Jonathan Franzen : Die 27ste Stadt

Die 27ste Stadt
Originalausgabe: The Twenty-Seventh City Farrar, Straus and Giroux, New York 1988 Die 27ste Stadt Übersetzung: Heinz Müller Rowohlt Verlag, Reinbek 2003 Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005 ISBN 499-23872-1, 670 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

S. Jammu, eine 35-Jährige, die sich als Polizeichefin von Bombay einen Namen gemacht hat, wird 1984 an die Spitze des St. Louis Police Department berufen. Mit indischen Helfern sorgt sie für eine Welle von Gewalttaten. Das hilft ihr, sich bei der Verbrechensbekämpfung zu profilieren, die Menschen zu verunsichern und die Machtstellung zu erlangen, die sie benötigt, um ihre ehrgeizigen Ziele durchzusetzen.
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Kritik

In einer grotesken Konstruktion entwickelt Jonathan Franzen mit drei Dutzend Figuren einen Dschungel aus Machtmissbrauch, Korruption und Verschwörung, in dem der Leser den Überblick zu verlieren droht, zumal die komplexe Geschichte auch noch polyperspektivisch erzählt wird: "Die 27ste Stadt".
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Susan Jammu wurde 1948 in Los Angeles geboren. Ihre Eltern – die aus Kaschmir stammende Shanti Jammu und der amerikanische Journalist Peter B. Clancy – waren nicht verheiratet. Sie hatten sich in Kaschmir kennen gelernt und lebten schließlich zwei Jahre lang in Los Angeles zusammen; dann kehrte Shanti Jammu mit ihrer kleinen Tochter nach Asien zurück, allerdings nicht nach Srinagar, sondern nach Bombay. Peter B. Clancy kam 1974 ums Leben, als der Hubschrauber, in dem er sich zusammen mit anderen Journalisten und südvietnamesischen Militärs befand, nahe der kambodschanischen Grenze von den Kommunisten abgeschossen wurde. Susan Jammu schloss sich im Alter von sechzehn Jahren einer von Balwan Singh in Bombay geleiteten kommunistischen Untergrundbewegung an, weil sie nicht von ihrer Mutter mit einem dreiundvierzigjährigen Grundbesitzer aus Kaschmir verheiratet werden wollte. Sie studierte Elektrotechnik an der Universität Srinagar in Kaschmir, und im Anschluss daran absolvierte sie ein VWL-Studium in Chicago. 1969 begann sie eine Karriere bei der indischen Polizei. Nach fünf Jahren ernannte man sie zur Stellvertreterin des Polizei-Generalinspekteurs der Provinz Maharashtra, und weitere fünf Jahre später, mit einunddreißig, wurde sie Polizeichefin von Bombay. Indem sie die Polizei zu einem führenden und einflussreichen Wirtschaftsunternehmen machte, gelang ihr, die Kriminalitätsrate drastisch zu senken.

Ihren Vornamen mag sie übrigens nicht. Sie zieht es vor, S. („Ess“ oder „Essie“) Jammu genannt zu werden.

1984 beruft der Verwaltungsrat des St. Louis Police Department Jammu für eine fünfjährige Amtszeit als Nachfolgerin des Polizeichefs William O’Connell.

St. Louis, Missouri, war einmal die viertgrößte Metropole der USA. Inzwischen handelt es sich nur noch um „Die 27ste Stadt“. Vor allem die reichen Bewohner sind ins Umland (County) gezogen.

Mit Hilfe von rund zwanzig Indern – darunter Balwan Singh, der ihr ungeachtet seiner Homosexualität seit neunzehn Jahren treu zur Seite steht – versucht S. Jammu, den weiteren Niedergang von St. Louis aufzuhalten. Zu ihren wichtigsten Vertrauten gehört Parvati Asha Umeshwari Nandaksachandra, eine einundvierzigjährige märchenhaft reiche indische Prinzessin mit drei akademischen Abschlüssen, die drei Tage nach S. Jammus Amtsantritt in St. Louis Sidney Hammacker, den Geschäftsführer der Hammaker-Brauerei, heiratet.

