Patrick Modiano : Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend
Dans le café de la jeunesse perdue Éditions Gallimard, Paris 2007 Im Café der verlorenen Jugend Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 2012 ISBN 978-3-446-23856-5, 158 Seiten ISBN 978-3-446-23964-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Café der verlorenen Jugend wird Jacqueline "Louki" genannt. Patrick Modiano lässt drei Männer in der Ich-Form erzählen, was sie über Louki denken. Keinem gelingt es, die 22-Jährige zu verstehen. Im mittleren Kapitel hören wir Louki selbst, doch sie bleibt ungreifbar, unergründlich.
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Kritik

Patrick Modiano entwickelt den Roman "Im Café der verlorenen Jugend" aus vier verschiedenen Perspektiven. Die Leerstellen in der Charakterzeichnung und die vage Datierung kontrastieren mit präzisen Ortsangaben. Sprache und Form bestechen durch ihre Eleganz.
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Der Student

Ein Student der École supérieure des mines in Paris gerät in den Sechzigerjahren im Odéon-Viertel am Rive Gauche in das Café „Le Condé“ und beobachtet dort die Gäste. Fast alle von ihnen seien zwischen 19 und 25 Jahre alt, schätzt er. Nur wenige sind älter, aber auch sie gehören zur Boheme.

[…] wurde es zum Treffpunkt dessen, was ein rührseliger Philosoph „die verlorene Jugend“ nannte.

Eine junge Frau fällt ihm auf, die verloren wirkt. Einer der Gäste ruft sie Louki, und der Name bleibt ihr, obwohl sie gar nicht so heißt.

Der Detektiv

In das Condé, das „Café der verlorenen Jugend“, kommt auch der Privatdetektiv Pierre Caisley, der Anfang 40 ist und sich als Kunstbuchverleger ausgibt.

Der Immobilienmakler Jean-Pierre Choureau in Neuilly hat ihn beauftragt, nach seiner Ehefrau Jacqueline zu suchen, die ihn vor zwei Monaten verließ. Ein knappes Jahr waren sie zusammen gewesen. Jean-Pierre Choureau ist 36, Jacqueline 22.

Pierre Caisley findet heraus, dass Jacqueline Choureau, eine geborene Delanque, als jugendliche Streunerin in Polizeiakten vermerkt ist. Der Vater ist laut Geburtsurkunde unbekannt. Die vor vier Jahren gestorbene Mutter Geneviève Delanque hatte nachts als Platzanweiserin im Moulin-Rouge gearbeitet. Die Wohnungsmiete war von einem Freund der Mutter bezahlt worden, von Guy Lavigne, der in der Autowerkstatt „La Fontaine“ in Auteuil arbeitet.

Bei der Beschäftigung mit dem Auftrag wachsen bei Pierre Caisley Zweifel über seine Tätigkeit und er beschließt, dem Auftraggeber nicht zu verraten, wo Jacqueline Choureau, die im Condé Louki gerufen wird, zu finden wäre.

Das Mädchen

Jacqueline wurde in einem Dorf in der Sologne geboren. Dort hatte der damalige Direktor des „Moulin Rouge“ ein Landgut. Durch ihn bekam Geneviève Delanque im Varieté eine Anstellung als Platzanweiserin und zog mit der Tochter nach Paris.

Ihren Vater kennt Jacqueline nicht. Mit 15 habe sie vier Jahre älter ausgesehen, meint sie. Ihre Mutter war nachts nicht zu Hause, und sie nutzte deren Abwesenheit, um herumzustreunen. Im April des Vorjahres heiratete sie den Immobilienmakler Jean-Pierre Choureau in Neuilly, der sie als Aushilfssekretärin eingestellt hatte.

In einer Apotheke begegnete sie einer Frau namens Jeannette Gaul, die ein paar Jahre ältere ist als sie und sie dazu brachte, mit ihr Kokain zu schnupfen. Aber das von Jacqueline erhoffte Gefühl der Schwerelosigkeit erlebte sie dabei nicht. Mit Jeannette, deren Freund Mario Bay, dazu noch zwei anderen Männern übernachte sie mehrmals in einem Landgasthof in Cabassud. Diese „Landpartien“ verschwieg sie ihrem Mann.

Im Condé lernt sie nun Roland kennen, der in der Buchhandlung Véga („Orientalismus und vergleichende Religionswissenschaft“) beschäftigt ist und Schriftsteller werden möchte. Mit ihm unternimmt sie lange Spaziergänge in Paris; sie schauen sich Kinofilme an und lieben sich in Hotelzimmern.

Jacqueline beschließt, nicht mehr zu ihrem Mann zurückzukehren.

Der Schriftsteller

Roland ist nicht sein richtiger Name, aber er gefällt ihm. Er möchte Schriftsteller werden.

In der Buchhandlung, in der er arbeitet, lernt er Guy de Vere kennen, einen älteren Mann, der ihn zu einer esoterischen Sitzung im Arbeitszimmer seiner Wohnung am Square Lowendal einlädt. Dort lernt er eine etwa gleichaltrige Frau kennen, mit der er anschließend durch Paris schlendert. Rasch spürt er, dass ihre Ehe unglücklich ist.

Sie werden in Paar. Und Louki, wie sie dort genannt wird, nimmt ihn ein paar Mal mit ins Condé.

Viele Jahre später kreuzen sich zufällig die Wege von Roland und Guy de Vere. Das Café der verlorenen Jugend gibt es nicht mehr. In den Räumen befindet sich inzwischen das Lederwarengeschäft „Au Prince de Condé“. Guy de Vere lebt seit langem in Mexiko und ist nur kurz in Paris, aber er fordert Roland auf, ihn in Mexiko zu besuchen und schreibt ihm die Adresse auf.

Roland erinnert sich, wie er zu einer Verabredung mit Louki ins Condé ging. Die Gäste schauten ihn betreten an, und einer teilte ihm schließlich mit, dass Louki sich aus einem Fenster gestürzt habe. Im Hôpital Broussais erfuhr Roland , dass die junge Frau nicht mehr zu retten gewesen sei. Sie war tot. Im Warteraum gegenüber saß ein anderer Mann, der sich nun als Pierre Caisley vorstellte und Roland berichtete, dass Louki keinen Abschiedsbrief hinterlassen habe.

Er hat mir alles erzählt. Sie befand sich in ihrem Zimmer, mit einer gewissen Jeannette Gaul, die Totenkopf genannt wurde. Aber wieso kannte er Jeannettes Spitznamen? Sie war hinaus auf den Balkon getreten. Sie hatte ein Bein über das Geländer geschwungen. Die andere hatte versucht, sie an einem Zipfel ihres Morgenrocks festzuhalten. Doch es war zu spät. Sie hatte gerade noch Zeit gehabt, ein paar Worte zu sagen, als rede sie mit sich selbst, um sich Mut zu machen:
„Es ist soweit. Lass dich fallen.“

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Jacqueline („Kaki“) Harispe, ein Dior-Mannequin, stürzte sich 1953 im Alter von 19 Jahren aus einem Hotelfenster in Paris. Patrick Modiano ging das nah, denn er war dem Mädchen als Kind im Café „Chez Moineau“ begegnet. Später verarbeitete er das in seinem melancholischen Roman „Im Café der verlorenen Jugend“.

Eine 22-Jährige stürzt sich in den Sechzigerjahren in Paris in den Tod: Jacqueline, im Café der verlorenen Jugend „Louki“ genannt. Patrick Modiano lässt drei Männer in der Ich-Form erzählen, was sie über sie denken: ein Student, ein Detektiv und ein Schriftsteller. Letzterer kommt in zwei Kapiteln zu Wort. Im letzten erinnert er sich viele Jahre später an die Ereignisse in den Wochen vor Loukis Tod. Keinem der drei Männer gelingt es, die junge Frau zu verstehen; sie bildet nur eine Projektionsfläche. Im mittleren Kapitel des Romans „Im Café der verlorenen Jugend“ hören wir Louki selbst, doch sie bleibt ungreifbar, unergründlich.

Die Leerstellen in der Charakterzeichnung und die vage Datierung kontrastieren mit präzisen Ortsangaben. Patrick Modiano entwickelt den Roman „Im Café der verlorenen Jugend“ nicht nur aus vier verschiedenen Perspektiven, sondern changiert auch zwischen literarischen Genres. Sprache und Form bestechen durch ihre Eleganz.

Die Hauptfigur tritt im ersten Satz des Romans durch eine „Schattentür“ ein, und im letzten Satz stürzt sie sich vom Balkon.

Der Titel ist dem Motto des Buches von Patrick Modiano entnommen, einem Zitat von des Autors, Künstlers und Filmemachers Guy Debord (1931 – 1994):

Auf halbem Weg zum wahren Leben
umgab uns eine düstere Melancholie,
die aus soviel spöttischen Worten sprach,
im Café der verlorenen Jugend.

Den Roman „Im Café der verlorenen Jugend“ von Patrick Modiano gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Sandra Hüller, Matthias Brandt, Henning Nöhren und Thomas Sarbacher (Regie: Anna Hartwich).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.