Doris Lessing : Das goldene Notizbuch

Das goldene Notizbuch
Originalausgabe: The Golden Notebook, 1962 Das goldene Notizbuch Übersetzung: Iris Wagner S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1978 Fischer Taschenbuch, Frankfurt/M 1982 Buchreihe "Nobelpreis für Literatur" Coron bei Kindler Verlag, Berlin 2008, 801 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman "Das goldene Notizbuch" handelt von der etwa 40 Jahre alten Schriftstellerin Anna Wulf, die sich in einer persönlichen Krise befindet und unter einer Schreibblockade leidet. Doris Lessing geht es zum einen um die Auseinandersetzung mit der Form des Romans, zum anderen um die Darstellung klassischer Abhängigkeitsverhältnisse in der englischen Gesellschaft der 50er-Jahre.
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Kritik

"Das goldene Notizbuch" ist ein vielschichtiger, anspruchsvoller Roman. Doris Lessing entschied sich bewusst gegen eine lineare Darstellung; die verschachtelte, fragmentierte Form ist ihr Kommentar zum traditionellen Roman.
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Die beiden Frauen waren allein in der Londoner Wohnung. (Seite 79)

Mit diesem Satz beginnt Doris Lessing ihren Roman „Das goldene Notizbuch“. Die beiden Frauen heißen Molly Jacobs und Anna Wulf.

Bei Molly Jacobs handelt es sich um eine mittelmäßige Theaterschauspielerin in London. Ihre Ehe mit Richard Portmain scheiterte nach kurzer Zeit, aber seit der Scheidung sind sie wieder befreundet. Tommy, der gemeinsame Sohn, wurde 1933 geboren und wohnt noch bei seiner Mutter. Richard heiratete bald nach der Scheidung eine Frau namens Marion, mit der er weitere drei Söhne hat. Molly versuchte sich zunächt erfolglos als Balletttänzerin, wurde dann Journalistin und verdient den Lebensunterhalt für sich und Tommy nun als Schauspielerin.

Ihre Freundin Anna Wulf ist gleich alt – um die vierzig –, und beide gehören bis zur gewaltsamen Niederwerfung des Aufstands in Ungarn der Kommunistischen Partei in England an. Anna war nach ihrer unglücklichen Ehe fünf Jahre lang die Geliebte eines verheirateten Mannes gewesen, aber Michael verließ sie vor drei Jahren. Jetzt erzieht sie ihre elfjährige Tochter Janet wieder allein.

Anna hatte längere Zeit in Afrika gelebt und darüber einen Roman mit dem Titel „Frontiers of War“ veröffentlicht. Von den Tantiemen für das Buch leben sie und Janet.

Zur Aufbesserung des Einkommens hat Anna einen Untermieter. Eines Tages bringt Ivor einen schwulen Freund mit, einen arbeitslosen Schauspieler namens Ronnie. Einige Wochen lang duldet Anna, dass Ronnie mit Ivor zusammen wohnt, aber dann verlangt sie, dass er auszieht. Kurze Zeit später ist er wieder da. Daraufhin wirft sie beide Männer hinaus.

Gern würde Anna einen neuen Roman schreiben, aber sie leidet unter einer Schreibblockade.

Dennoch bin ich unfähig, den für mich einzig interessanten Roman zu schreiben: ein Buch, das von einer intellektuellen oder moralischen Leidenschaft durchdrungen ist, die stark genug ist, um Ordnung zu schaffen, um eine neue Art der Lebensbetrachtung zu schaffen. Der Grund dafür ist, dass ich zu zersplittert bin. (Seite 143)

Ursache der Schreibblockade ist nicht nur ein künstlerisches Problem, sondern auch eine psychische Krise.

Ebenso wie Molly sehnt Anna sich nach einem Mann an ihrer Seite, gerät jedoch immer wieder an einen falschen. Eines Tages fällt ihr auf, dass sie und Molly sich nach wie vor über ihre Männerbeziehungen definieren.

Eines Abends muss Molly ins Theater, aber sie macht sich Sorgen um Tommy, der seinen Vater am Nachmittag im Büro besuchte, danach bei Marion war und noch nicht zurückgekmmen ist. Kurz nachdem Molly und ihre Freundin miteinander telefonierten, taucht der Zwanzigjährige bei Anna auf.

Er wundert sich darüber, dass sie offenbar statt eines Tagebuches vier verschiedenfarbige Notizbücher führt: ein schwarzes, ein rotes, ein gelbes und ein blaues.

„Warum hast du vier Notizbücher?“
„Ich weiß es nicht.“
„Du musst es wissen.“
„Ich habe mir nie gesagt: Ich werde vier Notizbücher führen, es hat sich einfach so ergeben.“
„Warum nicht ein einziges Notizbuch?“
Sie überlegte eine Weile und sagte: „Vielleicht weil es so ein Mischmasch wäre, so ein Durcheinander.“
„Warum darf es denn kein Durcheinander sein?“ (Seite 358)

Tommy lehnte das Angebot seines Vaters ab, ihm eine Arbeitsstelle in seinem Unternehmen zu geben; er zieht es vor, noch eine Weile nichts zu tun. Anna meint, sein Problem sei, dass er dank seines Vaters zu viele Wahlmöglichkeiten habe und obendrein noch fünf weitere Jahre lang auf Kosten seiner Mutter verbummeln könnte. Tommy erklärt, dass er Reggie Gates beneide, den Sohn des Milchmanns, der keine Wahl habe. Reggie bekam ein Stipendium. Besteht er das Examen, steigt er in den Mittelstand auf, fällt er durch, wird er wie sein Vater lebenslang Milch austragen.

Als Tommy wieder gegangen ist, kommt Marion zu Anna. Weil sie – wie üblich – betrunken ist, lässt Anna sie in ihrer Wohnung übernachten.

Spät am Abend ruft Molly an: Tommy hat sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen. Er liegt im St. Marys Hospital.

Eine Woche lang wissen die Ärzte nicht, ob sie ihn durchbekommen. Tommy überlebt die Verletzung, aber er ist erblindet. Der Schock veranlasst Marion, mit dem Trinken aufzuhören. Sie ist nun ständig mit Tommy zusammen. Molly, die bereits ihren Mann an Marion verloren hat, lässt sich nun auch noch den Sohn von ihr nehmen. Und Richard fühlt sich von Marion vernachlässigt.

Richard sagt wütend: „Ich bin ihr gleichgültig. Sie hat keine Zeit für mich. Ich könnte ebensogut überhaupt nicht da sein.“ Das klang nach verletzter Eitelkeit. Anna war erstaunt, dass er ernstlich verletzt war. Marions Flucht aus ihrer alten Rolle als Gefangene oder Leidensgenossin hatte ihn allein und verletzt zurückgelassen. (Seite 487)

Der Neunundvierzigjährige bezahlt Marion und Tommy eine gemeinsame Sizilienreise. Nachdem Marion einer Scheidung zugestimmt hat, fliegt er mit Jean – seiner Sekretärin und Geliebten – nach Kanada. Dort führt er Geschäftsverhandlungen, aber er fühlt sich wie in Flitterwochen.

Durch Schreiben versucht Anna wieder zu sich selbst zu finden. Um das Chaos ihrer Gedanken zu ordnen, führt sie vier Notizbücher parallel: In dem schwarz eingebundenen Buch hält sie ihre Erinnerungen an ihr Leben in Afrika fest, im roten notiert sie ihre politischen Gedanken und Erfahrungen; im blauen Notizbuch befasst sie sich mit den Tagesereignissen, und das gelbe dient als Materialsammlung für einen neuen Roman über eine Protagonstin Ella, einer Journalistin, die einen Roman schreibt.

Mit dicken Doppelstrichen schließt Anna nach ein paar Jahren die vier Notizbücher ab, denn sie will die verschiedenen Aspekte ihres Lebens nicht länger voneinander trennen. Sie beginnt „das goldene Notizbuch“.

Der psychisch gestörte Amerikaner Saul Green, mit dem sie zusammenlebt, gibt ihr den ersten Satz eines Romans vor:

„Da sind die beiden Frauen, die du bist, Anna. Schreibe: Die beiden Frauen waren allein in der Londoner Wohnung.“
„Du willst, dass ich einen Roman mit ‚Die beiden Frauen waren allein in der Londoner Wohnung‘ beginne?“
„Warum sagst du das so? Schreibe es, Anna.“
Ich schrieb es.
„Du wirst das Buch schreiben, du wirst es schreiben, du wirst es beenden.“ (Seite 762)

Anna formuliert ihrerseits den Anfang einer Novelle, die Saul schreiben soll:

Auf einem karstigen Berghang in Algerien betrachtete ein Soldat das Mondlicht, das auf seinem Gewehr glänzte. (Seite 762)

Nach diesem Satz wechselt die Handschrift im goldenen Notizbuch. Der Rest stammt von Saul Green. Die von ihm im goldenen Notizbuch niedergeschriebene Novelle wird erfolgreich veröffentlicht.

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Der Roman „Das goldene Notizbuch“ handelt von einer etwa vierzig Jahre alten Schriftstellerin, die sich in einer Krise befindet und unter einer Schreibblockade leidet. Die Biografie der Protagonistin Anna Wulf weist Übereinstimmungen mit der von Doris Lessing auf, aber „Das goldene Notizbuch“ ist keine Autobiografie. Der Autorin geht es zum einen um die Auseinandersetzung mit der Form des Romans, zum anderen um die Darstellung klassischer Abhängigkeitsverhältnisse in der englischen Gesellschaft der Fünfzigerjahre.