Um ihre Ziele zu erreichen, glaubt S. Jammu, die Meinungsführer und Entscheidungsträger verunsichern zu müssen. Dabei schreckt sie vor keinem Mittel zurück. Bei allen wichtigen Leuten lässt sie modernste Abhöranlagen einbauen; die Fahrzeuge werden über Positionsmelder kontrolliert. In dem von Bunny Hutchinson, der Ehefrau des Generalintendanten des Senders KSLX, Jim Hutchinson, in einer Parkgarage abgestellten Wagen explodiert eine Autobombe, und kurz darauf werden die Fenster der Hutchinsons von einem Hubschrauber aus beschossen. Ein Sendemast wird gesprengt. Dann detoniert in einem voll besetzten Baseballstadion ein Sprengsatz, seltsamerweise so, dass nur einige Besucher verletzt werden, obwohl es bei der Zündung aller versteckten Bomben vermutlich zehntausend Tote und dreißigtausend Verletzte gegeben hätte. Später bringt eine Serie von Explosionen die sechsspurige Brücke des Highway 40 nördlich von Queeny Park zum Einsturz. Dabei werden zwar nur siebzehn Menschen verletzt, aber durch den Ausfall der wichtigen Verbindung kommt es monatelang zu riesigen Verkehrsstaus. Fingierte Bekennerschreiben lassen darauf schließen, dass hinter den Anschlägen die Osaga-Indianer stecken, denen die Region einmal gehört hatte. Aufgrund der Gewaltwelle und der polizeilichen Erfolge bei der Verfolgung von Kriminellen, Junkies und Pennern erhält S. Jammu schon bald die Genehmigung, das Personal des St. Louis Police Department um dreißig Prozent aufzustocken.

Im „Städtischen Wachstumsverein“, einer einflussreichen Vereinigung von Geschäftsführern der größten Banken und Unternehmen in St. Louis, weist General Sam Norris, der bald sechzig Jahre alte Geschäftsführer des Chemieunternehmens General Synthetics, darauf hin, dass innerhalb von einer Woche zwei indische Frauen einflussreiche Positionen einnahmen. Er befürchtet eine Verschwörung von S. Jammu und Asha Hammacker. Weil niemand auf ihn hört, beauftragt Norris den Privatdetektiv Herb Pokorny, nach Bombay zu reisen, um in Jammus Vergangenheit zu wühlen, und danach lässt er Pokorny die 3700 im Raum von St. Louis lebenden Inder überprüfen, die vor acht Monaten noch nicht da waren. Der Privatdetektiv findet heraus, dass Asha vor ihrer Hochzeit nicht nur mit Sidney Hammacker verlobt war, sondern auch mit Potter Rutherford, einem Effektenmogul in New Orleans, und weiteren fünf einflussreichen Männern in verschiedenen US-Metropolen. Die indischen Verschwörer hatten sich also auf verschiedene Optionen vorbereitet, und Jammus Ernennung zur Polizeichefin von St. Louis gab dann den Ausschlag dafür, dass sie diese Stadt als Zielobjekt wählten.

Wie Pete Wesley, der Bürgermeister von St. Louis, tritt S. Jammu für die Fusion der Stadt mit dem Umland – dem County – ein. Mit ihren Mitteln zieht sie einen Meinungsführer nach dem anderen auf die Seite der Befürworter der Fusion. Schließlich steht ihr außer General Norris nur noch ein Mann im Weg: Martin Probst.

Martin wurde in St. Louis geboren und wuchs hier auf. Im Alter von achtzehn Jahren gründete er ein Abrissunternehmen, das er zwei Jahre später in eine Baufirma umwandelte. Mit siebenundzwanzig gewann er die Ausschreibung für den Bau des Gateway Arch, das Wahrzeichen der Stadt. Seine großartige Karriere beweist, dass sich der amerikanische Traum verwirklichen lässt. Der Endvierziger ist nicht nur der erfolgreichste Bauunternehmer von St. Louis, sondern auch der Vorsitzende des „Städtischen Wachstumsvereins“. Martins Ehefrau Barbara, die Tochter des Anwalts Charles Wilson, hatte ihr Physikstudium an der Washington University abgebrochen, als sie ihn heiratete. Jetzt arbeitet sie in der Beschaffungsabteilung der Universitätsbibliothek von St. Louis. Ihre ältere Schwester Audrey ist die Frau des Industriellen Rolf Ripley. Mit ihrer achtzehnjährigen Tochter Luisa wohnen Martin und Barbara Probst in dem Nobelvorort Webster Groves.

Obwohl S. Jammu Martin Probst abhören und observieren lässt, kommt sie nicht an ihn heran: Er hat sich nie etwas zu schulden kommen lassen, hat keine Laster und gilt als vorbildlicher Ehemann und Unternehmer. Also beschließt die Polizeichefin, bei Martins Tochter anzusetzen. Balwan Singh soll sich an Luisa Probst heranmachen und sie verführen, um eine Familiekrise herbeizuführen. Singh findet heraus, dass Luisa gerade im Rahmen des Modellversuchs „Überall zu Hause“ bei einer französischen Familie in Paris war. Durch eine fingierte Ansichtskarte von Paulette Giraud, einer der beiden Töchter der Gastfamilie, lockt er Luisa in eine Bar. Dummerweise ist er gerade in der Toilette, als sie hereinkommt und statt Paulette bzw. Singh ihren zwei Jahre älteren Schulfreund Duane Thompson trifft. Luisa verliebt sich in Duane und wird seine Geliebte, während sie ihren Eltern einige Zeit vormacht, bei ihrer Freundin Stacy Montefusco zu sein. Schließlich zieht sie zu Duane, aber ihre Eltern finden sich damit ab, und der große Familienkrach bleibt aus.

