Thomas Mann : Wälsungenblut
Inhaltsangabe
Kritik
Die Geschichte beginnt mit einem Gongschlag sieben Minuten vor zwölf und einem weiteren um Punkt zwölf Uhr. Damit gibt der Diener Wendelin das Zeichen für die Familie Aarenhold, sich zum Frühstück – Fleischbrühe, Seezunge, Fasan und Ananas – im Speisezimmer einzufinden. Herr Aarenhold kommt aus der Bibliothek. Er stammt aus dem Osten, aus einfachen Verhältnissen, heiratete aber die Tochter eines erfolgreichen Händlers und wurde durch kühne Unternehmungen wie die Erschließung eines Kohlebergwerks reich. Jetzt erwirbt er beständig literarische Altertümer. Seine Frau, „klein, hässlich, früh gealtert und wie unter einer fremden, heißeren Sonne verdorrt“, kommt über die Treppe herunter. Es folgen die erwachsenen Kinder: Kunz, der gerade sechs Wochen bei einem Husarenregiment dient und einen martialischen Schmiss zur Schau trägt, die achtundzwanzigjährige verbitterte Jurastudentin Märit und – Hand in Hand – die Jüngsten, die neunzehn Jahre alten Zwillinge Siegmund und Sieglind. Beckerath, Sieglinds Verlobter, trifft ein paar Minunten zu spät ein. Der Fünfunddreißigjährige ist aus dem Ministerium herbeigeeilt, wo er irgendeine Bürotätigkeit ausübt. In acht Tagen will er mit Sieglind Hochzeit feiern.
Man setzt sich zu Tisch und lässt sich die Speisen von den Bediensteten servieren.
Die Ausstattung des Lebens war so reich, so vielfach, so überladen, dass für das Leben selbst beinahe kein Platz blieb.
Im Sommer pflegt die Familie zwei Monate in einem Schlösschen am See und weitere vier Wochen am Meer oder im Gebirge zu verbringen. Herr Aarenhold bezahlt einen Professor, der Siegmund in Zeichnen und Malerei unterrichtet, obwohl der Junge kein besonderes Talent dafür hat. Herr Aarenhold bietet seiner Familie jeden Komfort, aber er weiß, dass die Kinder ihn wegen seiner Herkunft und seines Bluts verachten, auch wegen seiner Selbstpflege und seiner „dichterischen Geschwätzigkeit, der die Hemmungen des Geschmacks fehlen“.
Man spricht über die geplante Hochzeitsreise, Mode, eine neue Lieferung Zigarren aus Havanna, führt ein Streitgespräch über eine philosophische Frage, und Herr Aarenhold meint, es komme darauf an, „dass die Dinge einem neu bleiben, und dass man sich eigentlich an nichts gewöhnt“.
Beim Nachtisch äußern die Zwillinge die Bitte, am Abend noch einmal allein in die Oper gehen zu dürfen.
Nachdem Siegmund sich sorgfältig gewaschen, rasiert und zurechtgemacht hat, lassen er und Sieglind sich zur Oper fahren. Es handelt sich um eine Aufführung der Oper „Die Walküre“ von Richard Wagner. In der Pause überlegt Sieglind, ob sie ein Eis essen soll.
„Ich möchte Eis nehmen“, sagte sie, „wenn es nicht höchstwahrscheinlich so minderwertig wäre.“
„Unmöglich!“, sagte er. Und so aßen sie von den Süßigkeiten aus ihrer Dose, Kognak-Kirschen und bohnenförmige Schokolade-Bonbons, die mit Maraschino gefüllt waren.
Als die Zwillinge nach Hause kommen, sind die Eltern noch nicht vom Diner bei den Erlangers zurück, und weder Kunz noch Märit sind da, nur die Bediensteten. Man hat ihnen eine Platte mit Sandwiches und Rotwein hergerichtet. Siegmund mag nichts essen, raucht stattdessen eine Zigarette und zieht sich dann in sein Schlafzimmer zurück. Er weiß genau, dass seine Schwester noch einmal bei ihm hereinschauen wird, legt sich auf das Eisbärenfell vor seinem Bett und wartet auf sie. Als sie ihn so liegen sieht, erschrickt sie und befürchtet schon, er sei krank. Sie beugt sich über ihn und küsst ihn zärtlich.
