Joachim Gauck
Joachim Gauck wurde am 24. Januar 1940 in Rostock als Sohn des Schiffskapitäns Joachim Gauck und dessen Ehefrau Olga geboren. Der Vater war aufgrund seines Berufs nur selten zu Hause. Als er zur Kriegsmarine eingezogen wurde, richtete sich Olga Gauck bei ihrer geschiedenen Schwiegermutter Antonie Gauck ein, die am Rand des Ostseedorfs Wustrow ein Haus besaß. Dort verbrachte Joachim Gauck die ersten fünf Jahre seines Lebens. (Das Haus wurde gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von der Roten Armee requiriert, später von volkseigenen Betrieben beansprucht und nach der Wiedervereinigung den Erben überlassen.)
Die Rote Armee marschierte am 1. Mai 1945 in Rostock ein und besetzte zwei Tage später auch Wustrow. Kurz zuvor hatte Olga Gauck ihr drittes Kind geboren. (Sie bekam später noch eines.) Ende 1945 zog sie mit den Kindern zu ihren Eltern nach Rostock. Ihr Vater Franz Warremann, der Sohn eines Landarbeiters, hatte es dort zum Bauunternehmer gebracht. Gut ein halbes Jahr später kehrte Joachim Gauck sen. aus britischer Kriegsgefangenschaft zurück.
Am 27. Juni 1951 besuchte die Familie Antonie Gauck in Wustrow, um mit ihr den 71. Geburtstag zu feiern. Da tauchten zwei Männer auf, die behaupteten, auf der Rostocker Neptun-Werft habe es einen schweren Unfall gegeben. Deshalb seien sie gekommen, um Joachim Gauck sen., der dort als Arbeitsschutzinspektor tätig war, zu holen. Sie fuhren mit ihm weg, und er blieb verschwunden. Alle Nachforschungen waren vergeblich.
Olga Gauck fand eine Anstellung in einem Büro. Während ihrer Arbeitszeit passten ihr älterer Bruder Walter und dessen Ehefrau Hilde auf die Kinder auf. (Olgas Schwester Gerda lebte mit ihrem Mann Gerhard in Sanitz.) Joachim wurde 1952 von „Tante Marianne“ aufgenommen, einer Freundin seiner Mutter, die mit ihren beiden eigenen Kindern in einem Fachwerkhaus am Bodden wohnte.
Erst im September 1953 erfuhr Olga Gauck, dass ihr Mann noch lebte. Er war am 6. Juli 1951 von einem sowjetischen Militärtribunal in Schwerin „wegen feindlicher Tätigkeit gegen die Besatzungsmächte“ zu fünfundzwanzig Jahren Haft verurteilt und Anfang 1952 in ein sibirisches Arbeitslager verschleppt worden. Olga schickte ihm ein Foto von den drei Kindern. Als er es Russen zeigte, konnten sie es kaum glauben, dass die Kinder in Deutschland so wohlgenährt aussahen, ganz anders als die meisten Kinder in Russland. Dabei hatte doch die Rote Armee die Wehrmacht besiegt, und nicht umgekehrt.
Nachdem Konrad Adenauer sein wichtigstes Ziel – die feste Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnissystem – erreicht hatte, flog er im September 1955 überraschend nach Moskau und stimmte als Gegenleistung für die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik zu. Unter den Freigelassenen war auch Joachim Gauck sen. Im Oktober 1955 kehrte er zu seiner Familie zurück.
