Italo Svevo : Zenos Gewissen

Zenos Gewissen
Originalausgabe: La coscienza di Zeno, Bologna 1923 Deutschsprachige Erstausgabe: Zeno Cosini, 1928 Aktuelle deutsche Ausgabe: Zenos Gewissen Neuübersetzung: Barbara Kleiner Zweitausendeins, Frankfurt/M 2000 ISBN 386150345X, 624 Seiten Übersetzung: Barbara Kleiner Essay: Wilhelm Genazino Diogenes Verlag, Zürich 2010 ISBN 978-3-257-24043-6, 621 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zeno Cosini ist nicht nur ein Hypochonder, sondern auch ein schrulliger Müßiggänger und ewiger Zauderer, der lieber grübelt als handelt und dabei an seinen Selbsttäuschungen und Rechtfertigungen festzuhalten versucht. Von seinem schlechten Gewissen geplagt, fasst er immer wieder gute Vorsätze – die er dann nicht hält.
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Kritik

Das Besondere an dem recht weitschweifigen Roman "Zenos Gewissen" ist die feine Ironie, durch die Zenos auf Geheiß seines Psychoanalytikers verfasste Lebensbeichte zur Travestie einer Nabelschau wird.
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Der Psychoanalytiker Dr. S. hat Zeno Cosini, einem seiner Patienten, geraten, gewissermaßen als Vorspiel zur Psychotherapie eine Autobiografie zu verfassen. Weil Zeno während des Schreibens zu der Überzeugung gelangt, von seinen Neurosen geheilt zu sein, bricht er die Behandlung vorzeitig ab. Um sich an ihm zu rächen, veröffentlicht Dr. S. die Aufzeichnungen seines Patienten.

Wenn er wüsste, wieviele Überraschungen eine Erläuterung der vielen Wahrheiten und Lügen, die er hier angehäuft hat, für ihn bereithielte … (Seite 8)

In seiner Vorrede berichtet der siebenundfünfzigjährige Patient von dem Vorschlag seines Psychoanalytikers, sich an vergangene Erlebnisse zu erinnern und diese zu Papier zu bringen.

Nach dem Essen liege ich bequem ausgestreckt in einem Clubsessel und halte Bleistift und ein Stück Papier in der Hand. Meine Stirn ist faltenlos, denn ich habe jede Anstrengung aus meinem Geist getilgt. […]
Gestern hatte ich versucht, mich vollkommen zu entspannen. Das Experiment endete im tiefsten Schlaf und brachte kein anderes Ergebnis als eine große Erquickung und das seltsame Gefühl, in diesem Schlaf etwas Wichtiges gesehen zu haben. Aber es war vergessen, für immer verloren. (Seite 9f)

Zeno strukturiert seine Lebensbeichte in sechs Kapitel: (1) Das Rauchen, (2) Der Tod meines Vaters, (3) Die Geschichte meiner Heirat, (4) Die Ehefrau und die Geliebte, (5) Die Geschichte einer Geschäftsverbindung, (6) Psychoanalyse.

Im ersten Teil erinnert er sich daran, bereits als Jugendlicher geraucht zu haben.

Mein Vater ließ im ganzen Haus halb gerauchte Virginia-Zigarren auf der Kante von Tischen oder Schränken liegen. Ich glaubte, das sei seine Art, sie wegzuwerfen, und glaubte auch zu wissen, dass unsere alte Dienstmagd, Catina, sie wegwarf. Ich ging sie heimlich rauchen. Schon wenn ich sie an mich nahm, durchlief mich ein Schauder des Widerwillens, denn ich wusste, wie übel mir davon werden würde. Dann rauchte ich sie, bis meine Stirn von kaltem Schweiß bedeckt war und mein Magen sich zusammenkrampfte. Man wird kaum behaupten können, es hätte mir in meiner Kindheit an Tatkraft gefehlt. (Seite 14)

Immer wieder hat er sich vorgenommen, das Rauchen aufzugeben und sich dafür besondere Anlässe ausgesucht. Doch in keinem Fall hatte er Erfolg.

Seine Mutter starb, als er noch keine fünfzehn war, und seinen an einem Gehirnödem leidenden Vater verlor er mit zweiunddreißig.

Der Tod meines Vaters […] war eine wirklich große Katastrophe. Das Paradies existierte nicht mehr, ich aber war mit dreißig ein erledigter Mensch. Auch ich! Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass der wichtigste und entscheidenste Teil meines Lebens unwiderruflich hinter mir lag. (Seite 45)

Etwa zur gleichen Zeit befreundete er sich mit dem Geschäftsmann Giovanni Malfenti und begann, ihn und seine Familie täglich zu besuchen. Malfenti hatte vier Töchter: Ada, Augusta, Alberta und Anna. Anna war noch ein Kind, Augusta in Zenos Augen zu hässlich, doch in die schöne Ada verliebte er sich auf der Stelle, und um in Adas Nähe sein zu können, musizierte er sogar mit Augusta.

