Frei Otto

Frei Paul Otto wurde am 31. Mai 1925 in Siegmar (heute ein Stadtteil von Chemnitz) als Sohn eines Steinmetzen und Bildhauers und geboren. Den ausgefallenen Vornamen Frei hatte seine Mutter als Lebensmotto für ihn ausgesucht. Durch einen Lehrer kam Frei Otto zum Segelfliegen und machte den entsprechenden Flugschein. Auf diese Weise hatte er schon als Jugendlicher mit leichten Membranen zu tun, die über Rahmen gespannt waren. Im Alter von achtzehn Jahren immatrikulierte er sich an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg für ein Architektur-Studium, aber kurz darauf wurde er zur Wehrmacht eingezogen und zum Jagdflieger ausgebildet (»Augsburg, München oder Stuttgart habe ich wirklich von oben brennen sehen«). Gegen Ende des Krieges geriet Frei Otto in Gefangenschaft und wurde bis 1947 – zuletzt in Chartres – festgehalten. Obwohl er noch nicht einmal ein Vordiplom hatte, war es ihm möglich, als Lagerarchitekt mit 200 Mitarbeitern erste Berufserfahrungen zu sammeln.

1948 – während der Berlin-Blockade – konnte er endlich an die Technische Universität zurückkehren. Die Fakultät vermittelte ihm 1950 als einem der ersten deutschen Studenten nach dem Zweiten Weltkrieg ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes für ein Semester an der University of Virginia. In den USA wurde er den berühmten Architekten Frank Lloyd Wright (1867 – 1959), Mies van der Rohe (1886 – 1969), Erich Mendelsohn (1887 – 1953) und Eero Saarinen (1910 – 1961) vorgestellt. Im Büro des Architekten Fred Severud in New York entdeckte er das Modell der Raleigh-Arena in North Carolina: Ein Seilnetz zwischen zwei großen Bogen, das erste hängede Dach in der Architekturgeschichte. Mathew Nowitzky, der es entworfen hatte, war kurz zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Die Idee faszinierte Frei Otto so, dass er 1952/53 seine Dissertation über die Bautechnik zugbeanspruchter Flächentragwerke schrieb. »Durch sparsame Anwendung hochwirksamer Baustoffe und durch Ausnutzung der Trageigenschaften räumlicher Systeme entstehen leichte, bewegliche Bauwerke«, heißt es darin. »Die Konstruktion schrumpft auf das unbedingt Notwendige zusammen.« Die Arbeit mit dem Titel »Das hängende Dach. Gestalt und Struktur« wurde veröffentlicht und ins Spanische, Polnische und Russische übersetzt.

Zwei Jahre vor der Promotion hatte Frei Otto ein Architekturbüro in Berlin-Zehlendorf eröffnet. Mit Material und Erfahrungen von Peter Stromeyer, der in Konstanz eine renommierte Zeltbau-Fabrik betrieb, erforschte er, wie sich die Beschaffenheit von Großzelten auf feste Bauwerke übertragen lässt und gründete zu diesem Zweck 1957 eine »Entwicklungsstätte für den Leichtbau«. In einer Zeit, in der Häuser schnell und billig aus Hohlblocksteinen und anspruchsvolle Gebäude aus Beton errichtet wurden, war das sehr ungewöhnlich.

Als Gastdozent an der berühmten Hochschule für Gestaltung in Ulm leitete Frei Otto 1958 einige Projekte. Im selben Jahr folgte er auch entsprechenden Einladungen der Washington University in St. Louis und der Yale University in New Haven. Weitere Gastprofessuren folgten. 1961/62 gründete er mit Johann Gerhard Helmcke, dem Ordinarius für Biologie und Anthropologie an der Technischen Universität Berlin, die Forschungsgruppe »Biologie und Bauen«. Im Gedankenaustausch mit Biologen, Medizinern, Paläontologen und anderen Wissenschaftlern schaute Frei Otto der Natur Konstruktionsprinzipien ab (Bionik).

»Wir suchen jene Baukunst, die aufgrund ähnlicher Prozesse entsteht, wie die Konstruktionen der Natur«, erläuterte er. »Ich entwerfe nicht, ich suche.« Um für die zeltartigen Dachkonstruktionen, die ihm vorschwebten, die optimale Form zu finden – Computersimulationen gab es noch nicht –, baute er Drahtmodelle und tauchte sie in Seifenlauge, damit sie sich mit einer Seifenhaut überzogen. Von Anfang an kam es ihm darauf an, Bauwerke in die Natur zu integrieren und dabei jede Prunksucht und Verschwendung zu vermeiden. »Der Mensch formt seine Häuser, dann formen die Häuser den Menschen.« Davon ist Frei Otto überzeugt, und er hofft, »dass sich mit leichten flexiblen Bauten auch eine neue offene Gesellschaft einfinden möge«.

1961 wurde er an die Technische Universität in Stuttgart-Vaihingen berufen, die eigens für ihn das »Institut für Leichte Flächentragwerke« gründete.

Zu den ersten von Frei Otto entworfenen Bauwerken gehörten ein Musikpavillon für die Bundesgartenschau 1955 in Kassel sowie der Eingangsbogen und das »Tanzbrunnenzelt« für die Bundesgartenschau 1957 in Köln. Das erste Großprojekt, für das Frei Otto – in diesem Fall zusammen mit seinem älteren Kollegen Rolf Gutbrod (1910 – 1999) von der Universität Stuttgart – verantwortlich war, entstand 1967 anlässlich der Weltausstellung (»Expo«) in Montreal. Für den deutschen Pavillon war ein 77 000 qm großes Dach aus einem mit Polyestergewebe unterhängten Stahlnetz geplant, das an acht zwischen 14 und 38 m hohen Masten aufgehängt werden sollte. Als von den Pavillons anderer Länder bereits die Rohbauten standen, bei den Deutschen jedoch noch nichts zu sehen war, gab es viel Spott, denn man hielt es für unmöglich, ein so großes Gebäude in der verbleibenden Zeit zu errichten. Umso mehr wurde gestaunt, als der Aufbau mit vorgefertigten Teilen innerhalb weniger Wochen gelang und die Kosten unter dem Voranschlag blieben. Der deutsche Pavillon – in dem übrigens auch ein Originalcomputer von Konrad Zuse präsentiert wurde – galt als einer der schönsten und wirtschaftlichsten der Weltausstellung und wurde prämiert. »Das war der ganz große Durchbruch, völlig unerwarteterweise«, erinnerte Frei Otto sich später. »Wir waren, wie man so schön sagt, platt, welche Bedeutung das hatte. Plötzlich sah die ganze Welt nach Deutschland.«

Nach diesem Erfolg ernannte die Deutsche Forschungsgemeinschaft Frei Otto 1969 zum Leiter des Sonderforschungsbereichs »Materialforschung und Forschung im konstruktiven Ingenieurbau« (ab 1973: »Weitgespannte Flächentragwerke«). Mehr als fünfzig Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen suchten mit ihm »jene Strukturen, die mit geringstem Materialaufwand Räume umschließen oder Flächen überspannen«.

Vom deutschen Pavillon in Montreal ließen sich Günter Behnisch (*1922) und dessen Partner zu einem Entwurf inspirieren, mit dem sie 1967 den Wettbewerb für die Gestaltung der Sportstätten für die XX. Olympischen Sommerspiele 1972 in München gewannen. Erst als sich herausstellte, dass sich das Modell mit herkömmlichen Methoden (Spannbeton, Fachbauweise) nicht realisieren ließ, wurde Frei Otto – der gerade mit Rolf Gutbrod ein Hotel- und Konferenzzentrum in Mekka gebaut hatte – für die Tragwerksplanung der Dächer hinzugezogen. Aufgrund seiner Erfahrungen in Montreal schlug Frei Otto ein Stahlseilnetz als tragende Konstruktion vor. Während er den deutschen Pavillon auf der Expo jedoch nur für eine vorübergehende Nutzung konzipiert hatte, waren für das Münchner Olympiagelände dauerhafte Gebäude geplant. Stoff kam also als Baumaterial nicht in Frage. Außerdem sollte das Stadiondach durchsichtig sein, um bei Fußballspielen im grellen Sonnenschein störende Schattenzonen auf dem Rasen zu vermeiden. Deshalb sah Frei Otto eine Eindeckung der Seil­netz­konstruktion mit Acrylplatten vor.

Der Grundstein für das fast 3 qkm große Sport- und Erholungsgelände wurde am 14. Juli 1969 auf dem Oberwiesenfeld gelegt, wo von 1925 bis 1938 der erste bayerische Verkehrsflugplatz gewesen war. Der 290 m hohe Fernseh- bzw. Olympiaturm stand bereits; er war 1965 bis 1968 errichtet worden. Den 52 m hohen Schuttberg aus Trümmern der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Häuser überzogen die Arbeiter mit einer Grasmatte, und davor legten sie einen 86 000 qm großen See an (Landschaftsplanung: Günther Grzimek). Neue Maßstäbe setzten die von Frei Otto entworfenen Sportbauten: die Schwimmhalle für 9 000 Zuschauer, die Olympiahalle für 12 000 und das Olympiastadion für 80 000 Besucher, die mit einem 74 800 qm großen, an zwölf bis zu 80 m hohen Pylonen hängenden zeltförmigen Dach überspannt wurden.

Die in schönster Kongenialität vom Landschaftsarchitekten Günther Grzimek, vom Konstrukteur Frei Otto und vom Architekten-Team Günter Behnisch gestaltete Kunstlandschaft des Olympiaparks lässt einige monströse Großbauten der unterschiedlichsten Funktionen fast spurlos in einer sanften Hügelfolge versinken und zwingt die extrem heterogenen Baufiguren, die in allen anderen Olympiastädten wie Fremdkörper nebeneinanderstehen, mit dem gestischen Schwung des darübergespannten Zeltdachs zu einer überwältigenden Einheit zusammen.
Die ganze Welt ist sich einig, dass dieses einzigartige symbiotische Ineinanderwirken von Ingenieursavantgarde und Landschaftsarchitektur der bedeutendste Beitrag Deutschlands zur jüngeren Architekturgeschichte ist.
(Gottfried Knapp, Süddeutsche Zeitung, 19. November 2007)

Mit diesem bewusst nicht pompösen Bauwerk distanzierten sich die Veranstalter der XX. Olympischen Sommerspiele in München (26. August bis 11. September 1972) von den nationalsozialistischen Gastgebern 1936 in Berlin. Die natürlich wirkenden, in die Landschaft eingefügten Formen sind von einem ganz anderen Geist geprägt als die monumentalen Bauten und gigantomanischen Entwürfe von Albert Speer (1905 – 1981). Der Designer Otl Aicher (eigentlich: Otto Aicher, 1922 – 1991) – ein enger Freund der 1943 von den Nationalsozialisten hingerichteten Geschwister Scholl, der 1952 deren Schwester Inge geheiratet hatte – entwarf verständliche Piktogramme sowie Fahnen und Plakate in Pastellfarben, die zu der leichten Bauweise des Olympiadaches passten. »Weltoffene und heitere Spiele« (Motto) wären es geworden, wenn nicht Terroristen der palästinensischen Gruppe »Schwarzer September« am 5. September das Quartier der israelischen Olympiamannschaft überfallen hätten. Elf israelische Sportler, ein Polizist und fünf Palästinenser wurden bei dem Attentat bzw. dem missglückten Zugriff der Polizei getötet [Einzelheiten].

Das Ensemble der Sportstätten auf dem Olympiagelände in München wurde von Lesern des Architekturmagazins »Häuser« 2003 zum besten deutschen Gebäude gewählt – vor Sanssouci und dem Kölner Dom. Doch Frei Otto selbst war nicht voll zufrieden damit, denn seine filigraneren Wunschvorstellungen (»die Leichtigkeit einer Wolke, die über der Landschaft schwebt«) hatte er nicht durchsetzen können: Mehrere Experten hatten der kühnen Leichtbauweise von Anfang an misstraut, und das verantwortliche Ingenieurbüro [Fritz] Leonhardt & [Wolfhardt] Andrä hatte aus statischen Gründen auf doppelten Stahlseilen bestanden. Da gefiel Frei Otto die fast unsichtbare 5000 qm große Voliere im Münchner Tierpark Hellabrunn schon besser, die der Architekt Jörg Gribl nach seinen Vorgaben 1979/80 errichtete. 2003 erklärte Frei Otto in einem Interview: »Eine Seilnetz- oder Zeltkonstruktion ist […] die allereinfachste Konstruktion: Sie formt sich selbst, sie ist in sich stabil und kann nicht zusammenfallen.«

Bei der Bundesgartenschau 1975 in Mannheim ging Frei Otto einen ganz anderen Weg: Nach seinen Vorschlägen überdachten Carlfried Mutschler und Joachim Langner eine 10 000 qm große »Multihalle« mit einem Gitter aus Holzlatten, das seine Form erst erhielt, als es vom Boden hochgehoben, auf Stützen befestigt und mit einem beschichteten Trevira-Gewebe überzogen wurde. Hier ging es also nicht um Zugspannungen wie in München, sondern um Druckbelastungen.