Mein Vater ging in der DDR einen eigenen Weg, nicht den eines Widerständlers, aber den eines Menschen mit Abstand zum System, der seine Distanz zum Kommunismus bei Bedarf unmissverständlich kundtat. (Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst, Seite 55)
Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule. Die Pflicht zur unbedingten Loyalität gegenüber der Familie schloss auch die kleinste Form der Fraternisierung mit dem System aus […] Dafür lebte ich in dem moralisch komfortablen Bewusstsein: Wir sind die Anständigen. (Joachim Gauck, a. a. O., Seite 41)
Eine ehemalige Lehrerin von Olga Gauck sorgte dafür, dass deren Sohn Joachim die Sommerferien 1955 bei einem Tierarzt in Saarbrücken verbringen konnte. Von dort trampte er mit seinem gleichaltrigem Cousin Gerhard (dem Sohn seiner
Tante Gerda), der die Ferien bei seiner Großmutter in Saarbrücken verbrachte, für einen Tag nach Paris. Im Jahr darauf unternahm Joachim mit einem Klassenkameraden eine Fahrradtour nach Hamburg, und sie wohnten auch zwei Wochen in einem Heim der Gewerkschaftsjugend auf Sylt. Des Öfteren besuchte Joachim seinen Cousin Gerhard, nachdem dieser 1958 nach Westberlin gezogen war und sich mit seiner Freundin Jutta in einer Wohngemeinschaft eingerichtet hatte. (Uwe Johnsons Ehefrau Elisabeth war Juttas Schwester. 1968 schlief Jutta in der Berliner Wohnung ihres zu dieser Zeit mit Elisabeth in New York lebenden Schwagers mit einer Zigarette im Mund ein und starb bei dem dadurch ausgelösten Brand.)
Joachim Gauck wollte eigentlich Germanistik studieren oder Journalist werden. Weil die Familie dem DDR-Regime kritisch gegenüberstand, wurde ihm das gewünschte Studienfach nicht genehmigt. Deshalb begann er 1958 ein Theologie-Studium in Rostock. Im Jahr darauf heiratete der Neunzehnjährige in der Rostocker Klosterkirche seine gleichaltrige Freundin Hansi.
Hansis Familie stammte aus Königsberg. Im Zweiten Weltkrieg zogen ihre Großeltern väterlicherseits mit ihr und ihrer Mutter in den Böhmerwald. Dort wurde im Februar 1945 ihre Schwester Bruni geboren, die bald darauf verhungerte. Die Flucht verschlug sie nach Warnemünde. Hansis Vater kam gebrochen aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Als das Mädchen zehn Jahre alt war, nahm die Mutter sich das Leben [Suizid].
Das Ehepaar Gerhild (* 1940) und Joachim Gauck bekam vier Kinder: Christian (1960), Martin (1962), Gesine (1966) und Katharina (1979).
1965 schloss Joachim Gauck das Theologiestudium ab. Obwohl er es ursprünglich gar nicht vorgehabt hatte, wurde er 1967 Pastor in einem Verbund von vierzehn kleinen Dörfern rund um Lüssow. Im Pfarrhaus gab es weder ein WC noch fließendes Wasser. 1970 versetzte ihn die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburg ins Neubaugebiet Rostock-Evershagen, wo es seine Aufgabe war, eine Kirchengemeinde aufzubauen.
Gaucks Schwester Sabine hatte sich nach dem Abitur im Frühjahr 1965 in einen jungen Mann aus Hamburg verliebt und durch gute Beziehungen erreicht, dass die DDR sie im Mai 1966 aus der Staatsbürgerschaft entließ.
Ab 1983 konnten Ausreiseanträge zur Eheschließung und Familienzusammenführung gestellt werden. Christian und Martin Gauck beschlossen Anfang 1984, die DDR zu verlassen. Sie hatten beide nicht in der erweiterten Oberschule das Abitur machen dürfen. Christian, der Arzt werden wollte, hatte einen Beruf erlernt und das Abitur in der Abendschule nachgeholt. Obwohl er dadurch Werktätiger geworden war, hatte er nicht Medizin studieren dürfen. (Das konnte er erst später in Hamburg.) Bis Ende 1987 mussten sich Christian und Martin gedulden. Dann wurden die Ausreiseanträge genehmigt. An zwei aufeinander folgenden Tagen verabschiedeten sie sich zusammen mit ihren Ehefrauen und den Kindern auf dem Bahnhof in Rostock von ihren Eltern und Geschwistern. Weihnachten feierten Olga und Joachim Gauck nur noch mit den beiden Töchtern Gesine und Katharina.
Gesine wollte eigentlich in der DDR bleiben, aber 1988 lernte sie einen jungen Mann aus Bremen kennen, und im Jahr darauf übersiedelte auch sie in die Bundesrepublik.
Ab 1983 wurde Joachim Gauck („Larve“) von der Stasi beobachtet.
