Schussangst
Inhaltsangabe
Kritik
Lukas Eiserbeck (Fabian Hinrichs), ein sensibler, einsamer Zivildienstleistender, fährt in Halle Essen für Senioren aus.
Bei einem von ihm belieferten Ehepaar soll er beim Verlassen der Wohnung stets darauf achten, dass die Tür fest geschlossen ist. Einmal versäumt er es. Da fährt der Mann mit seinem Rollstuhl hinaus – und stürzt über die Treppe hinunter. Eine Greisin, der er ihr Essen bringen will, wird gerade von Sanitätern abgeholt und in ein Pflegeheim gebracht. Ihr geliebter Hund bleibt zurück und muss wohl ins Tierheim.
Eine seiner Kundinnen öffnet nicht. Zusammen mit dem Nachbarn, dem sie einen Wohnungsschlüssel anvertraut hatte, schaut Lukas nach. Die alte Frau ist tot. Sie erhängte sich. Lukas will sie von der Decke abschneiden, aber ihr Nachbar Beckmann (Rudolf W. Marnitz) meint trocken: „Lass‘ sie hängen. Die ist hinüber.“ Dann erkundigt er sich nach dem Essen, das Lukas ausliefern wollte und macht sich darüber her. Obwohl er über den „Fraß“ schimpft, lässt er sich von da an von Lukas das Essen bringen. Dabei erzählt er, dass er im Zweiten Weltkrieg Fallschirmspringer und Scharfschütze war. Beim Absprung über Kreta wurde er abgeschossen, und als er verletzt im Sand lag, stach ihn ein Skorpion ins linke Auge, das er seither unter einer Klappe verbirgt.
Als Lukas einmal seinen Lieferwagen mit offenen Hecktüren stehen lässt, während er eine Portion austrägt, essen ein paar Jugendliche während seiner Abwesenheit einige der Warmhaltebehälter leer.
In der U-Bahn steckt ihm eine Unbekannte unvermittelt einen Zettel zu, auf dem steht: „Hilf mir!“ Er steigt mit ihr aus und läuft ihr nach. Die junge Frau heißt Isabella (Lavinia Wilson). Ohne weiter auf den Zettel einzugehen, fragt sie ihn, ob er ihr für die Nacht einen Schlafplatz geben könne. Als sie auf seinem Bett sitzen, versucht er ungeschickt, sie zu küssen. Am nächsten Morgen verlässt sie ihn wieder, aber am Abend kommt sie mit einer Flasche Wein zurück. Sie erzählt Lukas, dass ihr Vater sie und ihre Mutter verließ, als sie vierzehn war. Ihre Mutter heiratete kurz darauf wieder, weil sie nicht allein sein konnte.
Einmal will Lukas Isabella von einer Unterrichtsstunde in einer asiatischen Kampfsportart abholen. Alle Schüler bis auf sie haben das Gebäude bereits verlassen. Lukas geht hinein, um nach ihr zu suchen. Da beobachtet er durch die angelehnte Tür eines Nebenraums, wie hinter ihr ein älterer Mann (Johan Leysen) steht und sich brutal in ihr befriedigt.
Als ihm einer seiner Nachbarn zu laute Musik abspielt, beschwert Lukas sich. Krausser (Thorsten Merten) entschuldigt sich und lädt ihn zur Versöhnung auf ein Bier ein. Dabei schwärmt er ihm von Nordkorea vor und berichtet, dass er dort jedes Jahr drei Monate verbringt. Im Verlauf des Abends betrinken sich die beiden. Schließlich verlässt Lukas mit dem Nachtsichtgerät des Nordkorea-Fans dessen Wohnung, bricht in den Bootsschuppen seines Rudervereins ein, holt ein Boot heraus und rudert mit dem Nachtsichtgerät vor den Augen auf dem dunklen Fluss. Unvermittelt wird er von einem Mann (Axel Prahl) angesprochen, der im Taucheranzug auf dem Rücken im Wasser liegt und „toter Mann“ spielt. Versehentlich rammt Lukas mit dem Boot einen Brückenpfeiler. Das Boot sinkt. Völlig durchnässt geht er zu Elisabeth Sieveking (Ingeborg Westphal), einer seiner Kundinnen, die ihm angeboten hatte, es mit ihm für den halben Preis zu machen. Bei ihr trocknet er sich ab und nimmt ein heißes Bad.
Am nächsten Tag klingelt ein stark erkälteter Kriminalbeamter mit Namen Johannsen (Christoph Waltz) an seiner Tür. Er ermittelt in dem Fall des mitten in der Nacht gestohlenen und an einem Brückenpfeiler zerschellten Bootes, aber Lukas behauptet, nichts darüber zu wissen.
Lukas fragt Isabella nach dem Mann, mit dem sie nach dem Kampfsportunterricht zusammen war. Aber sie beantwortet seine Frage nicht. Bei einer anderen Gelegenheit beobachtet er, wie der Mann Isabella gewaltsam in sein Auto zerrt. Er folgt den beiden zu einer Villa am Fluss. Dort trifft er auf Kommissar Johannsen. Dem lässt der seltsame Bootsdiebstahl keine Ruhe, zumal er inzwischen von einem Zeugen erfuhr, dass in der Nacht ein Ruderer mit einem Nachtsichtgerät unterwegs gewesen war. Er befürchtet, dass jemand vorhatte, von dem gestohlenen Boot aus in einer der mondänen Villen entlang des Flusses jemand zu erschießen.
Das bringt Lukas auf eine Idee, wie er Isabella von ihrem Peiniger, bei dem es sich wohl um ihren Stiefvater handelt, befreien kann. Bei der Prostituierten, die ihr Essen von ihm bekommt, trifft er sich mit einem albanischen Waffenhändler (Lasha Bakradze), der deutsch durch das Lesen der Werke von Johann Wolfgang von Goethe und Thomas Mann gelernt hatte. Auf einem Kinderspielplatz erfolgt die Übergabe des bestellten Präzisionsgewehres mit Zielfernrohr und Hohlmantelgeschossen. Wie man damit umgeht, lässt Lukas sich von dem Kriegsveteran Beckmann erklären, und zum Üben rudert er in eine einsame Gegend. Dort wird er von einem Mann angesprochen, der sich als Schäfer ausgibt, aber keine Tiere bei sich hat und mit einem Fahrrad unterwegs ist.
Sobald Lukas sich treffsicher fühlt, schleicht er vor der Villa am Fluss herum, in der Isabellas Stiefvater mit seiner Familie wohnt und legt auf ihn an, drückt jedoch nicht ab: Er hat „Schussangst“.
Auf Plakaten mit Einladungen zu einem Anti-Angst-Seminar entdeckt Lukas das Gesicht von Isabellas Stiefvater. Der Mann heißt Romberg. Lukas besucht einen der Kurse und trifft dort auf Johannsen. Aufgrund zwanzigjähriger Polizeierfahrung spürt der Kommissar, dass Lukas etwas vorhat. „Würde ich Sie verhaften“, flüstert er, „wäre es das Beste für Sie. Aber ich kann nicht, denn ich habe nichts gegen Sie in der Hand.“ In diesem Augenblick bricht Romberg neben der Bühne tot zusammen: Herzinfarkt!
Lukas hinterlässt Isabella eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter: „Erstens. Ich war bei seinem Tod dabei. Zweitens. Ich habe mir ein Gewehr besorgt und damit schießen gelernt, um ihn umzubringen. Ruf mich bitte zurück.“
Spätabends sitzt Lukas am Flussufer. Da nähert sich der Mann im Taucheranzug und lässt sich in die Wellen fallen, um wieder „toter Mann“ zu spielen. Die Erde werde bald wieder vollständig mit Wasser bedeckt sein, prophezeit er.
In seiner Wohnung zielt Lukas mit dem Gewehr auf eine Greisin in einer Wohnung auf der anderen Straßenseite. Dann hält er sich die Mündung an den Hals. Aber er drückt nicht ab.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Isabella ruft nicht zurück. Lukas wartet nach ihrem Kampfsportunterricht auf sie, aber sie lässt ihn auf der Straße stehen und geht mit anderen fort. Er holt sein Gewehr, rudert zu der Villa, in der sie wohnt – und erschießt sie durch ein Fenster.
Dito Tsintsadze verfilmte den Roman „Schussangst“ von Dirk Kurbjuweit. Darin geht es um einen orientierungslosen Mann, der auf andere Menschen trifft, die ebenso vereinsamt sind wie er: Senioren, denen er das Essen bringt, einen Verrückten, der sich jede Nacht im Fluss treiben lässt und eine junge Frau, die von ihm abrückt, sobald er ihr eine persönliche Frage stellt. In „Schussangst“ wird gezeigt, wie die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe in Frustration und Aggression umschlagen kann.
„Schussangst“ ist eine originelle Mischung aus Thriller, Liebesgeschichte, Psychogramm, Tragödie und Groteske.
Dirk Kurbjuweit und Dito Tsintsadze erzählen die Geschichte ausschließlich aus der Sicht des Protagonisten Lukas. Deshalb erfahren wir von Isabella und den anderen Figuren, denen er begegnet, nicht mehr als das, was er von ihnen wahrnimmt. Das ist konsequent und betont zugleich die Subjektivität, also die Unzuverlässigkeit von Lukas‘ Auffassung, die seinem Handeln zugrunde liegt.
Das Tempo ist verhalten, und die mimischen Veränderungen, die den tragischen Schluss ankündigen, sind kaum wahrnehmbar.
Entlang des Handlungsverlaufs sorgen skurrile und tragikomische Nebenfiguren für bizarre Episoden.
„Schussangst“ ist nach „Lost Killers“ der zweite Kinofilm, den der aus Georgien stammende Regisseur Dito Tsintsadze in Deutschland drehte. Beim Internationalen Filmfestival in San Sebastian wurde er 2003 für „Schussangst“ mit dem Hauptpreis ausgezeichnet. Zu Recht, denn es handelt sich um einen stilistisch gelungenen, inhaltlich überzeugenden, mitreißenden und originellen Film.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Dirk Kurbjuweit: Schussangst
Dirk Kurbjuweit: Die Einsamkeit der Krokodile (Verfilmung)