Paul Auster : Stadt aus Glas

Stadt aus Glas
Originaltitel: City of Glass, 1985 Stadt aus Glas Übersetzung: Joachim A. Frank Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1987 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 6, München 2004
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Unter dem Pseudonym William Wilson schreibt Daniel Quinn Detektivromane, die aus der Perspektive des Protagonisten Max Work erzählt werden. Ein ohne Kontakte zu anderen Menschen aufgewachsener Mann hält ihn irrtümlich für einen Privatdetektiv mit dem Namen Paul Auster und will sich von ihm vor einem befürchteten Mordanschlag seines Vaters schützen lassen ...
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Kritik

Facettenreiches Spiel mit gleichen Personennamen, übereinstimmenden Initialen und verschachtelten Identitäten. Detektiv, Schriftsteller und Leser scheitern gleichermaßen in ihrem Bemühen, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen und einen Sinn des Lebens zu erkennen: "Stadt aus Glas".
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Der Anruf

Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluss kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später. Am Anfang waren einfach nur das Ereignis und seine Folgen. (Seite 5)

So beginnt der Roman „Stadt aus Glas“ von Paul Auster.

Daniel Quinn ist fünfunddreißig und wohnt in Manhattan. Seine Frau und sein Sohn Peter leben nicht mehr, doch über die Umstände ihres Todes erfahren wir nichts weiter. Früher hatte er lange Übersetzungen, Essays, Gedichtbände und Theaterstücke veröffentlicht, aber dann gab er das auf und fing an, unter dem Pseudonym William Wilson Detektivromane zu schreiben, die aus der Perspektive des Protagonisten, des Privatdetektivs Max Work, erzählt werden. Mit jedem Roman ist Quinns eigene Persönlichkeit ein Stück weiter in den Hintergrund getreten.

Er hatte natürlich schon vor langer Zeit aufgehört, sich selbst für wirklich zu halten. (Seite 12)

Als der nächtliche Anrufer sich erneut meldet und dringend mit einem Privatdetektiv namens Paul Auster sprechen möchte, gibt Daniel Quinn sich als dieser aus. Sein Gesprächspartner sucht den Schutz eines Detektivs, weil er einen Mordanschlag befürchtet.

Die Stillmans

Als Quinn bei der angegebenen Adresse läutet, öffnet eine dreißig- bis fünfunddreißigjährige Frau: Virginia, die Ehefrau des Anrufers Peter Stillman. Der hält seinem Besucher einen stundenlangen verwirrenden Monolog. Erst danach erklärt Virgina Stillman, um was es sich handelt.

Die Stillmans aus Boston stellten im 19. Jahrhundert mehrere Gouverneure, Bischöfe und Botschafter sowie einen Rektor der Universität von Harvard und brachten es zu großem Reichtum. Peter Stillmans Vater, der ebenfalls Peter heißt, studierte in Harvard Philosophie und Theologie und erhielt dann einen Lehrauftrag an der theologischen Fakultät der Columbia University in New York. Bereits mit vierunddreißig wurde er ordentlicher Professor. Peters Mutter starb, als der Junge zwei Jahre alt war – vermutlich an einer Überdosis Schlaftabletten. Ein halbes Jahr lang sorgte ein Kindermädchen für ihn, dann gab sein Vater die Professur auf und kümmerte sich von da an selbst um seinen Sohn, das heißt, er sperrte ihn in ein abgedunkeltes Zimmer seiner Wohnung und enthielt ihm jeden Kontakt außer gelegentlichen Schlägen vor. Mit diesem wahnwitzigen Experiment wollte er die Überlagerung der Sprache Gottes durch das Erlernen einer menschlichen Sprache verhindern.

1969, nach neun Jahren, musste er sich das Scheitern des Experiments eingestehen. Da verbrannte er seine Aufzeichnungen. Das Feuer griff im Arbeitszimmer rasch um sich und zerstörte einen Großteil der Wohnung. Immerhin traf die Feuerwehr rechtzeitig ein, um ihn und seinen Sohn aus den Flammen zu retten. Der damals elfjährige Junge wurde in ein Krankenhaus gebracht, in dem Virginia später als Sprechtherapeutin arbeitete. Um ihn aus dem Krankenhaus herauszuholen und ihm die Chance für ein normales Leben zu eröffnen, heiratete sie ihn vor zwei Jahren.

Der für geisteskrank erklärte Vater soll am folgenden Tag aus der Irrenanstalt entlassen werden. Virginia hat herausgefunden, mit welchem Zug er in der Grand Central Station in Manhattan eintreffen wird. Da er seinem Sohn vor zwei Jahren einen Drohbrief schrieb (und deshalb damals nicht entlassen wurde), befürchtet sie, dass er Peter nach dem Leben trachtet. Daniel Quinn alias Paul Auster soll ihn beschatten und von ihrem Ehemann fernhalten.

Sie vereinbaren das Honorar, und als Vorschuss übergibt ihm Virginia Stillman einen Scheck über 500 Dollar, den er zwar nicht einlösen kann, weil er auf den Namen „Paul Auster“ ausgestellt wurde, aber auf Geld kommt es ihm in diesem Fall sowieso nicht an. Von wem sie seinen Namen erhalten habe, fragt er zum Schluss, und Virginia Stillman antwortet, Michael Saavedra, der Mann von Peters Krankenschwester, ein Ex-Polizist, habe ihn als besten Privatdetektiv von Manhattan empfohlen.

Observation

Den nächsten Vormittag verbringt Quinn in der Bibliothek der Columbia University und blättert in Professor Stillmans Buch „Der Garten und der Turm: Frühe Visionen der Neuen Welt“. Es ist in zwei Teile gegliedert: „Der Mythos vom Paradies“ und „Der Mythos von Babel“. Im zweiten Teil bezieht Peter Stillman sich auf Henry Dark (London 1649 – Boston 1691), der ab 1669 für John Milton als Privatsekretär gearbeitet hatte und nach dessen Tod 1675 von London nach Boston ausgewandert war. Henry Dark suchte nach der Sprache der Unschuld und prophezeite in einem kleinen Bändchen mit dem Titel „Das neue Babel“, 340 Jahre nach der Ankunft der „Mayflower“ in Plymouth – also 1960 – werde sich herausstellen, dass nicht die Hebräer, sondern die Puritaner das auserwählte Volk sind. Ihnen werde es gelingen, einen Turm zu Babel zu errichten, das zweite, immerwährende Paradies, in dem die Menschen nur noch die Sprache Gottes sprechen.

Anhand eines alten Fotos erkennt Quinn am Abend in der Grand Central Station den inzwischen über sechzig Jahre alten Professor Peter Stillman. Zu seiner Verblüffung entdeckt er hinter ihm einen Mann, der ihm wie ein Zwillingsbruder gleicht. Als der erste Stillman sich nach rechts wendet, der zweite jedoch nach links geht, will Quinn zuerst dem zweiten folgen, entscheidet sich dann aber doch für den ersten. Der fährt ein Stück mit der U-Bahn und quartiert sich dann in einem einfachen Hotel ein.

Jeden Morgen wartet Quinn von da an vor dem Hotel und folgt Stillman, der scheinbar ziellos durch die Straßen von Manhattan geht. Hin und wieder hebt er einen trivialen Gegenstand vom Pflaster auf und betrachtet ihn eingehend. Einige der Objekte wirft er wieder weg, andere legt er in seine Reisetasche und macht sich offenbar darüber Aufzeichnungen in einem roten Notizbuch. Am dreizehnten Tag will Quinn enttäuscht aufgeben: Der wohl noch immer geistig verwirrte Mann scheint nichts Böses vorzuhaben. Doch als Quinn einige der Rundgänge in einen Stadtplan einzeichnet, fällt ihm auf, dass die Skizzen wie Buchstaben aussehen: OWEROFBAB – „OWER OF BAB“. Die ersten vier Rundgänge hatte Quinn nicht protokolliert, und zwei fehlen wohl noch, dann ist der Begriff „THE TOWER OF BABEL“ vollständig.

Als er Peter Stillman auf einer Parkbank anspricht und sich als Daniel Quinn vorstellt, erzählt ihm der Professor, er suche nach einer neuen Sprache und sei kurz davor, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen.

