Gegen die Wand

Gegen die Wand

Gegen die Wand

Originaltitel: Gegen die Wand - Regie: Fatih Akin - Drehbuch: Fatih Akin - Kamera: Rainer Klausmann - Schnitt: Andrew Bird - Musikberatung: Klaus Maeck - Darsteller: Birol Ünel, Sibel Kekilli, Catrin Striebeck, Güven Kiraç, Meltem Cumbul, Hermann Lause, Cem Akin, Demir Gökgöl, Aysel Iscan, Mehmet Kurtulus, Adam Bousdoukos u.a. - 2004; 120 Minuten

Inhaltsangabe

"Gegen die Wand" handelt vom Hunger nach Leben, Freiheit und Selbstbestimmung. Es ist die Liebesgeschichte von zwei türkischstämmigen Deutschen, einem vierzigjährigen Penner, der nichts mehr vom Leben erwartet und einer Zwanzigjährigen, die sich von den Zwängen ihrer konservativen Familie befreien will.

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Kritik

Gegen jede Regel schlägt Fatih Akin zu Beginn seiner am türkischen Neo-Realismus orientierten Tragikomödie ein Mordstempo ein und lässt den Film dann leise ausklingen. Überraschende Wendungen und urplötzliche Gewaltausbrüche geben dem Film eine besondere Dynamik.
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Cahit Tomruk (Birol Ünel), ein vierzigjähriger, in Deutschland geborener Türke, lebt in einer mit schmutzigem Geschirr und leeren Bierdosen vollgestopften Wohnung in Hamburg und verdient sich ein paar Euro, indem er in einer deutsch-türkischen Kneipe die leeren Bierflaschen einsammelt. Vergeblich versucht er, über die Trennung von einer Frau namens Katharina hinwegzukommen. Einsam Bier trinkend taumelt er durch die Lokale. Dann setzt er sich in sein Auto und fährt los. Ohne zu bremsen kracht er frontal gegen eine Betonwand („Gegen die Wand“).

In der psychiatrischen Abteilung eines Hamburger Krankenhauses kommt er wieder zu sich. Hinkend und mit einer Halskrause begegnet er dort der zweiundzwanzigjährigen Deutschtürkin Sibel Güner (Sibel Kekilli), die sich die Pulsadern aufschnitt, weil sie es in ihrer konservativen Familie nicht mehr aushielt. Nach dem gescheiterten Selbstmordversuch drängt sie Cahit zu einer Scheinheirat, damit sie nicht mehr bei ihrem Vater Yunus (Demir Gökgöl), ihrer Mutter Birsen (Aysel Iscan) und ihrem Bruder Yilmaz (Cem Akin) wohnen muss, denen die Familienehre wichtiger als alles andere ist. „Ich will leben“, erklärt sie Cahit, „ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen!“

Cahit hat keine Lust, sich auf Komplikationen einzulassen und lehnt lakonisch ab. Da zerschlägt Sibel eine Flasche und schneidet sich blitzartig die Pulsadern auf, diesmal nicht quer übers Handgelenk, sondern entlang der Schlagader. Entsetzt wickelt Cahit ihr einen Lappen um den Unterarm. Während die Wunde genäht wird, begreift er die Verzweiflung Sibels. Deshalb überredet er seinen Freund Seref (Güven Kiraç), sich als sein Onkel auszugeben und bei Yunus Güner für ihn um die Hand Sibels anzuhalten, wie es der türkischen Tradition entspricht. Cahit geht zum Friseur, lässt sich rasieren und findet auch noch irgendwo einen dunklen Anzug. Dann sitzt er neben seinem „Onkel“ auf dem Sofa in der Wohnung der Familie Güner und lügt, er sei Geschäftsführer einer Gaststätte in Hamburg. Sibels Bruder Yilmaz wundert sich über das schlechte Türkisch der beiden Besucher und achtet misstrauisch auf widersprüchliche Äußerungen, aber sein Vater nimmt die Brautwerbung schließlich an. Bald darauf wird Hochzeit gefeiert.

Sibel wohnt bei Cahit, doch ansonsten gehen die beiden getrennte Wege. Als Friseuse verdient sich Sibel bei Maren (Catrin Striebeck) etwas Geld, und sie genießt ihre neue Freiheit in vollen Zügen. Als sie Cahit zufällig in einer Diskothek begegnet, gerät er mit ihrem Tanzpartner in Streit und wird daraufhin von dem Mann und seinen Kumpanen zusammengeschlagen. Während Sibel ihrem Ehemann auf der Straße das Blut abtupft, keimen Gefühle zwischen ihnen auf. Aus der Scheinehe könnte doch noch eine Liebesbeziehung werden. Doch es kommt anders: Nico (Stefan Gebelhoff), ein von Sibel wegen ihrer Liebe zu Cahit zurückgewiesener früherer Liebhaber, äußert sich in einer Kneipe, in der Cahit an der Bar sitzt, so lange beleidigend über Sibel, bis dieser seine Beherrschung verliert und zuschlägt. Ein einziger Hieb genügt, um den Herausforderer zu töten.

Cahit wird zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Als Familie Güner aus der Zeitung von dem Totschlag und dadurch von der vermeintlichen Untreue Sibels erfährt, erklärt Yunus Güner, keine Tochter mehr zu haben. Vor der Rache ihres Bruders Yilmaz flieht Sibel zu ihrer Freundin Selma (Meltem Cumbul) nach Istanbul. Selma ist die Managerin eines teuren Hotels und denkt an nichts anderes mehr, als möglichst effizient zu handeln. Wenn sie nicht gerade Anweisungen im Hotel gibt, findet man sie beim Training im Fitnessraum. Sibel lehnt diese Lebenseinstellung ab und zieht bei der ersten Gelegenheit zu einem neuen Bekannten, der ihr auch Opium verschafft.

Eines Nachts läuft sie verzweifelt durch die Straßen von Istanbul. Drei Männer, denen sie begegnet, provoziert sie in selbstzerstörerischer Absicht so lange, bis sie von ihnen zusammengeschlagen wird. Als sie von ihr ablassen, schreit sie ihnen weitere Beleidigungen nach. Schließlich wird einer der Männer so wütend, dass er ihr ein Messer in den Bauch rammt. Blutüberströmt bleibt Sibel liegen. Ein Taxifahrer findet sie.

Als Cahit aus der Haft entlassen wird, ist er ein anderer Mensch: Er lässt sich nicht mehr treiben, sondern er hat ein Ziel. Er will nach Istanbul und Sibel suchen, die ihm bei einem Besuch im Gefängnis weinend versprach, sie werde auf ihn warten. Seref erinnert seinen Freund daran, wieviel Unglück diese Frau schon über ihn gebracht habe, aber er kann ihn nicht von seinem Vorhaben abbringen. „Ohne sie hätte ich es nicht geschafft“, murmelt Cahit. Und auf die verständnislose Frage Serefs fügt er hinzu: „Am Leben zu bleiben.“ Da schiebt ihm Seref resigniert ein Bündel ersparter Geldscheine zur Finanzierung der Reise über den Tisch.

In Istanbul wendet Cahit sich an Selma, die er bei der Hochzeit kennen gelernt hatte. Sie verrät ihm nicht, wo er Sibel finden könnte, denn ihre Freundin lebt mit ihrem zweiten Ehemann und ihrer Tochter in einer luxuriösen Wohnung in Istanbul. Stur bleibt Cahit in Istanbul, bis Sibel sich eines Tages bei ihm meldet, während einer Dienstreise ihres Mannes zu ihm ins Hotel kommt und sich nach einer leidenschaftlichen Nacht mit ihm am Busbahnhof verabredet. Sie will ihren Mann verlassen und mit Cahit in dessen Geburtsort Mersin ein neues Leben beginnen.

Zur vereinbarten Zeit wartet Cahit vergeblich auf Sibel und steigt dann traurig in den Bus nach Mersin.

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„Gegen die Wand“ handelt vom Hunger nach Leben, Freiheit und Selbstbestimmung. Es ist die Liebesgeschichte von zwei türkischstämmigen Deutschen, einem vierzigjährigen Penner, der nichts mehr vom Leben erwartet und einer Zwanzigjährigen, die sich von den Zwängen ihrer konservativen Familie befreien will: „Ich will leben, ich will tanzen, ich will ficken. Und nicht nur mit einem Typen!“ Das Aufeinanderprallen der beiden führt zur Katharsis: Cahit nimmt sein Leben wieder in die Hand, und Sibel besinnt sich ganz am Ende auf ihre Verantwortung gegenüber ihrem Ehemann und ihrer Tochter in Istanbul.

Ein durch Liebe geläuterter Penner und eine in Deutschland geborene Türkin, die sich nicht mehr von den traditionellen Ehrbegriffen ihres Vaters und ihres Bruders einschränken lassen will – das klingt zunächst nach einer stereotypen Konstellation. Tatsächlich sind die beiden Figuren jedoch so vielschichtig und facettenreich, stark und doch verletzlich, dass sie wie Menschen aus Fleisch und Blut wirken. Dafür sorgen auch die beiden Hauptdarsteller: Birol Ünel ist ein darstellerisches Urgestein, wuchtig und sensibel zugleich. Neben ihm erweist sich auch Sibel Kekilli, die in einer Kölner Einkaufspassage „entdeckt“ wurde und zuvor nur in Pornofilmen mitgewirkt hatte, als überzeugende Besetzung.

Fatih Akin beginnt seine am türkischen Neo-Realismus orientierte Tragikomödie mit zwei Selbstmordversuchen. Gegen jede dramaturgische Regel schlägt er anfangs ein Wahnsinnstempo ein und lässt den Film dann leise ausklingen. Überraschende Wendungen und Gewaltausbrüche, die zwar nicht unerwartet, aber urplötzlich erfolgen, geben dem Film eine besondere Dynamik. Selbst die weniger plausiblen Szenen in „Gegen die Wand“ scheinen einer inneren Logik zu folgen. Nach dem Vorbild griechischer Tragödien unterteilt Fatih Akin seinen Film in mehrere Akte, die von einer am Bosporus vor der Kulisse Istanbuls spielenden Roma-Band mit Volksliedern kommentiert werden.

Für „Gegen die Wand“ wurde Fatih Akin auf der Berlinale 2004 mit einem „Goldenen Bären“ ausgezeichnet.

Die Musik stammt von Lisa Carbon („Bossandfunk“), Marc Chung und Frank Ziegert („Beim ersten Mal“), Andrew Eldritch („Temple of Love“), Martin Gore („I Feel You“), Tim Friese-Greene und Mark Hollis („Live’s What You Make It“), Mona Mur („Snake“, „My Man Don’t Love Me“, „Into Your Eyes“), Alexander Hacke, Alex Menck, Maceo Parker, Daniel Puente Encina und Selim Sesler.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004

Fatih Akin: Kurz und schmerzlos
Fatih Akin: Im Juli
Fatih Akin: Solino
Fatih Akin: Crossing the Bridge. The Sound of Istanbul
Fatih Akin: Auf der anderen Seite
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Fatih Akin: Tschick

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