Glück

Glück

Glück

Originaltitel: Glück – Regie: Doris Dörrie – Drehbuch: Doris Dörrie nach der Kurzgeschichte "Glück" von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Frank J. Müller, Inez Regnier – Musik: Volker Bertelmann alias Hauschka – Darsteller: Alba Rohrwacher, Vinzenz Kiefer, Matthias Brandt, Maren Kroymann, Petra Kleinert, Christina Große, Oliver Nägele, Margarita Broich, Andrea Sawatzki u.a. – 2012; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Nachdem Soldaten Irinas Eltern ermordeten und die junge Frau vergewaltigten, schlägt sie sich illegal nach Berlin durch und verdient dort ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Irina freundet sich mit dem obdachlosen Punk Kalle an, nimmt ihn in der neu gemieteten Wohnung auf und überredet ihn, sich Arbeit zu suchen. Dabei weist sie ihn darauf hin, dass sie einem "Scheißjob" nachgehe und die Freier am liebsten umbringen würde. Als Kalle dann einen toten Politiker in ihrer Wohnung entdeckt, nimmt er an, sie habe ihn ermordet ...
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Kritik

Doris Dörrie bläht Ferdinand von Schirachs lakonische Kurzgeschichte "Glück" zu einem trivialen Drama über zwei Außenseiter auf. Sehens­wert ist die Literaturverfilmung v. a. wegen Alba Rohrwacher, die ihre Rolle ebenso nuancenreich wie eindrucksvoll spielt.
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Irina (Alba Rohrwacher) wächst auf dem Balkan auf. Ihre Eltern (Zorica Stanarevic, Petar Trajceski) züchten Schafe. Eines Tages, als sie nach Hause kommt, liegen Vater und Mutter mit durchschnittenen Kehlen am Boden. Vier Soldaten vergewaltigen Irina. Als die Männer fort sind, versucht sie sich in einem nahen See zu ertränken, aber es gelingt ihr nicht.

Sie schlägt sich illegal nach Berlin durch und verdient dort ihren Lebensunterhalt als Prostituierte. Als im Fernsehen einmal ein Bericht über Kriegsgräuel in ihrer Heimat läuft, erleidet sie eine Panikattacke und sticht sich Nadeln in den Oberschenkel, um sich zu beruhigen.

In der Straße, in der sie auf Freier wartet, sieht sie des Öfteren einen jungen Obdachlosen (Vinzenz Kiefer) mit seinem Hund. Durch das Tier kommen sie in Kontakt, und am nächsten Abend schenkt Irina dem Punk eine eigens für ihn gekaufte Decke. Schließlich schmuggelt sie Kalle – so heißt er – mit in ihr Hotelzimmer, lässt ihn duschen und übernachten.

Als Kalle auf der Straße bettelt, gerät er mit einer Passantin (Margarita Broich) in Streit. Sie bespuckt ihn. Um seinen Zorn abzureagieren, fischt Kalle ein Papierknäuel aus einem Abfallkorb, zündet es an und wirft es in ein geparktes Cabriolet, dessen Fahrerin sofort gerannt kommt und die Flammen auf dem Ledersitz ausklopft.

Kurz darauf rennt Kalles Hund über eine Straße und wird von einem Auto totgefahren. Irina kauft einen Spaten und hilft Kalle, das Tier im Wald zu beerdigen.

Sie mietet eine Wohnung und nimmt Kalle dort mit auf.

Als es erstmals zu Sex zwischen ihnen kommt und Kalle sich auf sie legt, gerät sie in eine Panikattacke. Ihre Befürchtung, dass Kalle sie deshalb verlassen werde, ist grundlos: Er bleibt bei ihr, und beim nächsten Versuch im Bett liegt er auf dem Rücken.

Um etwas zum gemeinsamen Lebensunterhalt beisteuern zu können, nimmt Kalle einen Job als Austräger eines Anzeigenblattes an. Aber noch vor dem Ende der Tour wirft er die restlichen Zeitungsballen weg. Irina stellt ihn deshalb zur Rede und weist ihn darauf hin, dass sie ebenfalls einem „Scheißjob“ nachgehe und die Freier am liebsten umbringen würde.

Damit sie am Vorabend von Kalles Geburtstag etwas anderes als Honigbrote essen können, kauft Irina Zutaten für ein Fleischgericht ein und besorgt auch ein elektrisches Messer zum Zerkleinern des Hähnchens. Aber Kalle ist Vegetarier; er ekelt sich vor Fleisch und Blut. Deshalb wirft Irina das Hähnchen aus dem Fenster, und es wird auf der Straße von Autoreifen zermalmt. Nachts backt Irina einen Geburtstagskuchen für Kalle.

Bevor die Freier zu ihr kommen, verlässt Kalle jeweils die Wohnung. So auch an diesem Tag.


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Als er zurückkommt, ist Irina fort, aber ein Freier (Oliver Nägele) liegt tot neben dem Bett. Weil ein Kissen auf seinem Kopf liegt, sieht es so aus, als habe Irina ihn erstickt. Kalle kauft Müllsäcke, schleift die Leiche ins Bad und zerstückelt sie mit dem Elektromesser. Dann schleppt er die verpackten Teile über die Treppe hinunter und fährt sie mit dem Fahrradtransporter, mit dem er sonst Zeitungen ausfährt, in den Wald. Der Spaten liegt noch neben dem Grab des Hundes. Kalle hebt es erneut aus und vergräbt die Leichenteile.

