Gudrun Ensslin


Gudrun Ensslin wurde am 15. August 1940 in Bartholomä am Rand der Schwäbischen Alb geboren. Sie wuchs mit drei älteren und drei jüngeren Geschwistern in einem zweihundert Jahre alten Pfarrhaus in Cannstatt auf. Als Achtzehnjährige verbrachte sie ein Jahr als Austauschschülerin in einer wohlhabenden Methodistengemeinde in Pennsylvania. Im März 1960 machte sie am Königin-Katharina-Stift in Stuttgart ihr Abitur und begann dann, in Tübingen Germanistik, Anglistik und Pädagogik zu studieren.

Mit Bernward Vesper, dem Sohn des NS-Dichters Will Vesper, den sie in Tübingen kennen gelernt hatte, gründete sie 1963 das „Studio neue Literatur“, einen Verlag, in dem dann allerdings nur zwei Bücher erschienen. Vor dem Sommersemester 1963 wechselte Gudrun Ensslin zur Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd, und nach der ersten Staatsprüfung für Grundschullehrer immatrikulierte sie sich für ein Aufbaustudium mit Germanistik im Haupt- und Anglistik im Nebenfach an der Freien Universität Berlin.

1965 arbeitete sie in dem von Günter Grass zur Unterstützung des SPD-Wahlkampfes gegründeten „Wahlkontor der Schriftsteller“ mit, doch als die SPD mit der CDU/CSU zusammen 1966 die Große Koalition bildete, wandte sie sich enttäuscht von der Partei ab und engagierte sich in der APO.

Am 13. Mai 1967 brachte sie ihren von Bernward Vesper gezeugten Sohn Felix Robert zur Welt. Kurze Zeit später lernte sie Andreas Baader kennen, und im Januar 1968 verließ sie Bernward Vesper. (Er nahm sich 1971 das Leben.) Gut ein halbes Jahr lang versorgte Gudrun Ensslin ihr Kind, dann vertraute sie es Pflegeeltern an.

Aus Protest gegen den Kapitalismus, die Konsumgesellschaft und deren Gleichgültigkeit gegen den Vietnam-Krieg legten Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein am 2. April 1968 in zwei Kaufhäusern an der Frankfurter Zeil Feuer. Es entstand hoher Sachschaden, aber verletzt wurde niemand. Aufgrund eines Hinweises verhaftete die Polizei die Brandstifter kurz darauf in einer Frankfurter Wohnung. Vor dem Frankfurter Landgericht begann am 14. Oktober 1968 der Prozess, am 31. Oktober wurden die Angeklagten zu je drei Jahren Haft verurteilt, am 13. Juni 1969 jedoch bis zur Entscheidung über ihren Revisionsantrag aus der Haft entlassen. Als der Bundesgerichtshof fünf Monate später die Revision verwarf, setzten Andreas Baader und Gudrun Ensslin sich zunächst ins Ausland ab, dann kehrten sie zurück und schlüpften vorübergehend als „Hans“ und „Grete“ bei der Journalistin Ulrike Meinhof in Berlin unter.

Beim Versuch, Waffen zu beschaffen, wurde Andreas Baader von einem Spitzel des Verfassungsschutzes am 3. April 1970 in eine als Verkehrskontrolle getarnte Falle der Polizei gelockt. Gudrun Ensslin redete auf Ulrike Meinhof ein, bis die Journalistin und Autorin vorgab, mit Andreas Baader zusammen im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin für ein Buch über „randständige“ Jugendliche recherchieren zu wollen.

Am 14. Mai 1970 begleiteten zwei Beamte den Strafgefangenen zu der Villa, in der das Institut untergebracht war. Ein Mann und drei Frauen drangen kurz darauf in das Gebäude ein, verletzten einen Institutsangestellten durch einen Schuss, bedrohten die Beamten mit ihren Pistolen und flohen mit Andreas Baader und Ulrike Meinhof durch ein Parterre-Fenster. Das war die Geburtsstunde der RAF (Rote Armee Fraktion). Nachdem sich die Bande durch eine Guerillaausbildung in einem Lager der Al Fatah vorbereitet und am 29. September 1970 durch drei Banküberfälle in Berlin Geld beschafft hatte, baute sie in der Bundesrepublik Deutschland eine Untergrundorganisation auf. Im Mai 1972 schlug die RAF zu und versetzte zwei Wochen lang die Menschen in Angst und Schrecken: Bomben explodieren in Frankfurt am Main, Augsburg, München, Karlsruhe, Hamburg und Heidelberg. Vier Menschen sterben, zahlreiche werden verletzt. Erstmals werden nicht nur Sachen zerstört, um gegen die politischen Verhältnisse zu demonstrieren, sondern absichtlich Menschen getötet.

Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe wurde am 1. Juni 1972 in Frankfurt am Main festgenommen, Gudrun Ensslin am 7. Juni in einer Hamburger Boutique, Ulrike Meinhof am 15. Juni in Hannover-Langenhagen. Nach zwanzig Monaten Einzelhaft in isolierten Gefängnistrakten brachte man Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof am 5. Februar 1974 in zwei benachbarten Zellen eines leeren Flügels der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf unter, und sie durften jeden Tag einige Stunden gemeinsam verbringen. In einer eigens auf einem Kartoffelacker in Stuttgart-Stammheim errichteten fensterlosen und sogar gegen Hubschrauberanflüge abgesicherten Mehrzweckhalle begann am 21. Mai 1975 der Mordprozess gegen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Jan-Carl Raspe. (Holger Meins war am 9. November 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben.)

Am 5. September 1977 brachten RAF-Terroristen Hanns-Martin Schleyer, den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände, bei einem blutigen Überfall auf seinen Fahrzeugkonvoi in ihre Gewalt. Um den Forderungen nach Freilassung von Gesinnungsgenossen wie Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe (Ulrike Meinhof hatte sich am 8. Mai 1976 erhängt) Nachdruck zu verleihen, entführten vier arabische Terroristen am 13. Oktober eine Lufthansa-Maschine von Palma de Mallorca in die somalische Hauptstadt Mogadischu, aber es gelang der GSG 9, einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die Geiseln am 18. Oktober zu befreien [„Mogadischu“]. Nur wenige Stunden nach dem Eintreffen der Nachricht von der gelungenen Flugzeugstürmung erhängte Gudrun Ensslin sich mit einem Lautsprecherkabel in ihrer Zelle, während Andreas Baader und Jan-Carl Raspe sich erschossen. (Wie sie an die Waffen gekommen waren, konnte nicht geklärt werden.) Am Tag darauf wurde Hanns-Martin Schleyers Leiche im Kofferraum eines in Mühlhausen geparkten Autos gefunden.

Literatur über Gudrun Ensslin

  • Stefan Aust: Der Baader-Meinhof-Komplex (Hoffmann und Campe, Hamburg 1985, 591 Seiten, ISBN: 3-455-08253-X)
  • Gudrun Ensslin und Bernward Vesper (Hg.): Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe (Stuttgart 1964; Reprint, Edition Coreliers, Stuttgart 1982, 191 Seiten, ISBN: 3-922836-09-7)
  • Gudrun Ensslin: „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“. Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972 – 1973 (Hg.: Christiane Ensslin und Gottfried Ensslin, Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 2005, 198 Seiten, ISBN: 3-89458-239-1)
  • Gudrun Ensslin und Bernward Vesper: „Notstandsgesetze von Deiner Hand“. Briefe 1968/69 (Hg.: Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier, Suhrkamp, Frankfurt/M 2009, 250 Seiten, ISBN: 978-3-518-12586-1)
  • Ingeborg Gleichauf: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gundrun Insslin (Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 320 Seiten, ISBN: 978-3-608-94918-6)
  • Michael Kapellen: Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre (Klöpfer und Meyer, Tübingen 2005, 196 Seiten, ISBN: 3-937667-65-2)
  • Gerd Koenen: Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 365 Seiten, ISBN: 3-462-03313-1)
  • Ulf G. Stuberger (Hg.): „In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes und anderem“. Dokumente aus dem Prozess (Syndikat, Frankfurt/M 1977, 280 Seiten, ISBN: 3-8108-0021-X)
  • Karl-Heinz Weidenhammer: Selbstmord oder Mord? Das Todesermittlungsverfahren Baader / Ensslin / Raspe (Neuer Malik-Verlag, Kiel 1988, 504 Seiten,
    ISBN: 3-89029-033-7)
  • Lutz Wernicke: Stammheim 1977. Wirklichkeit und Propaganda (ATE, Münster 2004, 103 Seiten, ISBN: 3-89781-055-7)

© Dieter Wunderlich 2004 / 2009

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