Anita Berber


10. Juni 1899: Anita Berber wurde in Leipzig geboren. Ihr Vater, der Konzertgeiger Felix Berber (1871 – 1930), hatte ihre Mutter, die Kabarettsängerin Anna Lucie Thiem (1877 – 1954), erst geheiratet, als diese bereits schwanger war.

8. November 1902: Felix Berber und Lucie Thiem wurden geschieden.

1906: Weil sich Lucie aufgrund ihrer Engagements nicht um ihre Tochter kümmern konnte, kam Anita zu ihrer Großmutter Luise Thiem nach Dresden.

5. April 1914: Anita Berber wurde konfirmiert.

Sie besuchte noch ein paar Monate das Töchterbildungsinstitut von Curt Weiß in Weimar. Dann zog sie nach Berlin, wo Lucie Berber inzwischen mit ihrer Mutter Luise und ihren beiden unverheirateten Schwestern Else und Margarete zusammen in der Zähringer Straße wohnte.

1915 bis 1917: Anita Berber nahm Schauspielunterricht bei Maria Moissi und ließ sich zugleich von der renommierten impressionistischen Ausdruckstänzerin Rita Sacchetto ausbilden.

24. Februar 1916: Anita Berber stand zum ersten Mal auf der Bühne und tanzte vor Publikum.

Danach fuhr sie mit Sacchettos Compagnie nach Hannover, Leipzig, Hamburg und Frankfurt am Main.

6. März 1917: Im Theatersaal der Hochschule für Musik in Berlin gab Anita Berber ihren ersten Solo-Abend.

Sie bewarb sich um weitere Engagements, tanzte als Solistin in Varietés – so zum Beispiel im »Wintergarten« –, trat in den legendären Revuen von Rudolf Nelson auf und avancierte zum Berliner Bühnenstar.

1918: Anita Berber reiste zu Gastspielen in die Schweiz und nach Österreich. Das Kriegsende erlebte sie in Budapest.

Der Bildhauer Constantin Holzer-Defanti (1881 – 1951) gestaltete für das Rosenthal-Werk in Selb zwei Porzellantänzerinnen nach Anita Berber.

1918/19: Der Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Richard Oswald entdeckte Anita Berber fürs Kino. Sie debütierte in »Das Dreimäderlhaus« und übernahm auch Rollen in umstrittenen Filmen über Homosexualität (»Anders als die Andern«) und Prostitution (»Das gelbe Haus«), mit denen Richard Oswald das Genre des Aufklärungsfilms begründete. Insgesamt war Anita Berber in rund fünfundzwanzig Filmen zu sehen.

1919: Lotte Pritzel (1887 – 1952) zeichnete Anita Berber mit einem die Brüste frei lassenden Dekolleté und fertigte nach dieser Vorlage eine ihrer berühmten Puppen an. Im selben Jahr stellte Charlotte Berend-Corinth (1880 – 1967) Anita Berber auf acht Lithografien in lasziven, wenn nicht pornografischen Szenen dar.

Um aus der Enge der Wohnung in der Zähringer Straße herauszukommen und nicht mehr auf Großmutter, Mutter und zwei Tanten Rücksicht nehmen zu müssen, heiratete Anita Berber Eberhard von Nathusius, den vier Jahre älteren Sohn einer wohlhabenden Familie. Aber sie war alles andere als eine brave Ehefrau.

1920: Anita Berber trat in dem legendären Berliner Kabarett »Schall und Rauch« auf. Im Sommer tanzte sie in der von Celly de Rheidt in Hamburg gegründeten Revue zusammen mit Willy Knobloch, dem homosexuellen Sohn einer wohlhabenden Hamburger Patrizierfamilie, der gerade unter dem Künstlernamen Sebastian Droste eine Karriere als expressionistischer Tänzer, Lyriker und Maler begonnen hatte.

1921: Das Magazin »Vanity Fair« veröffentlichte Fotos von Anita Berber; man hatte also sogar in den USA von ihr gehört.

Anita Berber war die erste Nackttänzerin in St. Pauli. Bis dahin hatten die Behörden entblößte Brüste auf der Bühne nur bei »lebenden Bildern« geduldet, also in bewegungslosen Arrangements.

Weil ihr der Ausdruckstanz ein echtes künstlerisches Anliegen war, reagierte Anita Berber ungehalten auf unpassende Zurufe, und mitunter begnügte sie sich nicht mit Beschimpfungen, sondern sprang von der Bühne und schlug auf einen Zuschauer ein, der ihr unangenehm aufgefallen war.

In Berlin führte Anita Berber inzwischen Hüte und Kleider vor. Mit ihrer knabenhaften Figur sah sie auch in einem Herrenanzug elegant aus und kreierte damit einen Stil, der als »à la Berber« in die Modegeschichte einging und von Marlene Dietrich aufgegriffen wurde.

1922: Nach drei Jahren trennte Anita Berber sich von ihrem Mann, der offenbar ohnehin keine große Rolle in ihrem Leben gespielt hatte und zog zu ihrer lesbischen Freundin Susi Wanowsky, der geschiedenen Ehefrau eines höheren Berliner Polizeibeamten, die in Berlin die Frauenbar »La Garçonne« betrieb.

Als Anita Berber zum zweiten Mal zu Dreharbeiten nach Wien kam, nutzte Leonie von Puttkamer die Gelegenheit, sie im Schlosscafé anzusprechen. Die mit dem Präsidenten der Österreichischen Landwirtschafts-AG verheiratete Deutsche schwärmte schon seit einiger Zeit für die Tänzerin, und Susi Wanowsky, die ihre Geliebte nach Wien begleitet hatte, konnte nicht verhindern, dass Anita Berber und Leonie von Puttkamer eine kurze Affäre hatten.

Anita Berber posierte in Wien für Aktaufnahmen der österreichischen Mode- und Porträtfotografin Dora Kallmus (»Madame d’Ora«, 1881 – 1963). Auf diesen Bildern sehen wir eine schlanke junge Frau mit langen, wohlgeformten Beinen und schönen kleinen Brüsten in harmonischen Körperhaltungen.

8. Oktober 1922: Sebastian Droste, der Anita Berber nach Wien gefolgt war und mit ihr »Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase« erarbeitet hatte, sollte wegen Betrugs und Urkundenfälschung ausgewiesen werden, aber ein Rechtsanwalt erreichte, dass der Beschluss erst einmal nicht vollstreckt wurde und das Tanzpaar weiter proben konnte.

Inzwischen war Anita Berber drogensüchtig wie ihr Partner.

14. November 1922: Aufführung der »Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase« im Großen Konzerthaussaal in Wien.

15. November 1922: Sebastian Droste wurde festgenommen. Inzwischen beschuldigte man ihn auch noch, zwei Gräfinnen bestohlen zu haben. Weil Anita Berber für ihn bürgte, wurde er aus der Haft entlassen.

Die beiden schlossen jedoch nicht nur mit dem »Ronacher« Verträge für Dezember ab, sondern auch noch mit zwei weiteren Nachtlokalen, dem »Apollo« und dem »Tabarin«. Weil es unmöglich war, diese Verpflichtungen gleichzeitig zu erfüllen, verurteilte das zuständige Bezirksgericht Anita Berber und Sebastian Droste zu einer zehntägigen Arreststrafe. Um sie nicht antreten zu müssen, versprachen die Künstler, in keinem anderem Varieté als dem »Ronacher« aufzutreten – nur um kurz darauf in den Kammerspielen zu tanzen. Auf diese Weise sorgten sie laufend für Schlagzeilen, und entsprechend gut besucht waren ihre umstrittenen Veranstaltungen.

5. Januar 1923: Sebastian Droste wurde erneut verhaftet und diesmal auch tatsächlich über die Grenze nach Ungarn abgeschoben.

Einige Tage später versuchte Anita Berber offenbar, Kleidungsstücke und Wertsachen aus dem »Tabarin« zu schmuggeln, und als sie vom Pförtner angehalten wurde, versetzte sie ihm einen Faustschlag in Gesicht.

13. Januar 1923: Anita Berber wurde festgenommen und abgeschoben.

1923: Anita Berber und Sebastian Droste sollen in Budapest geheiratet haben, aber dafür gibt es keine Belege.

Sebastian Droste bestahl Anita Berber in Berlin und setzte sich nach New York ab.


Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. © Piper Verlag 2009

Ein literarisches Porträt von Anita Berber finden Sie in dem Buch
„AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts“ von Dieter Wunderlich.
Piper Verlag, München 2009 – Leseprobe


12. Oktober 1923: Debüt des amerikanischen Tänzers Henri Châtin-Hofmann (1900 – 1961) – des Sohnes eines Pastors der Ziongemeinde in Baltimore – im Blüthnersaal in Berlin. Anita Berber saß im Publikum.

10. September 1924: Anita Berber und Henri Châtin-Hofmann heirateten.

1924: Der noch nicht ganz achtzehn Jahre alte Klaus Mann begegnete der Tänzerin in Berlin.

Anita Berber sorgte nicht nur durch ihre Lebensgier, sondern auch durch cholerische Prügeleien fortwährend für Skandale und Schlagzeilen. Sie galt als verrucht, weil sie Cognac trank, Drogen nahm und keine Hemmungen kannte. Einige behaupten sogar, sie habe sich prostituiert, wenn sie Geld benötigte.

Der Gynäkologe Ludwig Levy-Lenz (1889 – 1976) behauptet, Anita Berber sei frigid gewesen.

1925: Otto Dix (1891 – 1969) malte sie in seinem Atelier in Düsseldorf: »Das Bildnis der Tänzerin Anita Berber«. Der Künstler stellte die Sechsundzwanzigjährige als Sinnbild des Lasters dar: ausgezehrt, mit weißem Gesicht, dunkel ummalten Augen und grellrot geschminkten Lippen in einem obszön eng anliegenden, unvorteilhaft den Bauch betonenden roten Kleid. Die Stadt Nürnberg erwarb das schockierende Bild 1928. Fünf Jahre später klassifizierten die Nationalsozialisten das Gemälde als »entartet« und entfernten es aus der Städtischen Kunstsammlung. (Heute hängt es im Kunstmuseum Stuttgart.)