Im Oktober 1989 ließ er sich vom Kirchendienst freistellen und wandte sich der Politik zu. Als Willy Brandt am 6. Dezember 1989 nach Mecklenburg-Vorpommern kam und das ZDF aus diesem Anlass die Sendung „Kennzeichen D“ aus Warnemünde sendete, saß Joachim Gauck als einer der beiden Vertreter des Neuen Forums neben dem Altbundeskanzler.
Für die erste freie Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 stellte das Bündnis 90 Joachim Gauck als Spitzenkandidaten in Rostock auf. Die Partei erhielt zwar nur 2,9 Prozent der Stimmen, weil es jedoch keine 5-Prozent-Hürde gab, schickte sie zwölf Abgeordnete in die Volkskammer. Einer von ihnen war Joachim Gauck.
Als Vorsitzender eines Sonderausschusses arbeitete er maßgeblich daran mit, dass das Parlament am 24. August 1990 das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ verabschiedete. Während im Einigungsvertrag vorgesehen war, die Stasi-Unterlagen nach der Wiedervereinigung dem Bundesarchiv zu überlassen, setzte Joachim Gauck sich erfolgreich für die Bildung einer eigenständigen Behörde ein. Er wurde am 19. September 1990 als „Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums der Staatssicherheit“ vorgeschlagen, in der letzten Sitzung der Volkskammer am 28. September gewählt und am 3. Oktober von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigt. Außerdem war er einer der 144 Volkskammer-Abgeordneten, die in den Deutschen Bundestag delegiert wurden. Aber er legte sein Mandat am 4. Oktober nieder, um sich ganz seiner neuen Aufgabe widmen zu können.
Ich wechselte den Ort, den Beruf, und ich trennte mich von meiner Frau. (Joachim Gauck, a. a. O., Seite 249)
Joachim Gauck arbeitete anfangs mit drei Mitarbeitern im Gebäudekomplex des SED-Zentralkomitees in der Behrenstraße. 1989 zog er mit seinem Stab in die Glinkastraße um. Dort wurden 2. Januar 1992 erstmals Formulare ausgegeben, mit denen ein Antrag auf private Akteneinsicht gestellt werden konnte. Von den verfügbaren 20 000 Exemplaren war am Abend keines mehr übrig. Wegen des Ansturms druckten Zeitungen das Formular. 420 000 Menschen stellten in den ersten hundert Tagen einen Antrag auf private Akteneinsicht. Dazu kamen 130 000 Anträge auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst.
Das Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes am 2. Januar 1992 machte Joachim Gauck zum „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“.
Am 21. September wurde Joachim Gauck vom Deutschen Bundestag für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren bestätigt. Weil das entsprechende Gesetz nicht mehr als zwei Amtsperioden erlaubt, endete seine Tätigkeit am 10. Oktober 2000, und Marianne Birthler trat die Nachfolge an.
Joachim Gauck lebt seit 1991 von seiner Ehefrau getrennt, ließ sich jedoch nicht scheiden. Seit 2000 ist die Journalistin Daniela Schadt (* 1960) seine Lebensgefährtin.
Nach dem überraschenden Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler am 31. Mai 2010 nominierten SPD und „Bündnis 90 / Die Grünen“ den parteilosen Joachim Gauck als Kandidaten. Die Zustimmung in der Bevölkerung war überwältigend, und bei der Wahl am 30. Juni 2010 unterlag Gauck dem von der Regierung gestellten Kandidaten Christian Wulff trotz ihrer Mehrheit in der Bundesversammlung erst im dritten Wahlgang.
Christian Wulff trat nach monatelangen Querelen am 17. Februar 2012 vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Zwei Tage später einigten sich CDU, CSU, FDP, SPD und „Bündnis 90 / Die Grünen“ auf Joachim Gauck als Kandidaten für die Wahl des Nachfolgers. „Die Linke“ nominierte Beate Klarsfeld als Gegenkandidatin. In der 15. Bundesversammlung am 18. März 2012 wurde Joachim Gauck mit einem Rekordergebnis (991 von 1228 gültigen Stimmen) zum elften Bundespräsidenten gewählt und trat sein Amt an. An seiner Seite steht Daniela Schadt.
Literatur über Joachim Gauck:
- Mario Frank: Gauck. Eine Biographie (Suhrkamp Verlag, Berlin 2013)
- Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen
(Siedler Verlag, München 2009)
© Dieter Wunderlich 2011 / 2013
Joachim Gauck: Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen