht erpressen zu lassen. Aber zum Schein verabredet er sich mit Dmitri Selesnjow und holt ihn mit dem Wagen ab. Unterwegs schließt sich ihnen ein zweites dunkles Fahrzeug an. An einem abgelegenen Ort lässt der Bürgermeister den Rechtsanwalt von seinen Männern zusammenschlagen und führt eine Scheinhinrichtung durch.

Dmitri fährt daraufhin nach Moskau zurück, ohne noch einmal Kolya oder Lilia gesprochen zu haben.

Als Roman Kolya und Lilia im Keller beim Geschlechtsverkehr überrascht, verstört ihn das vollends. Zunächst rennt er weg, und als er zurückkommt, fordert er seinen Vater schluchzend auf, die verhasste Stiefmutter zumindest aus dem Zimmer zu schicken.

Im Morgengrauen steht Lilia auf, aber statt zur Bushaltestelle geht sie zu den Klippen und blickt aufs Meer hinaus.

Als sie nicht nach Hause kommt, ihr Handy nicht erreichbar ist und sich herausstellt, dass sie in der Fischfabrik fehlte, nimmt Kolya an, sie sei zu Dmitri nach Moskau gefahren. Der frühere Freund hebt ebenfalls nicht ab. In seiner Verzweiflung betrinkt Kolya sich. Am nächsten Morgen weckt in ein Polizist und bringt ihn an den Strand, wo Lilias Leiche angeschwemmt wurde.

Der Ortsgeistliche, dem Kolya begegnet, als er zwei weitere Flaschen Wodka im Laden kauft, erzählt ihm die biblischen Geschichten über Hiob und den Leviathan.


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Zum Schrecken seines Sohnes wird Kolya von drei Polizisten abgeholt.

Bei der Obduktion der Toten stellte sich angeblich heraus, dass es sich nicht um einen Suizid handelte. Lilia, so der Kriminalbeamte, sei erschlagen worden, vermutlich mit einem in Kolyas Werkstatt sichergestellten Hammer. Außerdem würden Sperma-Spuren auf eine Vergewaltigung unmittelbar vor ihrem Tod schließen lassen. Kolya wird beschuldigt, seine Frau ermordet und dann von den Klippen gestoßen zu haben. Aus Zeugenaussagen, die belegen, dass er den Liebhaber seiner Frau verprügelte und damit drohte, beide umzubringen, konstruiert die Staatsanwältin das Motiv: Eifersucht. Das Gericht verurteilt ihn zu 15 Jahren Arbeitslager.

Um zu verhindern, dass die Behörden Roman in ein Heim einweisen, holen Lilias Freundin Anzhela (Anna Ukolova) und ihr Ehemann Pasha Poliwanow (Aleksey Rozin) den verwaisten Jungen zu sich.

Haus und Werkstatt werden abgerissen. Sie weichen dem Neubau einer prächtigen Kirche. Bei der Einweihung predigt der scheinheilige Bischof, der den Bürgermeister dazu ermutigte, Kolyas Existenz zu zerstören, gegen intrigantes Verhalten und ruft die Gemeinde zur Wahrhaftigkeit auf.

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Das Drama „Leviathan“ von Andrej Petrowitsch Swjaginzew (*1964) handelt von Willkür und Ungerechtigkeit, Korruption und Machtmissbrauch in einer totalitären Gesellschaft, in der das Gute keine Chance hat. Kolya widersetzt sich dem tyrannischen Bürgermeister, ist jedoch kein David, und die Obrigkeit kann auch nicht mit Goliath verglichen werden. In seinem aussichtslosen Kampf um Gerechtigkeit scheitert Kolya ebenso wie Michael Kohlhaas. Und wie Hiob in der vom Dorfgeistlichen erzählten biblischen Geschichte verliert Kolya alles: seine Frau, den Freund, die Würde, den Sohn, Haus und Grundstück, die Existenzgrundlage und die Freiheit.

