Dirk Kurbjuweit : Schussangst
Inhaltsangabe
Kritik
Lukas Eiserbeck wuchs in Erkenschwick auf. Sein Vater soll mit seiner Mutter eine flüchtige Affäre während einer Kur gehabt haben. Monika Eiserbeck zog ihren einzigen Sohn allein auf und lebte mit ihm und ihrem Vater zusammen in einer Wohnung.
Als Lukas noch ein Kind war, ging sein Großvater mit ihm zum Schlittenfahren. Die anderen Kinder machten sich einen Spaß daraus, unter einem Kohlewaggon hindurchzusausen. Dazu mussten sie sich flach auf den Schlitten legen. Der Großvater hänselte Lukas, weil dieser jedes Mal um den Waggon herumfuhr. Erst als die meisten anderen Kinder bereits heimgegangen waren, gab Lukas dem Drängen seines Großvaters nach – und wurde von der Unterseite des Waggons skalpiert. Zum Nähen der Kopfwunde waren dreiunddreißig Stiche erforderlich.
1989 gehörte Lukas bei der Weltmeisterschaft der Junioren in Bled (damals: Jugoslawien, heute: Slowenien) zur Mannschaft des Achters der Bundesrepublik Deutschland. Sie lagen mit einer Länge in Führung, bis Lukas zweihundert Meter vor dem Ziel einen Krebs fing, das heißt durch eine Unachtsamkeit das Ruderblatt verkantete, dadurch beim Eintauchen ins Wasser bremste und den Rhythmus durcheinander brachte. Die Achter der UdSSR und der DDR und schließlich auch Jugoslawiens zogen an ihnen vorbei. Frustriert hörte Lukas mit dem Rudersport für einige Zeit auf. Inzwischen ist er zwar wieder Mitglied in einem Ruderverein, aber er trainiert nur noch allein.
Im Alter von einundzwanzig Jahren leistet Lukas 1992 seinen Zivildienst bei der Caritas in Hamburg und fährt in St. Pauli Essen für Kranke und Senioren aus.
Beim Rudern auf der Außenalster stößt Lukas mit einem Schlauchboot zusammen, in dem sich ein Mädchen sonnt. Er kennt sie aus dem Fernsehen, aber sie erzählt ihm, dass es sich nur um eine Probemoderation gehandelt habe. Sie heißt Isabella. Ihr Vater stammt aus Indien, ist Moslem, mit einer Deutschen verheiratet und praktiziert in Hamburg als Arzt. Ein paar Tage nach dem Zusammenstoß telefoniert Lukas mit Isabella; sie verabreden sich in der Prinzenbar, ziehen durch die Kneipen und frühstücken schließlich in „Erika’s Eck“ am Schlachthof. Während er nach einem Taxi Ausschau hält, betrachtet Isabella die Dildos in der Auslage eines Sexshops.
„Als es bei mir losging, wäre ich froh gewesen, ein solches Ding zu haben. Aber komm‘ mal dran mit elf Jahren.“ (Seite 40)
Freimütig erzählt sie Lukas im Taxi von ihren Erfahrungen mit Kerzen, Bananen und Gurken.
Wider Erwarten ruft Isabella einige Zeit später Lukas an, aber erst einmal nur, weil sie noch jemanden für ein Basketballspiel sucht und er zwei Meter groß ist. Nach dem Spiel geht sie mit zu ihm, um in seiner Wohnung zu duschen. Als Lukas dann aus dem Bad kommt, liegt sie nackt in seinem Bett. Er liebkost sie zärtlich, und weil ihm seine großen Hände dafür zu grob erscheinen, leckt er ihren Körper ab. Plötzlich befürchtet er, seine Erektion könne nachlassen und dringt deshalb abrupt in sie ein. Vor Schmerz schreit sie auf, aber er hält das für ein Zeichen ihrer Erregung, bis er nach seinem Orgasmus begreift, dass er sie verletzt hat.
Nach diesem missglückten ersten Versuch verweigert sie sich ihm.
Auf ihren Vorschlag hin gehen sie zu einem Tanztee. Isabella wirft eine Pille ein, aber Lukas nimmt keine Drogen. Beim Slow Fox tritt er ihr versehentlich auf die Füße. Dann wird sie von einem hervorragenden Tänzer abgeklatscht und kümmert sich nicht mehr um Lukas, der schließlich allein nach Hause geht. In den nächsten Tagen und Wochen wartet er vergeblich auf einen Anruf von ihr: Sie geht jetzt mit dem gewandten Tänzer.
Immer wieder holt Lukas sich ein Boot aus dem Bootshaus, für das er vom Ruderklub Schlüssel bekommen hat. Über die Außenalster rudert er in den Leinpfadkanal hinein. In einer der großbürgerlichen Villen am Ufer wohnt Isabella mit ihren Eltern, allerdings nur als Mieter in der oberen Etage. Hin und wieder erhascht Lukas einen Blick auf Isabella.
Auf der Außenalster kollidiert er beinahe mit einem Schwimmer im Thermoanzug, der als „Toter Mann“ auf dem Wasser liegt und sich ausruht. Kurz vor Mitternacht und bei 13 Grad Außentemperatur hätte Lukas keinen Schwimmer in der Außenalster erwartet. Es handelt sich um Jobst Hahnenkamp, den Olympiasieger im Diskuswerfen 1984 in Los Angeles. Wie man sich als Goldmedaillengewinner fühle, fragt Lukas.
„Gar nicht schlecht, wenn es auch das Leben sehr in die Vergangenheit verlagert. Wissen Sie, ein Olympiasieg ist eine so große Sache, dass es Gedanken und Gesprächen immer wieder dorthin zurückzieht. Die Gegenwart verblasst gegen das Gold von damals.“ (Seite 54f)
Inzwischen erinnern sich nicht mehr viele an Hahnenkamps Goldmedaille, aber es ist unvergessen, dass ihm beim Üben im Regen ein nasser Diskus versehentlich aus der Hand rutschte und einen Kampfrichter tödlich am Kopf traf.
Um Isabella zurückzugewinnen, verfällt Lukas auf die Idee, ihr zu beweisen, dass er keiner von denen ist, die sich die Fernsehnachrichten über den Balkankrieg ansehen, aber passiv bleiben und nichts unternehmen. Er bereitet einen Anschlag auf den Serbenführer Radovan Karadzic vor, dem Massenmorde an Moslems vorgeworfen werden. Das werde die Tochter eines Moslems beeindrucken, hofft er.
Frank Beckmann, einer der Senioren, die Lukas mit Essen beliefert, gehörte am 20. Mai 1941 zu den deutschen Fallschirmjägern, die Kreta erobern sollten. Noch während er durch die Luft glitt, zerfetzte ihm eine britische Kugel den linken Oberschenkel. Bei der Landung stürzte er auf das Gesicht, und da zerstach ihm ein Skorpion das rechte Auge. Von diesem Kriegsveteran lässt Lukas sich erklären, wie man mit einem Gewehr schießt. Dann erkundigt er sich in einem Waffengeschäft nach empfehlenswerten Präzisionsgewehren, weil er dort jedoch nicht ohne Waffenschein einkaufen kann, wendet er sich an seine Kundin Elisabeth Sieveking. Von der sechzigjährigen Prostituierten nimmt er an, dass sie über entsprechende Kontakte verfügt. Sie schickt Lukas in die Gaststätte „Hopfensack“, wo er nach einem gewissen Wonz fragen und sich auf „Chantal“ berufen soll. Aber dabei gerät er an Kriminelle, die ihn für einen Polizeispitzel halten und zusammenschlagen.
Um nie wieder in so eine hilflose Lage zu kommen, trainiert Lukas von da an mit dem früheren Boxer Horst Schroth, der ebenfalls zu den Senioren gehört, denen er täglich Essen bringt.
Nach dem Fehlschlag im „Hopfensack“ bringt Elisabeth Sieveking ihn mit einem Freier zusammen, einem albanischen Waffenschieber, der sehr gut deutsch spricht und erzählt, er habe seine Sprachkenntnisse in Tirana durch drei Bücher von Thomas Mann verfeinert: „Der Zauberberg“, „Felix Krull“ und „Tonio Kröger“. Der Albaner besorgt Lukas ein Steyr-Mannlicher mit Zielfernrohr, Schalldämpfer und Hohlspitzgeschossen. Um es bezahlen zu können, hebt Lukas 7 500 der 10 000 D-Mark ab, die sein Großvater für ihn angelegt hatte.
Jeden Tag fährt er nun in die Elbmarsch, um dort das Schießen zu üben. Einmal kommt ein Schäfer auf einem Fahrrad vorbei. Lukas behauptet, er sei Jäger und bereite sich für die Jagdsaison vor, aber der Schäfer glaubt ihm das nicht, zumal er noch nie einen Jäger mit Schalldämpfer gesehen hat. Panisch vor Angst radelt er wieder davon.
Als Lukas Beckmann erzählt, dass er im Augenblick des Schusses die Augen schließt, lacht dieser und meint, er sei ein Mucker. So habe man im Krieg die Soldaten genannt, die Schussangst (!) hatten und deshalb nach dem Zielen die Augen zukniffen.
Eines Abends lädt sein neuer Nachbar ihn auf ein Bier in die Wohnung ein. Es handelt sich um einen Busfahrer, der regelmäßig Radio Pjöngjang hört und davon träumt, in die „Demokratische Volksrepublik Korea“ auszuwandern. Er bietet seinem Besucher eine nordkoreanische Spezialität an: ein Glas Schnaps aus einer Flasche, in der sich eine tote Giftschlange befindet. Als der Nachbar betrunken ist, nimmt Lukas den Rest Schlangenschnaps und eine Statue von Kim-Il-Sung mit, schultert sein Gewehr und fährt mit dem Boot zum Leinpfadkanal. Dort rammt er eine Eisscholle. Das Boot sinkt. Lukas rettet sich ans Ufer und läuft klatschnass nach Hause. Am anderen Tag hat er Fieber, ist erkältet und erschrickt bei dem Gedanken, dass er vorhatte, Isabellas neuen Freund zu erschießen.
Er hatte unterschätzt, was es heißt, ein Gewehr zu haben. Du denkst, es gehorcht dir, und am Ende ist es umgekehrt. (Seite 156)
Lukas ist noch schwer erkältet, als ein Beamter vom Landeskriminalamt namens Johannsen bei ihm auftaucht. Zuerst befürchtet Lukas, der Schäfer habe wegen der Schießübungen die Polizei verständigt, aber Johannsen ermittelt in dem Fall eines aus dem Bootshaus des Rudervereins Germania gestohlenen und im Leinpfadkanal gesunkenen Boots. Der Dieb müsse einen Schlüssel besitzen. Ein Zeuge will ihn mit einem Gewehr gesehen haben. Weil am Ufer des Leinpfadkanal wohlhabende und prominente Persönlichkeiten wohnen, denkt Johannsen an einen vorläufig gescheiterten Mordanschlag.
In der Hamburger Innenstadt gerät Lukas zufällig in eine Straßenschlacht zwischen Demonstranten und der Polizei. Er läuft neben einem Polizisten her. Dann kommt er auf einer Pritsche in einem Krankenwagen wieder zu sich und trägt einen Kopfverband. Er habe wohl einen Hieb mit einem Schlagstock abbekommen, meint Johannsen, der vor ihm steht, annimmt, dass der Kriegsdienstverweigerer bei der politischen Demonstration mitmachte und sich erinnert, in dessen Wohnung eine Statue von Kim-Il-Sung gesehen zu haben. Seinen Verdacht, ein Mitglied des Rudervereins Germania habe auf dem Leinpfadkanal einen Mordanschlag mit einem Gewehr verüben wollen, ist auch nicht ausgeräumt.
Nachdem Frank Beckmann beim Überqueren einer Straße tödlich verunglückte, sucht Lukas in einem Schießstand nach einem neuen Trainer. Er findet niemanden, der auch nur annähernd so gut schießen kann wie er, aber er wird zu einer Geländeübung eingeladen. Die Gruppe trifft sich am Wochenende auf einem Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Lukas hat sich ein Paar Stiefel, einen Kampfanzug mit Koppel und ein Nachtsichtgerät in einem Army Shop gekauft. Lukas und Ulrich, ein Söldner, der bereits in Vukovar kämpfte, erweisen sich nicht nur beim Schießen, sondern auch bei körperlichen Anstrengungen als die Besten. Um das Durchqueren eines Minenfeldes zu üben, hat der Ausbilder sieben Minen vergraben, darunter eine scharfe. Einer der Teilnehmer blickt, während er vorsichtig durch das Gelände geht, zu einem Raubvogel auf – und löst die scharfe Mine aus. Sie reißt ihm den Unterschenkel ab. Während die übrigen Teilnehmer rechtzeitig verschwinden, bleibt Lukas bei dem schwer Verletzten zurück, bis der Rettungshubschrauber eintrifft.
Radovan Karadzic wird zu Verhandlungen in Genf erwartet. Zwei Tage vorher macht Lukas sich mit dem Auto der Caritas auf den Weg. In Erkenschwick besucht er seine Mutter, bevor er weiterfährt. An der Schweizer Grenze wird er durchgewinkt. Trotz der hohen Preise nimmt er sich in Genf ein Hotelzimmer. Gegenüber dem Eingang des Konferenzzentrums befindet sich ein Krankenhaus. Lukas sieht sich in dem Gebäude um und stellt fest, dass er Karadzic beim Verlassen des Autos aus einem Fenster der neurologischen Abteilung erschießen könnte. Eine Schwester drängt ihn hinaus und weist ihn darauf hin, dass nur von 16 bis 18 Uhr Besuchszeit ist. Also kauft Lukas sich eine Kappe, Badelatschen und einen Trainingsanzug. Außerdem lässt er sich von einem Friseur den Kopf rasieren, damit seine Narbe deutlich zu sehen ist. Er lädt sein zerlegtes Gewehr mit einer einzigen Patrone, denn ein zweiter Schuss wird ohnehin nicht möglich sein, und packt es in eine Sporttasche. Man hält Lukas für einen Patienten, als er eine Stunde vor dem Beginn der Verhandlungen in die neurologische Abteilung schlurft und sich im Bad einschließt. Auf den Dächern sind Scharfschützen postiert, aber die beobachten den Platz vor dem Konferenzgebäude. Ruhig legt Lukas auf Karadzic an. Dessen Kopf, der jetzt in der Mitte des Fadenkreuzes zu sehen ist, wird durch das Hohlmantelgeschoss regelrecht explodieren. Kurz schließt Lukas die Augen. Als er sie wieder öffnet, wundert er sich, dass Karadzic nicht am Boden liegt, sondern das Konferenzgebäude betritt. Er hat nicht geschossen!
Also muss er in einer Woche zur nächsten Verhandlungsrunde wiederkommen und dann sein Vorhaben zu Ende bringen. In Hamburg gibt es Ärger wegen des Wagens, aber Lukas lügt seinem Vorgesetzten etwas von einer plötzlich schwer erkrankten Großmutter vor, zu der er spontan gefahren sei.
Johannsen ermittelt in dem Fall des Jungen mit dem abgerissenen Unterschenkel. Die Sanitäter sagten aus, bei dem Verletzten sei ein Mann gewesen, und die Beschreibung passt auf Lukas. Der behauptet, zur fraglichen Zeit allein zu Hause gewesen zu sein. Johannsen fragt, ob Lukas das Theaterstück „Die Gerechten“ von Albert Camus gelesen habe und zitiert daraus. Der Attentäter Kaliajew sagt: „Ich habe die Bombe auf eure Tyrannei geworfen, nicht auf einen Menschen.“ Darauf erwidert der Polizeivorsteher Skuratow: „Zweifellos. Aber getroffen haben sie den Menschen. Und das ist ihm nicht gut bekommen.“
Zur Feier seines 22. Geburtstages lädt Lukas in Ermangelung von Freunden seine Kunden Horst Schroth und Elisabeth Sieveking zum Essen in ein Restaurant ein.
Das Gewehr hat Lukas seit einiger Zeit in der Hütte des Schäfers deponiert. Als er wieder damit üben möchte, hat der Schäfer es versteckt. Auf diese Weise will er Lukas erpressen, seinem zweiundneunzigjährigen, bettlägerigen Vater zu helfen, der an drei Stellen wund ist. Lukas weiß zwar, was Dekubitus ist, aber er hat keine Ahnung, wie man die offenen Hautstellen behandelt und rät deshalb dazu, einen Arzt zu rufen. Das will der Schäfer auf keinen Fall, denn weder er noch sein Vater hatten jemals mit einem Arzt zu tun, und er will auch vermeiden, dass sein Vater in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Als Zivildienstleistender müsse Lukas etwas von Krankenpflege verstehen, glaubt er. Lukas sucht überall nach seinem Gewehr, findet es jedoch nicht. Notgedrungen erkundigt er sich, was bei Dekubitus zu tun ist, besorgt Medikamente, einen Fön und ein Skalpell und fährt täglich zu der Schäferhütte, um den Greis zu behandeln. Erst als nach einigen Tagen eine Besserung festzustellen ist, gibt ihm der Schäfer das Gewehr zurück. Inzwischen ist jedoch der zweite Termin in Genf verstrichen und man hat die Verhandlungen für gescheitert erklärt. Radovan Karadzic wird also nicht mehr nach Genf kommen, und in Pale hat Lukas keine Chance, nah genug an den Serbenführer heranzukommen. Sein Vorhaben ist gescheitert.
Er begann wieder damit, zu Isabella zu rudern. Mal sah er sie, mal nicht. Es war jetzt anders. Sonst hatte er hier mit Hoffnungen gesessen, fast mit der Gewissheit, ihre Liebe neu gewinnen zu können. Nun sah er sie an wie ein Bild in einem Museum. Es ist klar, dass man es nicht haben kann. (Seite 297)
Unerwartet ruft Isabella ihn an, und sie verabreden sich zu einem Besuch auf dem „Dom“. Danach ziehen sie durch die Kneipen. Isabella schluckt wieder eine Ecstasy-Pille und tanzt dann stundenlang allein, bis sie zusammenbricht. Lukas nimmt sie auf die Arme und rennt mit ihr in die Notaufnahme des Hafenkrankenhauses. Die Ärztin sagt ihm, Isabellas Puls sei zu hoch, der Blutdruck zu niedrig, ihr Körper sei völlig ausgetrocknet und es fehle an Elektrolyten im Blut, aber sie werde durchkommen. Er habe dem Mädchen das Leben gerettet.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Als Lukas zurückkommt, um nach der Kranken zu sehen, ist sie nicht mehr da. Ihr Vater hat sie gegen den Rat der Ärzte mitgenommen. Lukas ruft immer wieder vergeblich bei ihr an und klingelt an der Villa. Erst nach drei Wochen öffnet Isabellas Mutter und teilt ihm mit, dass ihr Mann die Tochter zu Verwandten nach Indien gebracht habe.
Dort ist Isabella für ihn unerreichbar. Aber vielleicht schaut sie Fernsehen. Lukas rudert mit Gewehr und Nachtsichtgerät in den Leinpfadkanal, an Isabellas Elternhaus vorbei zum Haus der Pastorin, die er schon mehrmals nachts am Fenster stehen sah. Am gegenüberliegenden Ufer legt er an. Ruhig zielt er auf ihren Kopf und drückt ab. Dann steigt er wieder ins Boot und dreht eine große Runde durch die Kanäle, damit Polizei und Journalisten genügend Zeit haben, zum Bootshaus zu kommen. Schon von weitem sieht er das Scheinwerferlicht. Johannsen steht zwischen den Kameraleuten und Reportern. „Hey, Isabella!“, ruft Lukas in die Kameras.
Ein Zivildienstleistender in Hamburg, der in der Provinz ohne Vater aufgewachsen war, gerät durch eine unerwiderte Liebe in eine Krise. Dieser orientierungslose Mann trifft in der Großstadt auf andere Menschen, die ebenso vereinsamt sind wie er: Senioren, denen er das Essen bringt. Seinen 22. Geburtstag feiert er mit zwei von ihnen, weil er sonst niemanden kennt. Die psychologische Entwicklung dieses Menschen schildert Dirk Kurbjuweit in seinem Großstadtroman „Schussangst“. Das Bild klärt sich stufenweise in beide Richtungen: Während aktuelle Szenen die Handlung vorwärts treiben, erfahren wir durch Rückblenden, wie es dazu kommen konnte. „Schussangst“ ist ein differenziertes, präzises und überzeugend komponiertes Psychogramm, aber auch eine tragische Liebesgeschichte und ein bis zur letzten Seite spannender Thriller.
Dito Tsintsadze verfilmte Dirk Kurbjuweits Roman: „Schussangst“.
Dirk Kurbjuweit wurde 1962 in Wiesbaden geboren. Von 1990 bis 1999 war er Redakteur bei der Wochenzeitung „Die Zeit“. Als Schriftsteller debütierte er 1995 mit seinem Roman „Die Einsamkeit der Krokodile“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
Die Balkankriege der Neunzigerjahre
Dito Tsintsadze: Schussangst
Dirk Kurbjuweit: Die Einsamkeit der Krokodile (Verfilmung)
Dirk Kurbjuweit: Haarmann