Elisabeth Binder : Orfeo
Inhaltsangabe
Kritik
Hans Bauer hatte früh seine Eltern verloren und die Verantwortung für die kleine Textilfabrik seines Vaters in der Schweiz übernommen. Nach der Rückkehr von einer Geschäftsreise verliebte er sich beim jährlichen Betriebsausflug auf einem Ausflugsschiff in Stella, die er bis dahin noch nicht gesehen hatte, weil sie erst seit kurzer Zeit in seiner Firma beschäftigt war.
Er wusste jetzt nicht mehr, ob er wirklich die Stimme zuerst wahrgenommen hatte, diese dunkle, warme, etwas träge, oder den Namen, diesen hellen, graziösen, den jemand aus der Gesellschaft, vielleicht eine ihrer italienischen Mitarbeiterinnen, rief.
Als er aufgesehen hatte, um festzustellen, zu wem der Name oder die Stimme gehörte, begegnete er schon ihrem Blick.
Als habe sie auf dieses Aufschauen gewartet.
Es war nur ein Blick. Aber lang genug, um etwas herzustellen, das man nicht ohne weiteres wieder ungeschehen machen konnte […]
Sie hatte ihn angesehen – und dann mit einem leisen Spott in den Mundwinkeln weggesehen, ein bisschen hochmütig an ihrer Zigarette ziehend.
Aber da war es schon um ihn geschehen.
Kein Ausweichen, kein Abwägen, keine Wahl. (Seite 19f)
Wegen der Mesalliance zwischen dem Unternehmer und der Gastarbeiterin gab es viel Getuschel.
Stellas Mutter war bei der Geburt des zweiten Kindes gestorben und der Vater kurz danach tödlich verunglückt. Deshalb wuchs Stella bei ihrer Großmutter auf. Die stammte aus Triest, war als Dienstmädchen nach Venedig gekommen, hatte eine glänzende Partie gemacht, aber das Vermögen ihres Ehemanns war bei unglücklichen Geschäften verloren gegangen.
Die Ehe von Hans und Stella Bauer hielt nicht lang. Stella betrog ihren Mann; er verzieh ihr das nicht, und sie verließ ihn. Die Scheidung fiel mit der Krise in der Schweizer Textilindustrie zusammen. Nach dem Zusammenbruch des Unternehmens zog Hans Bauer sich auf den Bauernhof seiner Großeltern zurück und mied mehr und mehr die Gesellschaft anderer Menschen.
Vierzig Jahre nach der Trennung fährt der Greis von Zürich nach Venedig, wo er Stella vermutet, um herauszufinden, was aus ihr geworden ist. Die Adresse hätte er von einer ihrer Cousinen erfragen können, die einen Schweizer geheiratet hatte und die er gelegentlich beim Einkaufen trifft, aber er möchte nicht, dass jemand von seinem Vorhaben etwas ahnt.
Bei seinen Spaziergängen in Venedig fallen ihm zwei alte Frauen mit einem kleinen Hund auf. Er folgt ihnen – und merkt erst nach einiger Zeit, dass es sich bei einer von ihnen um Stella handelt. Ihre Begleiterin kennt er auch: Es ist Anna, die seit der Schulzeit mit Stella befreundet ist. Stella benutzt zwar einen Gehstock, aber in ihren Bewegungen liegt noch immer etwas von der früheren Eleganz. Als die beiden Frauen sich trennen, folgt Hans Bauer Stella und ihrem Hündchen bis zu dem Haus, in dem sie offenbar wohnt. Danach muss er sich in einer Gasse mit dem Rücken an eine Hausmauer lehnen, wo er langsam zur Seite rutscht und das Bewusstsein verliert.
Stella nahm den alten Mann wahr und merkte, dass er ihnen folgte. Doch die Zeiten, in denen sie von Männern umschwärmt wurde, sind längst vorbei. Plötzlich durchfährt es sie: Könnte das ihr Ex-Mann gewesen sein?
Was aber fing sie nun mit dem alten Mann an, wenn er noch einmal auftauchen sollte? Mit der ganzen alten Geschichte, die ihr plötzlich wieder vor Augen stand. Ihr Leben mit ihm. Sicher, sie hatte ihn geliebt und gewollt, und mit dem Fabrikdirektor verheiratet zu sein war ja auch nicht ganz uninteressant gewesen. Außerdem hatte sie sich damals ziemlich allein gefühlt. So ohne Familie.
Und er hatte sie ja auf Händen getragen, auf Händen.
Aber auch gehütet wie einen Schatz.
Und sie hatte es irgendwann nicht mehr ausgehalten in dieser bewundernden und ängstlich besorgten und allerdings auch eifersüchtigen Aufmerksamkeit. Trotz seiner Liebe, an der sie keinen Moment gezweifelt hatte, seiner vollkommenen Hingegebenheit. Irgendwann war das Leben mit ihm einfach nicht mehr scharf genug, nicht mehr verführerisch genug gewesen. Irgendwann hatte sie sich nur noch nach Freiheit gesehnt. (Seite 87f)
An einem der nächsten Tage beobachtet Hans Bauer, wie Stella über den Markusplatz auf ihn zukommt. Diesmal spricht er sie an. Er begleitet sie. Die beiden verabreden sich – fahren zum Lido, gehen in die Oper, sehen sich Kunstausstellungen an –, und Hans Bauer hat wieder das Gefühl, ein Mann mit einer Frau zu sein. Stella betrachtet das unerwartete Wiedersehen zwar nicht wie Anna als Happy End, aber es belebt sie, noch einmal als Frau gefragt zu sein, auch wenn sie in ihrem Ex-Mann nun eher so etwas wie einen Bruder sieht.
Irgendwie lag ihr der Mann am Herzen. Jetzt, da er noch einmal gekommen war. (Seite 127)
Nach einer Woche fahren sie auf Stellas Wunsch nach Triest. Während er am Bahnhof auf sie wartet, überlegt er:
Zuhause wartete niemand auf ihn. Er konnte also bleiben, so lange er wollte. Aber natürlich auch nicht ewig. Um ein Zusammenleben, wo auch immer, konnte es auf keinen Fall mehr gehen. Worum konnte es denn aber noch gehen? (Seite 122f)
Stella trifft verspätet ein. Als sie aus dem Vaporetto steigt und ihn im Regen warten sieht, fühlt sie sich von seiner „Anhänglichkeit (oder Abhängigkeit?)“ irritiert.
Sie hatte ihn damals betrogen und sich auch danach auf einige Affären eingelassen, bis sie der großen Liebe ihres Lebens begegnet war: Janko. Er stammte aus Triest. (Einer der Gründe für ihren Reisewunsch.) Das Glück dauerte nicht lang. Janko war Arbeiter in einem Konzern und wusste über einige unsaubere Geschäfte Bescheid. Nach einem Essen mit einem Vorgesetzten, der ihm zuvor schon Geld für sein Schweigen angeboten hatte, starb Janko an einer Vergiftung, und Stella vermutet, dass er ermordet wurde.
Während der Bahnfahrt nach Triest erinnert Stella sich an Janko und erzählt von ihm. Hans Bauer nahm nicht an, dass sie in den letzten vierzig Jahren ohne Männer gelebt hatte, aber bis jetzt wusste er nichts Konkretes.
Nun sah er, dass dieser Mann noch ganz gegenwärtig war in ihren Gedanken und Gefühlen. Dass da ein anderer ihr Herz beschäftigte, dieses Herz, das er so gern mit sich beschäftigt gesehen hätte.
[…] Und da er kein Mann war, der an einem Konkurrenzkampf (überhaupt an einem Kampf) Freude gehabt hätte, es außerdem auch noch geschmacklos gewesen wäre, gegen einen Toten anzutreten, nahm er sich, ohne ein Wort zu sagen, bereits wieder aus dem Spiel. (Seite 134)Und er fühlte, dass er diese sinnlose Suche endlich aufgeben sollte, diese sinnlose, zermürbende, herzzerreißende Suche nach einer Frau, die einmal seine Frau gewesen war. Dass er diese alte Frau endlich in Ruhe lassen sollte. (Seite 155)
Hans Bauer beschließt, nach Zürich zurückzukehren. Am Abend vor seiner Abreise sitzen er und Stella in einem Straßencafé am Ufer eines Kanals. Schweigend sehen sie einer griechischen Fähre nach und stellen sich vor, in welches Abendlicht sie hinausfährt.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Mit dem Titel „Orfeo“ spielt Elisabeth Binder auf eine griechische Sage an: Eurydike muss nach einem Schlangenbiss ins Reich der Toten. Ihr Gefährte, der Sänger Orpheus, erhält vom Unterwelt-Gott Hades die Erlaubnis, sie von dort zurückzuholen, doch als Orpheus sich auf dem Weg aus dem Schattenreich trotz eines ausdrücklichen Verbots nach Eurydike umsieht, verliert er sie endgültig. Hans Bauer sucht und findet seine frühere Ehefrau Stella vierzig Jahre nach der Trennung in Venedig. Der einsame alte Mann aus der Schweiz hat sie nie vergessen können. Erst als Stella ihm von Janko erzählt, der zwar längst tot ist, aber in ihren Erinnerungen weiterlebt, begreift Hans Bauer, dass er sie aufgeben muss.
Elisabeth Binder erzählt mal aus der Sicht des Mannes, dann wieder aus dem Blickwinkel der Frau. Dieser Wechsel der Perspektive ermöglicht es ihr, die Gedanken und Erinnerungen beider Hauptfiguren wiederzugeben, ohne sich als auktoriale Erzählerin aufzuspielen. Ruhig und feinfühlig, aber ohne Sentimentalität spürt sie den wehmütigen Erinnerungen und trügerischen Hoffnungen der beiden nach. Dabei gelingt es ihr, von der ersten bis zur letzten Seite eine intensive Atmosphäre zu erzeugen und aufrechtzuerhalten. „Orfeo“ ist ein poetischer Roman mit einem unspektakulären, scheinbar einfachen Plot, geschrieben in einer Sprache, die ohne überflüssige Girlanden auskommt, aber auch nicht karg wirkt, weil Elisabeth Binder bei der Inszenierung des Geschehens zwischen knappen und längeren Sätzen ebenso wechselt wie zwischen Dialogen und Gedanken, Metaphern und Beschreibungen.
Elisabeth Binder wurde 1951 in Bürglen (Schweiz) geboren. Sie studierte Kunst und Germanistik. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Lehrerin arbeitete sie als Literaturkritikerin für die „Neue Zürcher Zeitung“. Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger