Alessandro Baricco : Seide
Inhaltsangabe
Kritik
Um 1840 kam ein Mann namens Baldabiou in den südfranzösischen Ort Lavilledieu. Er führte dort die Herstellung von Seide ein, verhalf der Gemeinde damit zu Wohlstand und überredete den am 4. September 1829 geborenen Hervé Joncour, die auf Wunsch des Vaters eingeschlagene militärische Karriere aufzugeben und stattdessen einmal im Jahr nach Ägypten und Syrien zu reisen, um Seidenraupeneier zu kaufen. So kam es, dass Hervé Joncour mit seiner kinderlosen Ehefrau Hélène von ein paar Wochen Arbeit im Jahr gut leben kann.
Die Seidenraupen, die 1861 aus den von ihm besorgten Eiern schlüpfen, erweisen sich jedoch nach zwei Monaten zum größten Teil als unbrauchbar, denn sie sind von der Nosemaseuche infiziert, die sich in Europa, Afrika und bis nach Indien ausgebreitet hat. Den Menschen in Lavilledieu droht der Ruin. Nur in Japan gibt es noch gesunde Seidenraupen, denn das Kaiserreich hatte sich zwei Jahrhunderte lang vom Rest der Welt isoliert und Handelsbeziehungen verweigert. Erst aufgrund eines Ultimatums von Matthew Calbraith Perry, der mit einer Kriegsflotte im Juli 1853 in die Bucht von Yokohama vorgedrungen war, ließ Japan widerstrebend Ausländer ins Land. – Baldabiou sorgt dafür, dass das Seidenkonsortium von Lavilledieu Hervé Joncour mit dem erforderlichen Geld für eine Japanreise ausstattet, und im Herbst 1861 macht der Zweiunddreißigjährige sich auf den Weg.
Nach drei Monaten trifft er in Japan ein. Hara Kei, der Herr über ein japanisches Dorf, verkauft dem französischen Händler Seidenraupeneier gegen Goldstücke.
Hara Kei saß mit gekreuzten Beinen im hintersten Winkel des Raumes auf dem Boden. Er trug ein dunkles Gewand und keinen Schmuck. Das einzig sichtbare Zeichen seiner Macht: eine reglos neben ihm liegende Frau, den Kopf auf seinem Schoß, die Augen geschlossen, die Arme unter dem weiten roten Kleid verborgen, das sich auf der aschfarbenen Bastmatte wie eine Flamme ringsumher ausbreitete. Er fuhr ihr mit der Hand langsam durchs Haar. Es sah aus, als streichele er das Fell eines kostbaren, schlafenden Tiers. (Seite 28)
Als die junge Frau die Augen aufschlägt und Hervé Joncour schweigend anschaut, wird er von einem Blick getroffen, den er nie mehr vergessen wird.
Am 1. Oktober 1862 bricht er zu seiner zweiten Japanreise auf. Wieder begegnet er dem Blick der schönen Frau. Als er sich im rituellen Bad entspannt, legt ihm jemand ein nasses Tuch auf die Augen. Zarte Hände berühren flüchtig seine Lippen. Bevor das Seidentuch von seinen Augen genommen wird und die Frau verschwindet, legt sie ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier in seine Hand.
Dieses Briefchen lässt Hervé Joncour sich von Madame Blanche übersetzen, einer Japanerin, die in Nîmes ein Stoffgeschäft und darüber ein Bordell betreibt. Die japanischen Schriftzeichen bedeuten: „Kommen Sie zurück, oder ich sterbe.“
Als Hervé Joncour zum dritten Mal in Japan eintrifft, bemerkt er, dass die Voliere, in der Hara Kei hunderte von seltenen Vögeln hielt, geöffnet wurde und der Himmel über dem Haus von den herumflatternden Vögeln gesprenkelt ist. Vor der leeren Voliere steht die schöne Frau. Hervé Joncour eilt auf sie zu, aber bevor er sie erreicht, wird er von Hara Kei begrüßt.
Bei einer Abendgesellschaft, zu der ihn Hara Kei eingeladen hat, sucht er tausendmal die Augen der Frau, und tausendmal findet sie die seinen. Nach seinem Aufbruch begegnet er ihr noch einmal. Wortlos nimmt sie seine Hand, berührt sie mit den Lippen und legt sie dann auf die Hände eines schönen Mädchens. Dann zieht sie sich zurück und lässt das Paar allein. Die ganze Nacht hindurch lieben der Europäer und die Asiatin sich. Im Morgengrauen schlüpft das Mädchen in einen weißen Kimono und verschwindet.
Gleich darauf erhält Hervé Joncour die gewünschten Seidenraupeneier, aber als er nach Hara Kei fragt, sagt man ihm, der sei für unbestimmte Zeit fort. Die Voliere ist verschlossen, und die Vögel sind wieder da.