Mein Leben vermochte nur einen einzigen Ton ohne jede Modulation hervorzubringen […]
Daher kann es sein, dass mir die Idee zum Heiraten aus Überdruss daran gekommen ist, nur diesen einzigen Ton von mir zu geben und zu vernehmen. Wer sie noch nicht ausprobiert hat, hält die Ehe für wichtiger als sie ist. Die Gefährtin, die man sich aussucht, wird die eigene Rasse in den Kindern zum Besseren oder zum Schlechteren hin erneuern, aber Mutter Natur, die das erreichen will und uns auf direktem Wege nun einmal nicht lenken kann, da wir zu diesem Zeitpunkt an Kinder überhaupt nicht denken, nährt in uns den Glauben, von der Ehefrau würde auch so etwas wie unsere eigene Erneuerung ausgehen, was eine sonderbare, von keiner Lehrmeinung gestützte Täuschung ist. Tatsächlich lebt man dann nebeneinander her, unverändert, außer einer neuen Abneigung gegen den, der so ganz anders ist als wir, oder Neid auf den, der uns überlegen ist. (Seite 85f)

Erst nach Monaten wagte er es, Ada nach dem Kirchgang abzupassen und sie nach Hause zu begleiten. Da gesellte sich ein junger Mann namens Guido Speier hinzu, bei dem es sich offensichtlich um Adas Auserwählten handelte. Bei der nächsten Gelegenheit gestand Zeno seiner Angebeteten, dass er sie liebe und wollte sie gegen Guido einnehmen. Sie wies ihn ab. Daraufhin machte er Alberta einen Antrag, aber die wollte sich der Schriftstellerei widmen und überhaupt nicht heiraten. In seiner Verzweiflung fragte Zeno nun Augusta, ob sie seine Frau werden wolle, und sie antwortete:

„Sie, Zeno, brauchen eine Frau, die bereit ist, für Sie zu leben, und die Ihnen beisteht. Ich will diese Frau sein.“ (Seite 187)

1891 heirateten die beiden.

Während der Hochzeitsreise nach Italien bemerkte Zeno erstaunt, dass er Augusta inzwischen liebte, und in seiner anschließend von ihr neu eingerichteten Villa fühlte er sich behaglich. Einen Ehering trug er allerdings nicht, weil er befürchtete, das Schmuckstück könne seine Durchblutung stören.

Einige Zeit später bat ihn sein Freund Enrico Copler um Geld für ein Klavier, das er der angehenden Sängerin Carla Gerco schenken wollte, die noch bei ihrer Mutter wohnte. Zeno lernte die junge Frau kennen und begriff, dass ein einziger Besuch bei ihr genügen würde, um ihn zu kompromittieren.

Ich konnte den Frieden in meiner jungen Familie nicht aufs Spiel setzen; besser gesagt: Ich setzte ihn nicht aufs Spiel, solange mein Begehren für Carla nicht größer wurde.
Es wurde aber ständig größer. (Seite 247)

Um einen Vorwand für einen Besuch bei Carla zu haben, kaufte er einen Traktat über die Gesangskunst, den er mit ihr gemeinsam studieren wollte.

Zwischen Augusta und mir stand mein Abenteuer wie ein großer düstrer Schatten, und es schien mir unmöglich, dass er nicht auch von ihr gesehen würde. Ich fühlte mich klein, schuldig und krank und fühlte meinen Schmerz an der Hüfte wie einen sympathischen Schmerz, der von der großen Wunde meines Bewusstseins ausstrahlte. (Seite 261)

Zenos Gewissen, das sich ohnehin meldete, weil er seine Vorsätze, das Rauchen aufzugeben, immer wieder gebrochen hatte, machte ihm nun auch wegen des beabsichtigten Ehebruchs zu schaffen. Sogleich nahm er sich vor, Carla nicht wiederzusehen. Aber daran hielt er sich auch nicht: Carla wurde seine Geliebte.

Inzwischen hatten Guido und Ada geheiratet. Kurz nach der Hochzeit verschlechterte sich Giovanni Malfentis Gesundheitszustand. Als Zeno mehr oder weniger unbeabsichtigt erzählte, seine Frau werde am Krankenbett ihres Vaters wachen, brachte Carla ihn dazu, die Nacht mit ihr zu verbringen.

Als Carlas neuer Gesangslehrer, Vittorio Lali, seiner Schülerin einen Heiratsantrag machte, nahm Zeno dies zum Anlass für einen weiteren guten Vorsatz:

Morgen werde ich sie bitten, den Antrag des Lehrers anzunehmen, aber heute hindere ich sie daran. (Seite 336)

Bei Frühlingsbeginn ließ er sich überreden, mit Carla im Volksgarten spazieren zu gehen. Dabei begegneten sie Tullio, einem früheren Schulfreund, der auch mit den Malfentis befreundet war. Zeno gab Carla zwar als Freundin seiner Frau aus, doch Tullio durchschaute die Lüge.

Als Carla darum bat, Zenos Ehefrau einmal sehen zu dürfen, nannte er ihr eine Uhrzeit, zu der Ada (!) gewöhnlich aus dem Haus kam.

Selbst heute weiß ich noch nicht genau, weshalb ich Carla Ada als meine Frau präsentiert habe. Sicher ist, dass ich nach dem Heiratsantrag des Gesangslehrers das Bedürfnis verspürte, meine Geliebte enger an mich zu binden, und es kann sein, dass ich gemeint hatte, je schöner sie meine Frau fand, umso mehr würde sie den Mann schätzen, der ihr eine solche Frau (sozusagen) zum Opfer brachte. (Seite 343)

Die Begegnung nahm eine unerwartete Wendung: Carla fand Ada so schön und sympathisch, dass sie die Frau nicht länger mit Zeno betrügen wollte und den Heiratsantrag ihres Gesangslehrers annahm.

Giovanni Malfenti war inzwischen gestorben. Ada kam mit Zwillingen nieder – kurz nachdem sie Guido beim Küssen eines Dienstmädchens ertappt hatte.

Während das Unternehmen, das Zeno von seinem Vater geerbt hatte, erfolgreich von einem Verwalter geführt wurde, beriet Zeno zwei Jahre lang Guido bei seinen Handelsgeschäften. Dabei konnte er nicht übersehen, dass Guido seine Frau mit seiner Sekretärin Carmen betrog. Das Handelshaus verlor durch fehlgeschlagene Spekulationen die Hälfte des Kapitals. Vergeblich bat Guido seine Frau, wenigstens die Hälfte des Verlustes mit ihrem Geld aufzufangen. Erst als er einen Selbstmordversuch unternahm, gewährte sie ihm das Darlehen. (Um sicherzustellen, dass man ihn retten würde, hatte Guido darauf geachtet, dass Ada ihn mit dem geöffneten Morphiumfläschchen sah, bevor er das Gift schluckte und benommen wurde.)

Um auch noch die restlichen Verluste auszugleichen, spekulierte Guido heimlich an der Börse, zuerst erfolgreich, aber dann verlor er alles. Da fragte er Zeno eines Tages, was wirksamer sei, Veronal oder mit Natrium angereichertes Veronal, und Zeno belehrte ihn aufgrund seiner Chemiekenntnisse, ein Selbstmörder, der es ernst meine, solle besser mit Natrium angereichertes Veronal schlucken. Als Guido seiner Frau gestand, eine Überdosis Veronal geschluckt zu haben, glaubte sie, er versuche auf diese Weise erneut, an ihr Geld zu kommen. Erst als es wirklich ernst aussah, schickte sie nach einem Arzt, aber der hatte keine Instrumente für das Auspumpen eines Magens dabei, und es dauerte Stunden, bis ein anderer Arzt erschien. Der konnte nur noch den Tod des Selbstmörders feststellen. Aufgrund der Wahl reinen Veronals wusste Zeno, dass Guido sich nicht wirklich hatte umbringen wollen.

Im letzten Kapitel seiner Aufzeichnungen macht Zeno sich am 15. Mai 1915, 26. Juni 1915 und 24. März 1916 über seinen Psychotherapeuten lustig.

„Ich war geheilt und wollte es nicht wahrhaben! Das hieß doch wirklich blind sein: Ich hatte erfahren, dass ich gewünscht hatte, meinem Vater die Frau – meine Mutter! – wegzunehmen, und ich fühlte mich nicht geheilt? Ein unerhörter Starrsinn meinerseits […] (Seite 552)

Dr. S. behauptete, Zeno habe Giovanni Malfenti an die Stelle seines Vaters gesetzt und hätte aus verdrängtem Hass jede von dessen Töchtern geheiratet.

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Zeno Cosini ist nicht nur ein Hypochonder, sondern auch ein schrulliger Müßiggänger und ewiger Zauderer, der lieber grübelt als handelt und sich dabei an seinen Selbsttäuschungen und Rechtfertigungen festklammert. Von seinem schlechten Gewissen geplagt, weil er eigentlich das Rauchen längst aufgeben wollte, seine Frau nur aus Verzweiflung über die Ablehnung durch deren zwei hübschere Schwestern geheiratet hatte und sie mit einer jungen Sängerin betrog, fasst er immer wieder gute Vorsätze – die er dann nicht hält. Dabei will er niemand enttäuschen. Sein Motto lautet: „Das Leben ist weder hässlich noch schön, es ist originell.“

Das Besondere an dem recht weitschweifigen Roman „Zenos Gewissen“ von Italo Svevo ist die feine Ironie, durch die Zenos auf Geheiß seines Psychoanalytikers verfasste Lebensbeichte zur Travestie einer Nabelschau wird.

„La coscienza di Zeno“: Die Doppeldeutigkeit des italienischen Originaltitels lässt sich in der deutschen Übersetzung nicht wiedergeben. „Coscienza“ bedeutet Gewissen, aber auch Bewusstsein, Erkenntnis und Bekenntnis.

Italo Svevo: Zenos Gewissen – Bearbeitung und Regie: Norbert Schaeffer – Sprecher: Gerd Baltus, Hermann Lause, Manfred Steffen u. a. – ca. 150 Minuten – Hamburg 2003 (Hörbuch)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Zweitausendeins

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