1926: Henri und Anita Berber führten in Hamburg »Tänze der Erotik und Ekstase« vor. Sie traten in Stockholm, Amsterdam und Osteuropa auf. Jeden Theaterleiter trieb Anita Berber mit ihrer Unpünktlichkeit in den Wahnsinn, und bevor sie nicht eine Flasche Cognac geleert hatte, kam sie nicht aus der Garderobe.

12. März 1926: Henri Châtin-Hofmann soll in einer Bar in Prag zusammengeschlagen worden sein. Es heißt, Anita Berber habe einem Gast, von dem sie zum Ausziehen aufgefordert worden war, ins Gesicht gespuckt und so den Tumult ausgelöst.

Einige Monate später wurde die Tänzerin in Zagreb festgenommen, weil sie angeblich den serbischen König beleidigt hatte. Als amerikanischer Staatsangehöriger erreichte Henri Châtin-Hofmann nach sechs Wochen die Freilassung seiner Ehefrau, und man schob das Paar ab.

Beim Berliner Polizeipräsidium ging eine Beschwerde über die »unsittlichen« Darbietungen Anita Berbers im »Metropol« ein.

Der Polizeipräsident leitete daraufhin gegen das Tanzpaar und Salomon Weber, den Leiter des »Metropol«, ein Strafverfahren ein.

27. Juni 1927: Sebastian Droste starb mit neunundzwanzig in seinem Elternhaus in Hamburg.

Juli 1927: Anita Berber entdeckte in München ein Plakat, auf dem ein Violinabend ihres Vaters angekündigt wurde. Kurzentschlossen besuchte sie das Konzert und ging anschließend zu ihm in die Garderobe, aber er weigerte sich, mit ihr zu sprechen.

13. Juni 1928: Während einer Tournee im Nahen Osten mit Henri Châtin-Hofmann brach Anita Berber in Damaskus auf der Bühne zusammen. Die Ärzte diagnostizierten eine Tuberkulose-Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium.

Daraufhin wollte das Paar so schnell wie möglich nach Berlin zurück, doch wegen des schlechten Gesundheitszustands der Patientin musste die Reise mehrmals unterbrochen werden; sie dauerte monatelang. In Prag hatten Henri und Anita Berber kein Geld mehr, um Fahrkarten nach Berlin lösen zu können. Erst als Berliner Künstler sammelten und das Geld schickten, konnten sie die letzte Etappe der Rückreise antreten.

Im Bethanien-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg machte die abgemagerte Neunundzwanzigjährige noch Zukunftspläne und sorgte sich um die Schönheit ihrer Beine. Als es keine Hoffnung mehr für sie gab, verlangte sie nach Johannes Kessler, dem Pfarrer der Lukaskirche in Dresden, der sie konfirmiert hatte, aber der befand sich auf einer Auslandsreise.

10. November 1928: Während Anita Berber starb, tanzte Henri mit seiner neuen Partnerin Shelda im Weidenhofcasino.

Das Leben der Exzentrikerin Anita Berber inspirierte Rosa von Praunheim zu seinem Film „Anita. Tänze des Lasters“:

Anita. Tänze des Lasters – Regie: Rosa von Praunheim – Drehbuch: Marianne Enzensberger, Lotti Huber, Hannelene Limpach, Rosa von Praunheim – Kamera: Elfi Mikesch – Schnitt: Mike Shephard, Rosa von Praunheim – Musik: Konrad Elfers – Darsteller: Lotti Huber, Ina Blum, Mikael Honesseau, Hannelene Limpach, Eva-Maria Kurz, Friedrich Steinhauer u.a. – 1987; 90 Minuten

Literatur über Anita Berber

  • Baerbel Becker (Hg.): Bad Women
  • Ralf Georg Czapla: Getanzte Dichtung – gedichteter Tanz. Anita Berbers und Sebastian Drostes „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ zwischen poetischer Reflexion und tänzerischer Improvisation. In: Tanz im Kopf – Dance and Cognition
  • Lothar Fischer: Tanz zwischen Rausch und Tod. Anita Berber 1918 – 1928 in Berlin
  • Lothar Fischer: Anita Berber. Göttin der Nacht. Collage eines kurzen Lebens
  • Leo Lania: Der Tanz ins Dunkel. Anita Berber. Ein biographischer Roman
  • Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts

© Dieter Wunderlich 2007 – 2009
Hauptquelle: Lothar Fischer, Anita Berber.
Göttin der Nacht. Collage eines kurzen Lebens

Michela Murgia - Accabadora
Michela Murgia räsoniert nicht, sondern inszeniert in einer wortkargen, vitalen Sprache eine packende Geschichte, die in einer archaischen Umgebung spielt. "Accabadora" ist eine Perle anspruchsvoller Literatur.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.