Nach wie vor will Martin Probst nicht nur die Fusion verhindern, sondern auch, dass die Stadt von einem Syndikat beherrscht wird.

Als Nächstes entführt Balwan Singh die Frau des Unternehmers. Während er Barbara in seinem Apartment in St. Louis festhält, zwingt er sie, ihrem Mann in Briefen und Telefonanrufen vorzuspielen, sie sei mit ihrem Liebhaber John Nissing in New York. Um diese Fiktion zu untermauern, zeigt er sich unter diesem Namen in New York mehrmals mit der heroinsüchtigen indischen Prostituierten Bhikubai Devi Madan, die Barbara ähnlich sieht, obwohl sie mit ihren zweiundzwanzig Jahren halb so alt wie die Unternehmersgattin ist.

Während Martin Probst glaubt, seine Frau habe ihn verlassen, trifft S. Jammu sich erstmals persönlich mit ihm – und verführt ihn. Er wird ihr hörig und träumt von einem Neuanfang mit ihr. Bei einer eigens angesetzten Pressekonferenz gibt er bekannt, dass er seine Meinung geändert hat und die Fusion nun befürwortet. Seine Geliebte überrascht ihn mit den von ihr gesammelten Unterschriften für seine Kandidatur im Wahlkampf um das Amt des Supervisors der neuen St. Louis County.

S. Jammu strebt Barbaras Tod an, damit sie nichts verraten kann. Als Singh zögert, plant die Polizeichefin persönlich, die Gefangene in ihrem Versteck zu ermorden, aber als sie merkt, dass das Haus von Privatdetektiv Herb Pokorny observiert wird, fährt sie weiter. Singh injiziert Barbara schließlich ein betäubendes Medikament. Dann bindet er sie los, sorgt dafür, dass es in dem Apartment so aussieht, als habe Barbara sich dort freiwillig mit einem Liebhaber aufgehalten und verlässt das Haus. Einige Zeit später kommt Barbara zu sich. Verwundert darüber, dass ihre Fesseln fort und die Türschlösser nicht versperrt sind, geht sie auf die Straße, um herauszufinden, in welcher Stadt sie ist. Als sie von vier Schwarzen bedroht wird, hält sie ein Auto an. Die beiden Kleinganoven Brian Deere und Bobby Dean Judd beabsichtigen zwar, ihren Fahrgast zu vergewaltigen, aber als sie merken, dass sie von einem Lieferwagen verfolgt werden, geben sie erst einmal Gas. Zwei Polizeibeamte, die versuchen, sie anzuhalten, eröffnen das Feuer. Barbara wird durch einen ungewollten Kopfschuss getötet; die beiden Kriminellen ergeben sich.

Obwohl S. Jammu über Leichen geht, um ihr Ziel zu erreichen, endet das Referendum über die Fusion mit einer Niederlage der Befürworter. Während die indischen Verschworenen bis auf Asha nach und nach St. Louis verlassen, erschießt S. Jammu sich vor einem Spiegel.

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In seinem Debütroman „Die 27ste Stadt“ schildert Jonathan Franzen den Verfall einer amerikanischen Großstadt und parallel dazu die Zerstörung der glücklichen Familie eines erfolgreichen Bauunternehmers: „Die 27ste Stadt“ ist also eine Verbindung von Gesellschaftsporträt und Familiendrama. In einer grotesken – jedoch nicht ironisch gemeinten – Konstruktion entwickelt Jonathan Franzen aus zahlreichen Erzählfäden und mit drei Dutzend Figuren einen Dschungel von Machtmissbrauch, Korruption und Verschwörung, in dem der Leser den Überblick zu verlieren droht, zumal die komplexe Geschichte auch noch polyperspektivisch erzählt wird. Es ist wohl kein Zufall, dass Jonathan Franzen nicht durch „Die 27ste Stadt“, sondern erst durch „Die Korrekturen“ weltberühmt wurde, denn ungeachtet der erzählerischen Wucht fällt sein überambitionierter Erstling im Vergleich dazu ab.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Rowohlt

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