Es ist keine Frage, dass Das goldene Notizbuch einen Meilenstein des Schreibens von Frauen und über Frauen darstellt. (Barbara Christ: „Never Let The Printed Page Be Your Master“. Einführung in Leben und Werk Doris Lessings, Seite 48)

Anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Doris Lessing sagte Per Wästberg am 10. Dezember 2007 über „Das goldene Notizbuch“:

In diesem experimentellsten ihrer Romane stoßen schöpferischer Wille und die Sehnsucht nach Liebe aufeinander. Er bildet die Schwierigkeiten ab, mit denen eine Frau zu kämpfen hat, wenn sie sich sowohl Unabhängigkeit als auch Intimität wünscht, denn ihre Freiheit ist paradoxerweise unvollkommen ohne die Liebe, welche jene wiederum untergräbt. Lessing zeigt, wie Konventionen und andere Fallstricke empfindsame, leidenschaftliche Frauen daran hindern, wahrhaftig und erfüllt zu leben. (Seite 20)

Doris Lessing schreibt zwar dediziert aus der Perspektive einer intellektuellen Frau und schildert „viele weibliche Gefühle der Aggression, der Feindseligkeit, des Grolls“ (Doris Lessing 1971 im Vorwort zu „Das goldene Notizbuch“, Seite 61), aber sie wehrt sich gegen die versuchte Vereinnahmung durch die Frauenbewegung:

Aber dieser Roman war keine Posaune für Woman’s Liberation. (Vorwort, Seite 61)

„Das goldene Notizbuch“ ist ein vielschichtiger, anspruchsvoller Roman voller Dialoge und Reflexionen.

Anna lachte: „Männer, Frauen. Gebunden. Frei. Gut. Schlecht. Ja. Nein. Kapitalismus. Sozialismus. Sex. Liebe …“ (Seite 124)

Doris Lessing entschied sich bewusst gegen eine lineare Darstellung; die verschachtelte, fragmentierte Form ist ihr Kommentar zum traditionellen Roman.

Eine andere Vorstellung war die, dass das Buch, wenn es nur die richtige Form bekäme, seinen eigenen Kommentar über den traditionellen Roman abgeben würde […] mein Hauptziel war, ein Buch zu gestalten, das seinen eigenen Kommentar abgeben würde, eine wortlose Aussage: Es sollte durch die Art, wie es gestaltet war, sprechen. (Vorwort, Seite 67f)

Die Form dieses Romans sieht folgendermaßen aus:
Es gibt ein Skelett oder einen Rahmen, genannt Ungebundene Frauen, der einen konventionellen kurzen Roman darstellt, etwa 60 000 Wörter lang, und der für sich allein stehen könnte. Aber er ist in fünf Abschnitte geteilt und durch die jeweiligen Stadien der vier Notizbücher, schwarz, rot, gelb und blau, unterbrochen. Die Notizbücher werden von Anna Wulf, einer Hauptfigur von Ungebundene Frauen, geführt. Sie führt vier und nicht eines, weil sie, wie sie erkennt, die Dinge voneinadner getrennt halten muss, aus Furcht vor dem Chaos, vor Formlosigkeit – vor dem Zusammenbruch. Zwänge, innere und äußere, setzen den Notizbüchern ein Ende; ein dicker schwarzer Strich ist quer über die Seite von allen vieren gezogen. Aber nun, da ihnen ein Ende gesetzt ist, kann aus ihren Fragmenten etwas Neues entstehen, Das goldene Notizbuch. (Vorwort, Seite 59)

Inhaltsverzeichnis:

  • Ungebundene Frauen 1
  • Das schwarze Notizbuch
  • Das rote Notizbuch
  • Das gelbe Notizbuch
  • Das blaue Notizbuch
  • Ungebundene Frauen 2
  • Das schwarze Notizbuch
  • Das rote Notizbuch
  • Das gelbe Notizbuch
  • Das blaue Notizbuch
  • Ungebundene Frauen 3
  • Das schwarze Notizbuch
  • Das rote Notizbuch
  • Das gelbe Notizbuch
  • Das blaue Notizbuch
  • Ungebundene Frauen 4
  • Das schwarze Notizbuch
  • Das rote Notizbuch
  • Das gelbe Notizbuch
  • Das blaue Notizbuch
  • Das goldene Notizbuch
  • Ungebundene Frauen 5

 

Die Rahmenhandlung trägt in der englischen Originalfassung den Titel „Free Women“. Die deutsche Version – „Ungebundene Frauen“ – gibt nur einen Aspekt davon wieder. Man könnte „Free Women“ auch mit dem Imperativ „befreit Frauen“ übersetzen.

 

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Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © S. Fischer Verlag
Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe des Coron-Verlags

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