Das Museum of Modern Art in New York zeigte 1971 die Ausstellung »The Work of Frei Otto«, die in einer überarbeiteten Form von 1977 bis 1981 auch als Wanderausstellung in Nordamerika, Europa, Asien und Australien zu sehen war. »Frei Ottos Konstruktionen sehen Spinnennetzen, Schneckengehäusen, Fledermausflügeln ähnlicher als Häusern aus Stein«, behauptete Dankwart Guratzsch (»Die Welt«, 30. Mai 2005). Und Rainer Barthel sagte in seiner Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Technischen Universität München zu Frei Otto: »Ihr Ziel ist nichts Geringeres als die Synthese von Architektur, Technik und Natur.«

Die Universität Stuttgart berief Frei Otto 1976 als ordentlichen Professor. (Honorarprofessor war er seit 1965.) Und 1984 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Sonderforschungsbereichs »Natürliche Konstruktionen. Leichtbau in Architektur und Natur« der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des bedeutendsten interdisziplinären Forschungsprojekts von Architekten und Ingenieuren, Physikern, Medizinern, Biologen, Verhaltensforschern, Paläontologen, Morphologen, Chaosforschern, Historikern und Philosophen.

»Ich habe wenig gebaut«, gab Frei Otto einmal zu. »Ich habe aber viele Luftschlösser ersonnen.« Tatsächlich sah er seine Aufgabe vor allem darin, als Architekturtheoretiker Ideen für ein leichtes, ökologisches Bauen in natürlichen Formen zu entwickeln, andere Architekten zu inspirieren und sie mit seinem einmaligen Wissen über entsprechende Dachkonstruktionen zu unterstützen. So stand er beispielsweise seinem zum Islam übergetretenen Schüler Mahmud Bodo Rasch (*1943) beim Bau von Zeltdach-Konstruktionen in Saudi-Arabien zur Seite.

Mit sechsundsechzig gab Frei Otto 1991 die Leitung des Instituts für Leichte Flächentragwerke ab und ließ sich von der Universität Stuttgart emeritieren. Doch auch im »Rentenalter« arbeitete er mit seiner Ehefrau Ingrid und der gemeinsamen Tochter Christine Kanstinger weiter in seinem Atelier »Warmbronn« bei Leonberg.

2006 wurde der Entwurf für einen unterirdischen Hauptbahnhof in Stuttgart mit dem Holcim-Preis prämiert. Obwohl sich Christoph Ingenhoven bei der Gestaltung offensichtlich von Frei Ottos Ideen inspirieren hatte lassen, erwähnte er dessen Namen bei der Verleihungsfeier nicht einmal. Frei Otto erhielt jedoch auch selbst zahlreiche Auszeichnungen, beispielsweise am 18. Oktober 2006 den »Praemium Imperiale« vom japanischen Kaiserhaus. Er gilt als einer der bedeutendsten Vertreter einer biomorphen Architektur und einer der innovativsten Architekten des 20. Jahrhunderts überhaupt. »In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat kein anderer deutscher Architekt so große internationale Anerkennung gefunden wie Frei Otto.« (Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne)

Frei Otto starb am 9. März 2015 in Warmbronn.

© Dieter Wunderlich 2006 / 2007 / 2015

Karsten Dusse - Das Kind in mir will achtsam morden
Naturgemäß fehlt der Fortsetzung der Reiz des Neuen, nämlich des originellen Einfalls, Weisheiten der Ratgeberliteratur mit Elementen eines Kriminalromans zu verknüpfen. In "Das Kind in mir will achtsam morden" überzieht Karsten Dusse diese Idee noch stärker als in "Achtsam morden", aber er bietet eine leichte, kurzweilige und amüsante Lektüre mit viel Komik und vor allem Wortwitz.
Das Kind in mir will achtsam morden