Peggy Knobloch und Ulvi Kulac



Peggy Knobloch aus Lichtenberg in Oberfranken wurde am Abend des 7. Mai 2001, gut vier Wochen nach ihrem 9. Geburtstag, von ihrer Mutter Susanne als vermisst gemeldet. Sie war von der Schule nicht nach Hause gekommen. Eine Sonderkommission der Polizei (SoKo „Peggy“) arbeitete 4500 Spuren ab; es wurde eine Belohnung von 55 000 D-Mark ausgesetzt, und nicht nur in Deutschland und im Nachbarland Tschechien fahndete man nach dem Mädchen, sondern auch in der Türkei, der Heimat ihres Stiefvaters. Aber die monatelange Suche war vergeblich: Peggy Knobloch blieb verschwunden.

Die Ermittlungen konzentrierten sich schließlich auf den 23-jährigen Ulvi Kulac (* 1977). Der Sohn des deutsch-türkischen Ehepaars Elsa und Erdal Kulac, das in Lichtenberg eine Gaststätte betrieb, war infolge einer Hirnhautentzündung in der Kindheit geistig behindert. Weil er sich in den letzten fünf Jahren mehrmals vor Knaben entblößt hatte, wurde er ab 6. September 2001 im Bezirkskrankenhaus Bayreuth psychiatrisch behandelt.

Die Sonderkommission, die den Fall Peggy Knobloch aufklären sollte, ließ im März 2002 Kleidung von Ulvi Kulac kriminaltechnisch untersuchen. Obwohl dabei nichts Verdächtiges festgestellt wurde, vernahm die Polizei Ulvi Kulac immer wieder – bis er im Frühsommer 2002 gestand, Peggy Knobloch ermordet zu haben. Seiner Darstellung zufolge hatte er das Kind am 3. Mai 2001 missbraucht. Um sich dafür zu entschuldigen, passte er Peggy vier Tage später ab, aber sie lief weg. Nachdem er sie eingeholt hatte, stürzte sie zu Boden, und weil sie schrie, presste er ihr Mund und Nase zu, bis sie nicht mehr atmete. Sein Vater, so Ulvi Kulac weiter, habe ihm geholfen, die Leiche zu beseitigen.

Aufgrund des Geständnisses wurde er am 22. Oktober 2002 der Öffentlichkeit als mutmaßlicher Mörder des Mädchens präsentiert, und die Staatsanwaltschaft erhob am 28. Februar 2003 Anklage gegen ihn. Ulvi Kulac wurde beschuldigt, Peggy Knobloch ermordet zu haben, um eine Sexualstraftat zu vertuschen.

Der Prozess gegen Ulvi Kulac begann am 30. September 2003 vor dem Landgericht Hof. Der Beschuldigte widerrief sein Geständnis. Aber der renommierte forensische Psychiater Hans Ludwig Kröber hielt den Inhalt des

Geständnisses für wahr und begründete seine Ansicht damit, dass Ulvi Kulac intellektuell nicht in der Lage gewesen wäre, sich eine so komplexe Geschichte auszudenken. Außerdem sagte Peter H., ein zu einer Freiheitsstrafe verurteilter Zeuge, Ulvi Kulac habe ihm im Bezirkskrankenhaus Bayreuth die Tat gestanden. Obwohl es ansonsten keine Indizien für die Täterschaft des Beschuldigten gab, hielt ihn Richter Georg Hornig für schuldig und verurteilte ihn am 30. April 2004 wegen Mordes zu lebenslanger Haft und ordnete zugleich seine erneute Unterbringung im Bezirkskrankenhaus Bayreuth an.

Der Bundesgerichtshof verwarf am 25. Januar 2005 die vom Verteidiger Wolfgang Schwemmer beantragte Revision. Damit wurde das Urteil vom 28. April 2004 rechtskräftig.

Eine Reihe von Personen, die es für ein Fehlurteil halten, hatten bereits am 30. September 2004 in Lichtenberg die Bürgerinitiative „Gerechtigkeit für Ulvi“ gegründet. Die Mitglieder vermuten, dass Ulvi Kulac durch Manipulationen dazu gebracht wurde, ein falsches Geständnis abzulegen, und sie weisen darauf hin, dass er weder bei den Vernehmungen noch bei der Rekonstruktion der entscheidenden Vorgänge am Tatort einen Rechtsbeistand hatte. Die Bürgerinitiative geht davon aus, dass Peggy Knobloch auch nach der angenommenen Tatzeit noch gesehen wurde. Die Ermittler hätten beispielsweise eine Zeugin ignoriert, heißt es, die das Mädchen am 12. Mai 2001, also fünf Tage nach der angeblichen Ermordung, in München erkannt haben wollte.

Der Hauptbelastungszeuge Peter H. widerrief am 27. Oktober 2010 bei einer richterlichen Vernehmung vor dem Amtsgericht Bayreuth seine Aussage.

Der Frankfurter Rechtsanwalt Michael Euler reichte am 4. April 2013 beim Landgericht Bayreuth einen 1200 Seiten langen Antrag auf die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi Kulac ein. Damit hatte er Erfolg, und am 14. Mai 2014 sprach das Landgericht Bayreuth Ulvi Kulac frei. Aber er kam erst am 31. Juli 2015 frei.

Friedrich Ani griff den Fall in seinem Roman „Totsein verjährt nicht“ auf (Zsolnay Verlag, Wien 2009, 284 Seiten, ISBN 978-3-552-05470-7): Von der achtjährigen Scarlett Peters fehlt jede Spur. Unter fragwürdigen Umständen wird Joachim („Jockel“) Krumbholz, ein geistig behinderter 24-Jähriger, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Kommissar Polonius Fischer, der ursprünglich die Ermittlungen geleitet hatte, dem der Fall jedoch entzogen worden war, hält dies für ein Fehlurteil. Sechs Jahre nach Scarletts Verschwinden meldet sich ihr damaliger Mitschüler Marcel bei ihm und behauptet, sie kürzlich gesehen zu haben. Für das Buch erhielt Friedrich Ani den Deutschen Krimipreis 2010.

Friedrich Ani und seine Lebensgefährtin Ina Jung schrieben dann auch das Drehbuch für den von Dominik Graf inszenierten Fernsehfilm „Das unsichtbare Mädchen“.

Am 2. Juli 2016 entdeckte ein Pilzesammler in einem Waldstück zwischen Rodacherbrunn in Thüringen und Nordhalben in Oberfranken Knochen eines Kindes. Weil Peggy Knoblochs früheres Elternhaus in Lichtenberg nur 15 Kilometer von der Fundstelle entfernt steht, kam sogleich der Verdacht auf, dass es sich um Skelettteile des seit 15 Jahren vermissten Mädchens handeln könnte. Das wurde dann auch auf einer Pressekonferenz am 4. Juli vom Polizeipräsidium Oberfranken bestätigt. Eine völlig neue Wende nahm der Mordfall Peggy Knobloch, als die Polizei im Oktober 2016 auf einem winzigen Stofffetzen vom Fundort der Skelettteile DNA von Uwe Böhnhardt (1977 – 2011) fand und deshalb ein überraschender Zusammenhang mit den NSU-Verbrechen möglich erschien. Später stellte sich heraus, dass eine Probe verunreinigt war.

© Dieter Wunderlich 2012/2013 / 2016

Dominik Graf: Das unsichtbare Mädchen

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Der Roman "Sonnenfinsternis" wird vom Protagonisten in der Ich-Form erzählt. Es handelt sich um einen inneren Monolog über Erinnerungen, Assoziationen und aktuelle Erlebnisse. John Banville ist es gelungen, mit seiner virtuosen Sprache eine dichte Atmosphäre zu erzeugen.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.