In der Bucht liegen Schiffswracks und das Gerippe eines gestrandeten Pottwals. Den Wal assoziieren wir mit dem mythischen Seeungeheuer Leviathan, dem gegenüber jeder Widerstand zwecklos ist, aber auch mit der staatstheoretischen Schrift „Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil“ aus dem Jahr 1651. Thomas Hobbes vergleicht darin den Staat mit Leviathan und vertritt die Ansicht, dass das staatliche Gewaltmonopol notwendig sei, um die gesetzmäßige Ordnung aufrechterhalten zu können, auch wenn es die Staatsangehörigen der Gefahr der Tyrannei aussetze.

Andrej Swjaginzew bezieht die orthodoxe Kirche ausdrücklich in das Geflecht der Korruption mit ein, und es ist anzunehmen, dass er mit dem Beispiel der von einem tyrannischen Bürgermeister im Einvernehmen mit dem scheinheiligen Bischof geführten Gemeinde an der Barentssee auf den russischen Staat zielt. Oder bezieht sich der gestrandete Wal auf den Niedergang Russlands? So oder so zeichnet Andrej Swjaginzew in „Leviathan“ ein düsteres Bild seines Landes.

Ungeachtet der Symbolik, einiger Klischees und satirischen Zuspitzungen wirkt die Darstellung sehr realistisch. Auch die Charaktere werden gut herausgearbeitet und überzeugend verkörpert. „Leviathan“ ist ein ebenso zynischer wie eindrucksvoller und packender Film.

Bemerkenswert sind nicht zuletzt die grandiosen Landschaftsaufnahmen, die erkennen lassen, wie unbedeutend zumindest der einzelne Mensch auf dieser Erde ist.

Die zurückhaltende, eigentlich nur zu Beginn und am Ende auffallende Filmmusik stammt von Philip Glass. Zu hören sind einige Takte aus seiner im März 1984 in der Oper Stuttgart uraufgeführten Oper „Akhnaten“. Mit dem Titel ist der revolutionäre ägyptische Pharao Echnaton gemeint, der mit dem Versuch scheiterte, den Sonnengott Aton über die anderen Götter zu stellen bzw. einen Monotheismus einzuführen.

Während Andrej Swjaginzew von 10. März bis 30. April 2008 „New York, I Love You“ drehte, hörte er von Marvin Heemeyer in der Kleinstadt Granby bei Denver/Colorado. Der Automechaniker war 2001 gerichtlich gegen den Bau einer Zementfabrik auf einem seiner Werkstatt benachbarten Grundstück vorgegangen, das er selbst der Firma Mountain Park Concrete verkauft hatte. Er fand sich nicht damit ab, dass ihm dadurch der gewohnte Weg zu seiner Werkstatt verbaut wurde, verlor aber den Rechtsstreit. Weil er sich von der Stadtverwaltung ungerecht behandelt fühlte, schweißte der in inzwischen 52-Jährige Metallplatten als Panzerung an eine Planierraupe und zerstörte damit am 4. Juni 2004 in mehr als zwei Stunden ein Dutzend Gebäude in Granby, darunter das Rathaus und die Räume der Lokalzeitung. Danach erschoss er sich. Dieser Fall brachte Andrej Swjaginzew auf die Idee für den Film „Leviathan“.

Die Dreharbeiten fanden im Sommer 2013 statt und dauerten 67 Tage. Die Außenaufnahmen entstanden in der Oblast Murmansk und in der Kleinstadt Poschechonje in der Oblast Jaroslawl.

„Leviathan“ wurde in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für einen „Oscar“ nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016

Andrej Swjaginzew: Die Rückkehr

Michela Murgia - Accabadora
Michela Murgia räsoniert nicht, sondern inszeniert in einer wortkargen, vitalen Sprache eine packende Geschichte, die in einer archaischen Umgebung spielt. "Accabadora" ist eine Perle anspruchsvoller Literatur.
Accabadora