Mit einer süßen Sinnlichkeit liebte jedes das andere um seiner verwöhnten und köstlichen Gepflegtheit und seines guten Duftes willen. Sie atmeten diesen Duft mit einer wollüstigen und fahrlässigen Hingabe, pflegten sich damit wie egoistische Kranke, berauschten sich wie Hoffnungslose, verloren sich in Liebkosungen, die übergriffen und ein hastiges Getümmel wurden und zuletzt nur ein Schluchzen waren – –
Danach bleibt Sieglind noch eine Weile auf dem Eisbärenfell sitzen.
„Aber Beckerath …“, sagte sie und suchte ihre Gedanken zu ordnen. „Beckerath, Gigi … was ist nun mit ihm? …“
„Nun“, sagte er, und einen Augenblick traten die Merkzeichen seiner Art sehr scharf auf seinem Gesichte hervor, „dankbar soll er uns sein. Er wird ein minder triviales Dasein führen, von nun an.“
„Wälsungenblut“ ist eine formvollendete, bis ins letzte Detail ausgefeilte Erzählung von Thomas Mann. Nach einem Gongschlag treten die Figuren nacheinander auf, und Thomas Mann beschreibt jede von ihnen sehr pointiert durch markante Einzelheiten. Es handelt sich um eine blasierte Familie, die im Luxus lebt und sich mit dem bieder-beflissenen Verlobten der jüngeren Tochter um 12 Uhr mittags zum so genannten Frühstück trifft. Herr Aarenhold weiß sehr wohl, dass ihn seine erwachsenen Söhne und Töchter wegen seiner einfachen Herkunft verachten, aber er plaudert scheinbar unbefangen über Belanglosigkeiten. Es ist eine Welt der Fassaden und Kulissen. Erst gegen Ende zu führt uns Thomas Mann hinter die Bühne …
So führt uns Mann in ganz andere Räume als ursprünglich angenommen, und aus den funkelnden Preziosen leuchtet uns der Wahnsinn entgegen, bedrohlich, stumm, erschreckend banal. (Martina Gedeck, Süddeutsche Zeitung, 15. September 2006)
Das Verhältnis der Zwillinge Siegmund und Sieglind in „Wälsungenblut“ spiegelt sich in der am 26. Juni 1870 in München uraufgeführten Oper „Die Walküre“ von Richard Wagner, die zusammen mit „Das Rheingold“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ den „Ring des Nibelungen“ bildet. In „Die Walküre“ geht es um die von Wotan in freier Liebe gezeugten Zwillinge Sieglinde und Siegmund. Sieglinde wurde von Hunding mit Gewalt geraubt und zur Ehe gezwungen. Jahre später kommt Siegmund, der damals fliehen konnte, ahnungslos zu Hunding und Sieglinde. Hunding fordert ihn für den nächsten Tag zum Zweikampf heraus, gewährt ihm jedoch Gastfreundschaft für die Nacht. Sieglinde betäubt ihren Ehemann mit einem Schlaftrunk und schleicht sich zu dem Fremden, in dem sie ihren Zwillingsbruder wiedererkennt.
Rache sollte nun ihre geschwisterliche Liebe sein! (Thomas Mann: Wälsungenblut)
Hunding tötet Siegmund im Zweikampf, aber Sieglinde kommt neun Monate später mit einem von ihrem Zwillingsbruder gezeugten Sohn nieder, dem sie den Namen Siegfried gibt.
In den altgermanischen Sagen tauchen die „Wälsungen“ Siegmund und Sieglinde auch als Kinder Wölsings auf (daher auch: Wölsungen).
„Wälsungenblut“ sollte zunächst 1906 in der „Neuen Rundschau“ erscheinen, aber Thomas Mann zog die Veröffentlichung zurück, und die Erzählung kam erst fünfzehn Jahre später in Buchform heraus.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Katia Mann
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