„Denn unsere Wörter entsprechen der Welt nicht mehr. Als die Dinge noch heil waren, hatten wir die Zuversicht, dass unsere Wörter sie ausdrücken konnten. aber nach und nach sind diese Dinge zerbrochen, zersplittert, ins Chaos gestürzt. Doch unsere Wörter sind dieselben geblieben. Sie haben sich der neuen Wirklichkeit nicht angepasst. Jedesmal, wenn wir von dem zu sprechen versuchen, was wir sehen, sprechen wir daher falsch und entstellen das, was wir darzustellen versuchen […]“ (Seite 102)

Bei der zweiten Begegnung erinnert Stillman sich offensichtlich nicht an Quinn, der jetzt „Henry Dark“ als seinen Namen angibt. Peter Stillman klärt ihn darüber auf, dass Henry Dark nur eine erfundene Figur sei, die er in seinem Buch so genannt habe, weil die Initialen auch auf Humpty Dumpty, das Ei in „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Carroll, passen. Als Quinn sich beim dritten Mal „Peter Stillman“ nennt, wendet sein Gegenüber zuerst ein, das sei er selbst, scheint dann aber zu glauben, er habe seinen Sohn vor sich.

Am nächsten Morgen wartet Quinn vergeblich darauf, dass Peter Stillman aus dem Hotel kommt. Gegen Mittag fragt er am Empfang nach und erfährt, dass Stillman in der Nacht abgereist ist.

Paul Auster

Nachdem er die Spur verloren hat, benötigt Quinn den Rat eines wirklichen Detektivs. Deshalb sucht er im Branchenverzeichnis nach Paul Auster, findet aber keinen entsprechenden Eintrag. Dem Telefonbuch entnimmt Quinn aber, dass es einen Paul Auster in Manhattan gibt. Den sucht er auf. Ein Mann Mitte dreißig öffnet die Tür. Es handelt sich allerdings nicht um einen Privatdetektiv, sondern um einen Schriftsteller, der sich gerade intensiv mit Don Quijote beschäftigt. (Don Quijote hat die gleichen Initialen wie Daniel Quinn.) Paul Auster findet es faszinierend, dass Miguel de Cervantes Saavedra (1547 – 1616) den Leser zu überzeugen versuchte, nicht er, sondern ein gewisser Cid Hamete Benengeli sei der Autor der angeblich wahren Geschichte.

Paul Austers Ehefrau Siri kommt mit dem Sohn Daniel (!) nach Hause und lädt den Besucher zum Abendessen ein, aber Daniel Quinn zieht es vor, sich zu verabschieden.

Tagelang ruft er vergeblich seine Auftraggeberin an. Obwohl immer nur das Besetztzeichen zu hören ist, versichert die Störungsstelle, der Anschluss sei in Ordnung. Da besinnt Daniel Quinn sich auf den eigentlichen Zweck seines Auftrags: Wichtiger als Virginia Stillman über die Observierungsergebnisse auf dem Laufenden zu halten ist es, Peter Stillman vor seinem Vater zu schützen. Quinn hebt sein ganzes Geld ab – ein paar hundert Dollar – und bleibt fast rund um die Uhr auf seinem Posten vor dem Haus, in dem Peter und Virginia Stillman wohnen, um rechtzeitig eingreifen zu können, falls der Professor auftaucht. Jede Nacht um 3.30 Uhr kauft er kurz ein, was er am nächsten Tag benötigt, und er schläft nur noch in viertelstündigen Phasen. Vor dem Regen schützt er sich in einer stinkenden Abfalltonne. Waschen und Rasieren gibt er auf.

Als er trotz seiner bescheidenen Bedürfnisse nach einigen Monaten das Geld verbraucht hat, will er kurz zu seinem Apartment, um die inzwischen vermutlich eingetroffenen Verrechnungsschecks aus seinem Briefkasten zu holen. Auf dem Weg kommt er an einer Telefonzelle vorbei und ruft Paul Auster an, der ihm bei seinem Besuch angeboten hatte, den Scheck mit dem Vorschuss für ihn einzulösen. Virgina Stillmans Scheck sei ungedeckt gewesen, erklärt der Schriftsteller und ist verwundert, dass Quinn nichts vom Tod ihres Schwiegervaters erfahren hat: Der Professor stürzte sich vor zweieinhalb Monaten von der Brooklyn Bridge.

Daniel Quinn ruft bei Peter und Virginia Stillman an, aber unter der früheren Telefonnummer gibt es keinen Anschluss mehr.

Sein Hausschlüssel passt zwar, aber seine Wohnung ist komplett neu eingerichtet und wird offenbar von einer Frau bewohnt. Als sie nach Hause kommt, erschrickt sie über den verdreckten Clochard auf dem Sofa, lässt sich dann aber davon abhalten, gleich die Polizei zu rufen. Sie zog vor einem Monat hier ein. Der Vermieter sagte ihr, dass vor ihr ein Schriftsteller in dem Apartment wohnte, der jedoch spurlos verschwand und seit Monaten keine Miete bezahlte. Daniel Quinn bleibt nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden.

Er geht zu der Wohnung der Stillmans, die er unverschlossen und leer vorfindet. Im dunkelsten Zimmer zieht er sich nackt aus, legt sich auf den Boden und schläft. Zwischendurch schreibt er in seinem roten Notizbuch.

Der letzte Satz im roten Notizbuch lautet: „Was wird geschehen, wenn in dem roten Notizbuch keine Seiten mehr sind?“ (Seite 173)

Damit bricht für den erst jetzt eingeführten Autor die entscheidende Informationsquelle ab.

Da sich diese Geschichte voll und ganz auf Tatsachen gründet, hält es der Autor für seine Pflicht, die Grenzen des Nachprüfbaren nicht zu überschreiten und den Gefahren der Erfindung um jeden Preis auszuweichen. (Seite 147)

Rasch trägt der Autor nach, wie er in den Besitz des Notizbuchs kam: Als er von einer Afrikareise nach New York zurückgekehrt war und seinen Freund Paul Auster anrief, bat dieser ihn dringend, bei ihm vorbeizukommen. Der Schriftsteller erzählte ihm von seiner Begegnung mit Daniel Quinn. Der Autor warf ihm vor, er habe sich nicht genügend um den Mann gekümmert und ging mit ihm gemeinsam zu der Wohnung, in der Peter und Virginia Stillman gelebt hatten. In einem der Zimmer fanden sie auf dem Fußboden ein rotes Notizbuch mit Daniel Quinns Aufzeichnungen. Paul Auster überließ es seinem Freund und wollte nichts mehr damit zu tun haben.

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Bei dem Roman „Stadt aus Glas“ handelt es sich um ein facettenreiches Spiel mit gleichen Personennamen, übereinstimmenden Initialen und verschachtelten Identitäten. Die Persönlichkeit des Schriftstellers Daniel Quinn, der unter dem Pseudonym William Wilson anspruchslose Kriminalromane aus der Perspektive des Privatdetektivs Max Work schreibt, droht hinter seiner Romanfigur zu verblassen. Als er sich dann selbst unter dem Namen Paul Auster als Detektiv versucht und zunächst glaubt, endlich eine lebenswichtige Aufgabe zu haben, verliert er seine Wohnung und rutscht vollends aus seinem bisherigen Leben heraus. Detektiv, Schriftsteller und Leser scheitern gleichermaßen in ihrem Bemühen, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen und einen Sinn des Lebens zu erkennen. Das klingt recht intellektuell, aber dem Roman „Stadt aus Glas“ ist die gedankliche Anstrengung nicht anzumerken: Die Lektüre ist leicht, unterhaltsam und anregend.

„Stadt aus Glas“ erschien 1985 als erster Roman Paul Austers und bildet zusammen mit „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ die „New York-Trilogie“ (1987). Jeder der drei Romane wirkt zu Beginn eher wie eine Kriminalgeschichte, bis die Protagonisten bei der Beobachtung eines anderen bzw. bei Nachforschungen über einen anderen in Identitätskrisen geraten und sich herausstellt, dass die zunächst angenommenen Zusammenhänge falsch sind.

Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Nach seinem Anglistik- und Literatur-Studium an der Columbia University in New York lebte er einige Zeit in Paris und übersetzte Werke französischer Schriftsteller ins Englische. Weltbekannt wurde er 1987 durch die „New York-Trilogie“. Seine zweite Ehefrau heißt übrigens Siri (Hustvedt) – wie die Romanfigur an der Seite des Schriftstellers Paul Auster in „Stadt aus Glas“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Hoffmann und Campe – Die Seitenangaben beziehen sich auf
die Ausgabe „Süddeutsche Zeitung: Bibliothek“ (Band 6) vom Frühjahr 2004.

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.