Drinnen flogen Hunderte Vögel vor dem Himmel geschützt umher. (Seite 73)
Die europäischen Seidenhersteller werden schließlich von zwei Italienern zu fairen Preisen beliefert, die Seidenraupeneier in guter Qualität aus China beziehen. Außerdem gelingt es Louis Pasteur, die Nosemaseuche einzudämmen. Obwohl das Konsortium in Lavilledieu also keinen Grund mehr hat, eine weitere Reise zu finanzieren, will Hervé Joncour unbedingt auch 1864 nach Japan, und Baldabiou hilft ihm, das Konsortium umzustimmen. Nur Hélène lässt sich nicht täuschen.
Am 10. Oktober 1864 bricht Hervé Joncour zum vierten Mal nach Japan auf. Aber das Dorf von Hara Kei findet er niedergebrannt und verlassen vor. Unversehens taucht ein ängstlicher Junge auf, nicht älter als vierzehn; der zeigt ihm auf einem tagelangen Ritt den Weg, bis Hervé Joncour auf die von Hara Kei geführte Kolonne der Dorfbewohner trifft. Die schöne Frau ist nicht zu sehen; offenbar wird sie in einer Sänfte getragen.
Hara Kei ist ungehalten über das Auftauchen des Franzosen. Am anderen Morgen hängt die Leiche des Jungen an einem Ast, und Hara Kei klärt Hervé Joncour darüber auf, dass in Japan auf die Überbringung eines Liebesbriefes der eigenen Herrin traditionell die Todesstrafe steht. Hervé Joncour beteuert, keinen Brief erhalten zu haben, aber Hara Kei wischt seinen Einwand beiseite: der Junge selbst war der Liebesbrief. Er setzt ihm einen Gewehrlauf an den Kopf, drückt dann jedoch nicht ab, sondern schickt Hervé Joncour fort und verlangt von ihm, sich nie mehr sehen zu lassen.
Obwohl Hervé Joncour zu viel Zeit verloren hat, besticht er einen japanischen Beamten, um sechzehn Kartons Seidenraupeneier kaufen zu können. Für die Rückreise wählt er eine nördlichere Strecke und er kühlt seine Fracht unterwegs mit Eis, aber am 6. Mai 1865 verlässt er in Elberfeld bei Köln den Zug und lädt seine Schachteln aus. Wie befürchtet, sind die Larven alle tot.
In Lavilledieu erzählt er Baldabiou seine Geschichte und klagt:
„Nicht einmal ihre Stimme habe ich je gehört.“ (Seite 108)
Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr erhält Hervé Joncour einen Brief mit japanischen Schriftzeichen. Noch einmal lügt er seine Frau an, er habe geschäftlich in Nîmes zu tun, damit er sich den mehrseitigen Brief von Madame Blanche übersetzen und vorlesen lassen kann. Es handelt sich um einen sehr erotischen Brief einer Frau, die sich am Ende für immer von ihm verabschiedet.
Hélène erkrankt im Winter 1874 an einem Gehirnfieber und stirbt im Frühjahr. Da fährt Hervé Joncour noch einmal nach Nîmes, aber Madame Blanche ist inzwischen nach Paris gezogen. Als er sie gefunden hat, bestätigt sie seinen Verdacht: Der erotische Brief war von seiner Frau, und Madame Blanche übersetzte ihn ins Japanische.
Hervé Joncour lebt noch dreiundzwanzig Jahre in Frieden und bei guter Gesundheit.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In „Seide“ geht es um eine unerfüllbare und unvergängliche Liebe, um zwei Menschen, die sich begehren, ohne jemals auch nur ein einziges Wort miteinander gewechselt zu haben. Genausowenig wie Hervé Joncour erfahren wir über die junge Frau an der Seite des japanischen Territorialherrn, deren Blick der französische Seidenraupenhändler nicht mehr vergisst.
„Seide“ ist ein sinnlicher und wehmütiger, zarter und poetischer Roman von Alessandro Baricco, eine Geschichte von schlichter Schönheit, leicht wie ein Seidentuch, geschrieben in einer scheinbar einfachen Sprache mit kurzen Sätzen und bewussten Wiederholungen ganzer Passagen.
Alessandro Baricco wurde 1958 in Turin geboren. Er studierte Philosophie und Musikwissenschaften. In der Serie Piper erschienen seine erfolgreichen Bücher: „Land aus Glas“, „Novecento“, „Oceano Mare“ und „Seide“.
Der kanadische Regisseur François Girard verfilmt 2006 den Roman „Seide“ von Alessandro Baricco mit Keira Knightley und Michael Pitt in den Hauptrollen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Piper Verlag
Giuseppe Tornatore: Die Legende vom Ozeanpianisten
(Verfilmung des Monologs „Novecento“ von Alessandro Baricco)