Ayaan Hirsi Ali


Ayaan Hirsi Ali wuchs in Somalia, Saudi-Arabien, Äthiopien und Kenia auf. Nach ihrer Zwangsverheiratung floh sie 1992 in die Niederlande. Dort studierte sie und engagierte sich als Politikerin für Frauenrechte. In die Schlagzeilen geriet sie unter anderem durch ihre öffentliche Kritik am Islam. Aufgrund von Morddrohungen musste sie unter Schutz gestellt werden.


Ayaan Hirsi Ali:
»Ich wollte ein Mensch sein, ein Individuum mit einem eigenen Leben«

Leseprobe aus
Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts
Piper Verlag, München 2009 (3. Auflage: 2011)

Ayaan staunte über die Egozentrik der Europäer: »Alles drehte sich um sie selbst; es war wichtig, was sie machten, dass sie einen eigenen Stil hatten, sich etwas gönnten […] – es gab eine ganze Kultur des Selbst, die ich von Afrika nicht kannte. In meiner Kindheit wurde das Selbst ignoriert. Um anerkannt zu werden, gab man sich stets gehorsam, brav und fromm; man versuchte nie, sich selbst zu verwirklichen.« Mit wachsender Ablehnung verfolgte Ayaan, dass viele Holländer, die eine multikulturelle Gesellschaft befürworteten, Immigranten nicht kritisieren wollten. »Die Toleranz der Holländer gegenüber Einwanderern war gut gemeint, hatte aber schlimme Folgen […] Das multikulturelle Nebeneinander in Holland funktionierte nicht, und der Respekt gegenüber den Muslimen hatte nicht die erhoffte Wirkung […] Die Kultur der Einwanderer wurde auf Kosten ihrer Frauen und Kinder bewahrt, und gleichzeitig wurde so die

Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. © Piper Verlag 2009

Integration der Einwanderer in Holland verhindert.« Ayaan Hirsi Ali stimmte dem Publizisten Paul Scheffer zu, der am 29. Januar 2000 in einem Essay mit dem Titel »Das multikulturelle Drama« Toleranz gegenüber fremden Eigenheiten mit Wegschauen gleichgesetzt hatte.

Als Ayaan im November 2001 bei einer Podiumsdiskussion über den Westen und den Islam in einem Amsterdamer Kulturzentrum im Publikum saß, fiel sie durch kritische Wortmeldungen auf. Chris Rutenfrans, einer der Veranstalter, schlug ihr daraufhin vor, für die von ihm und Jaffe Vink herausgegebene Beilage der Tageszeitung »Trouw« einen Artikel zu schreiben. Ebenso vehement wie undifferenziert prangerte Ayaan Hirsi Ali den Islam als rückständig und frauenfeindlich an. Dadurch geriet sie in die Schlagzeilen. Der Schriftsteller Leon de Winter lud sie zum Essen ein und unterstützte sie fortan, aber es gab auch Drohungen, und als Ayaan Hirsi Ali am Jahrestag des Terroranschlags auf das World Trade Center zu einer Talkshow im Fernsehen eingeladen wurde, hielt man es bereits für erforderlich, sie von zwei Bodyguards beschützen zu lassen.

Um wenigstens ein paar Wochen lang keine Angst vor einem Anschlag haben zu müssen, flog Ayaan im Oktober 2002 erstmals in die USA, wo man noch nichts von ihr gehört hatte. In San Francisco traf sich die niederländische Politikerin Neelie Kroes mit ihr, um sie von der Arbeiterpartei abzuwerben und zu überreden, sich von der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie als Kandidatin für die Parlamentswahlen am 22. Januar 2003 aufstellen zu lassen. – Ayaan stimmte zu und erkämpfte sich eines der achtundzwanzig Mandate der Partei.

Drei Tage später hieß es, die neue Abgeordnete Ayaan Hirsi Ali habe den Religionsstifter Mohammed als pervers bezeichnet. In einem Interview mit »Trouw« hatte sie darauf hingewiesen, dass Aischa neun Jahre alt gewesen sein soll, als der Prophet die Ehe mit ihr vollzog. Nach westlicher Auffassung falle so ein Verhalten unter den Begriff der Pädophilie. Viele Muslime empörten sich über diese Wertung.

Obwohl Ayaan wegen ihrer schonungslos formulierten Kritik am Islam befürchten musste, von einem Fundamentalisten umgebracht zu werden, ließ sie sich nicht davon abhalten, das Drehbuch für einen Kurzfilm mit dem Titel »Submission« (Unterwerfung) zu verfassen. Zusammen mit dem Regisseur Theo van Gogh realisierte sie den Film, der am 29. August 2004 im holländischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. In dem optisch und inhaltlich provozierenden Film – eine Darstellerin trägt einen durchsichtigen Tschador auf dem nackten Körper – prangerten Theo van Gogh und Ayaan Hirsi Ali die Unterdrückung der Frau im Islam an. Dafür erhielten sie Drohbriefe.

Es blieb nicht nur bei Drohungen: Theo van Gogh wurde am 2. November 2004 in Amsterdam ermordet. Der in den Niederlanden geborene und aufgewachsen Marokkaner Mohammed Bouyeri schoss auf van Gogh, der auf dem Fahrrad unterwegs war. Anschließend schnitt er dem am Boden liegenden und um Gnade flehenden Regisseur die Kehle durch. Mit dem blutigen Messer spießte Bouyeri einen fünfseitigen Bekennerbrief mit einer an Ayaan Hirsi Ali gerichteten Morddrohung in die Brust des Toten. Leon de Winter ist überzeugt, dass Theo van Gogh »als symbolischer Vertreter von Ayaan Hirsi Ali« ermordet wurde, die der Attentäter als »Soldatin des Bösen« beschimpfte. »Ich trauere um Theo«, schrieb Ayaan. »Dass er sterben musste, um die Aufmerksamkeit auf einige Leute zu lenken, denen der Glaube mehr bedeutet als ein Menschenleben […] Ich bin wütend, weil ich weiß, dass der Täter nicht allein ist.«

Sicherheitskräfte versteckten die Fünfunddreißigjährige zweieinhalb Monate lang an verschiedenen Orten in den Niederlanden und in den USA. Damit sie nicht geortet werden konnte, musste sie ihr Handy abgeben.

Ayaan blieb auch weiterhin auf Personenschutz angewiesen, aber ihre Nachbarn fühlten sich dadurch belästigt und reichten im Frühjahr 2006 eine Räumungsklage gegen sie ein. Mitte Mai kündigte die Integrationsministerin Rita Verdonk an, der umstrittenen Islam-Kritikerin die niederländische Staatsbürgerschaft abzuerkennen, weil sie bei der Einbürgerung falsche Angaben gemacht hatte. Der Beschluss löste am 17. Mai – einen Tag, nachdem Ayaan Hirsi Ali ihr Mandat niedergelegt hatte – eine vierzehnstündige Parlamentsdebatte aus. Rita Verdonk, der vorgeworfen wurde, sie wolle sich profilieren, geriet unter Druck. Am 27. Juni nahm sie ihre Entscheidung zurück. Der politische Streit endete damit übrigens nicht: Am übernächsten Tag zerbrach die Regierungskoalition von Ministerpräsident Jan Peter Balkenende.

Quelle: Dieter Wunderlich, AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts
© Piper Verlag, München 2009
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Fußnoten wurden in der Leseprobe weggelassen. Zitate:
Ayaan Hirsi Ali: Mein Leben, meine Freiheit, 2008, S. 351
Leon de Winter: Vor den Trümmern des großen Traums, „Die Zeit“, 18. November 2004
„Sächsische Zeitung“, 23. Januar 2006

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