Er ahnt nicht, dass der fette Politiker, dem schon das Treppensteigen zu schaffen gemacht hatte, während der Kopulation an Herzversagen starb und Irina das Kissen nur auf das Gesicht des Toten legte, um es abzudecken. Sie lief dann ins Freie und hielt sich an einem Kinderspielplatz auf, bis sie sich beruhigt hatte. Als sie nach Hause kommt, findet sie das Bad blutbesudelt vor.

Bevor sie begreift, was geschehen ist, wird sie festgenommen, denn das Kind einer Nachbarin hat Bluttropfen im Treppenhaus bis zu Irinas Wohnungstüre verfolgt und der Mutter davon berichtet, die daraufhin die Polizei alarmierte. Kalle sieht gerade noch, wie Irina in einen Streifenwagen geschoben wird. Obwohl sie ihm mit einer Geste bedeutet, dass er wegbleiben soll, rennt er hin – und wird ebenfalls verhaftet.

Im Gefängnis erinnert Irina sich an den Strafverteidiger Noah Leyden (Matthias Brandt), dem sie einige Wochen zuvor vors Auto gelaufen war. Um nicht abgeschoben zu werden, hielt Irina ihn nach dem Unfall davon ab, die Polizei zu rufen, aber er gab ihr seine Geschäftskarte mit. Nun bittet sie ihn um juristischen Beistand.

Erst von Noah Leyden erfährt Kalle, dass der Mann, dessen Leiche er zerstückelte, eines natürlichen Todes gestorben war.

Nachdem Kalle die Polizei zu dem Grab geführt hat, werden die Leichenteile gerichtsmedizinisch untersucht. Dabei bestätigt sich Irinas Aussage, dass der Mann einem Herzanfall erlegen sei.

Noah Leyden überredet daraufhin die Staatsanwältin (Maren Kroymann), nicht auf einer Verurteilung des Angeklagten wegen Leichenschändung zu bestehen. Die beiden jungen Menschen werden freigesprochen.

Irina müsste allerdings mit ihrer Abschiebung rechnen. Nur als Ehefrau eines deutschen Staatsbürgers würde sie in Deutschland bleiben dürfen. Das hält Noah Leyden nicht für ein unüberwindliches Hindernis: Als Irina aus der Haftanstalt tritt, setzt er dort Kalle ab, der bereits zuvor freigelassen wurde, damit dieser sie abholen kann.

Am Abend, als Noah Leyden neben seiner Ehefrau Laura (Christina Große) im Bett liegt, fragen sich die beiden, ob ihre Liebe mit der Kalles vergleichbar sei, der ungeachtet seines Ekels vor Blut und Fleisch einen Menschen zerstückelte.

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Doris Dörrie bläht die lakonische Kurzgeschichte „Glück“, die Ferdinand von Schirach in dem Band „Verbrechen“ veröffentlicht hatte, zu einem romantischen Kinodrama über zwei Außenseiter auf. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sie die Geschichte bei der Verfilmung nicht auch trivialisiert hätte.

Eingangs räsoniert der Strafverteidiger Noah Leyden aus dem Off über das Glück. Die Figuren des Juristen und seiner Ehefrau Laura stehen für das gutbürgerliche Wohlleben, in dem die kleinen Momente des Glücks zu leicht übersehen werden. Im Gegensatz dazu müssen die illegal in Berlin lebende Prostituierte Irina und der obdachlose Punk Kalle sich das Glück mühsam erkämpfen.

„Glück“ ist nicht zuletzt ein Appell an die Gerichte, Angeklagte individuell zu beurteilen und nicht über einen Kamm zu scheren. Niemand darf glauben, die ganze Wahrheit zu kennen.

Von der nüchternen Erzählweise Ferdinand von Schirachs ist bei Doris Dörries Adaption nichts mehr übrig. Da liegt Irina in einem Mohnfeld und schaut in den blauen Himmel hinauf; sie hilft ihrer Mutter beim Honigumfüllen und hält ein neugeborenes Lamm in den Armen. Diese Idylle kontrastiert dann mit einem Doppelmord und einer deftig illustrierten Vergewaltigung. Wenn Doris Dörrie später das blutige Zerstückeln eines menschlichen Körpers in Großaufnahmen wie in einem Splatter-Movie zeigt und dabei vorübergehend ins Genre der Groteske wechselt, entspricht das – anders als die klischeehafte Idylle im Mohnfeld – Ferdinand von Schirachs Stil, denn er schreckt nicht vor makabren Szenen zurück.

Wenn Doris Dörrie mehrmals zeigt, wie der dicke Politiker die Treppe zu Irinas Wohnung hinauf keucht, ist dies eine ebenso aufdringliche Vorbereitung späterer Szenen, wie der Kauf eines elektrischen Küchenmessers und Kalles Ekel vor Blut und Fleisch.

Anders als Ferdinand von Schirach malt Doris Dörrie in „Glück“ das Vergewaltigungstrauma der Hauptfigur überdeutlich aus. Wie Irina damit als Prostituierte arbeiten kann, erklärt sie nicht weiter.

Vinzenz Kiefer ist – unabhängig von seiner schauspielerischen Leistung – eine Fehlbesetzung. Ihm nimmt man den obdachlosen Null-Bock-Punk nicht ab.

Sehenswert ist „Glück“ vor allem wegen Alba Rohrwacher, die ihre Rolle ebenso nuancenreich wie eindrucksvoll spielt.

Die Uraufführung des Films „Glück“ fand am 15. Februar 2012 bei den Berliner Filmfestspielen statt. Doris Dörrie wurde dafür mit Regiepreis des Bayerischen Filmpreises 2011 ausgezeichnet.

Der Piper Verlag brachte unter dem Titel „Glück und andere Verbrechen“ eine Sonderausgabe mit Fotos aus dem Film heraus (München 2012, 208 Seiten, ISBN 978-3-492-30030-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014

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