Verena Lueken : Alles zählt

Alles zählt
Alles zählt Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015 ISBN: 978-3-462-04797-4, 205 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine deutsche Journalistin wird während eines New-York-Aufenthalts zum dritten Mal mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Sie unterzieht sich einer Operation, kehrt nach Frankfurt am Main zurück, leidet an den Folgen der Erkrankung – und begegnet in Myanmar einem Mann, der ihr eine neue Zukunftsperspektive eröffnet ...
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Kritik

"Alles zählt" wirkt autobiografisch, aber die Frage, ob die Ich-Erzählerin die Autorin Verena Lueken vertritt, bleibt offen. Die Darstellung enthält essayistische Züge, und die Sprache ist so sachlich, als protokolliere hier tatsächlich eine Krebspatientin ihre Gedanken und Gefühle.
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Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, arbeitet als Journalistin und wohnt mit ihrem Lebensgefährten S. in Frankfurt am Main. Im Sommer 2013 fliegt sie für ein Vierteljahr nach New York, das ihr zur Wahlheimat geworden ist, um über ihre Zukunft nachzudenken. Ein befreundetes Paar hat ihr ein Apartment in Harlem zur Verfügung gestellt. Die beiden dozieren an der Columbia University und ziehen sich in den Semesterferien jeweils von der Stadtwohnung auf ihr Anwesen in Maine zurück.

S. bleibt in Frankfurt. Er meidet New York seit dem Terroranschlag am 11. September 2001. Zehn Minuten bevor die erste Maschine ins World Trade Center flog, war er an der U-Bahn-Haltestelle ausgestiegen und in sein nahes Büro gegangen. Seine Lebensgefährtin hielt sich zu diesem Zeitpunkt in Toronto auf. Sie konnte ihn nicht erreichen, denn die Handy-Netze waren zusammen­gebrochen, und weil auch erst einmal alle Flüge gestrichen wurden, eilte sie mit dem Zug nach New York, um sich zu vergewissern, dass S. nichts passiert war.

Kurz nach ihrer diesjährigen Ankunft in New York beginnt die Autorin unter Brustschmerzen zu leiden, und weil sie auch Fieber hat, konsultiert sie einen Arzt. Der diagnostiziert einen Knoten in der Lunge. Es handelt sich um ihre dritte Krebsdiagnose innerhalb von 15 Jahren. Zwei Operationen hat sie bereits hinter sich, und im Anschluss an den ersten Eingriff unterzog sie sich auch einer Chemo- und Strahlentherapie. Zwei Jahre später wurde sie erneut operiert, in New York, wie beim ersten Mal.

Während sie auf den Operationstermin wartet, denkt sie über ihre Herkunft und Vergangenheit nach. Ihre Mutter wurde 1916 geboren. Deren Vater war als Tuch- und Pelzhändler in Berlin tätig. Er starb bald nach dem Zweiten Weltkrieg, noch vor der Geburt der Erzählerin. Er muss grausam gewesen sein, denn die Enkelin erfuhr, dass er seine Tochter mit einer Hundepeitsche geschlagen hatte. Sie war 20, als sie zum ersten Mal heiratete. 1940 gebar sie einen Sohn. W., der erste Ehemann, starb an Lungenkrebs. Die Kranke aus dem Jahr 2013 ist aber nicht mit ihm verwandt, sondern die Tochter des zweiten Ehemanns. Mit dem war ihre Mutter noch verheiratet, als der Geliebte H. bei ihr in der Wohnung mit einem Herzinfarkt zusammenbrach. Die Erzählerin war damals zehn oder elf Jahre alt. Zwei Jahre später ließen die Eltern sich scheiden. H. starb, als seine Stieftochter kurz vor dem Abitur stand. Die Mutter überlebte ihren dritten Ehemann um 36 Jahre. Im Sommer vor ihrem 90. Geburtstag kündigte sie ihren Suizid an und regelte alles theatralisch. Sie wollte selbstbestimmt sterben, überlebte jedoch trotz der vielen Tabletten und der über den Kopf gezogenen Plastiktüte. Am Ende ihres Lebens hatte sie wieder einen Freund, einen 30 Jahre jüngeren Professor. Drei Jahre nach dem Suizidversuch wurde ein Karzinom bei ihr diagnostiziert, und sie starb einige Zeit später.

S. kommt nach New York, um seiner Lebensgefährtin Mut zu machen. Ihre in New York wohnende, gut 20 Jahre ältere Freundin Ellen steht ihr ebenfalls bei – so wie bereits bei den ersten beiden Operationen. Kennengelernt hatten sie sich vor 16 Jahren. Im Jahr zuvor, 1996, war Ellens Ehemann Harold Brodkey an Aids gestorben, ein Schriftsteller, der über sein Sterben das Buch „This Wild Darkness. The Story of My Death“ geschrieben hatte.

Sobald die Erzählerin nach der Entlassung aus dem Krankenhaus dazu in der Lage ist, fliegt sie mit S. nach Frankfurt zurück. S. hat ihr einen bequemen Sitz in der Ersten Klasse besorgt, nimmt aber selbst mit der Touristenklasse vorlieb.

Ein Arzt in New York schlug ihr die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe vor, aber davon hält sie gar nichts: Sie will sich nicht über den Krebs bzw. das Überleben definieren. Aus dem gleichen Grund vermeidet sie es auch, darüber zu sprechen. Die Einstellung der meisten Menschen zum Thema Krebs hat sich geändert: Inzwischen gehört es sich, regelmäßig Vorsorgeuntersuchungen durchführen zu lassen, und die späte Entdeckung eines Karzinoms wird auf ein Versäumnis des Patienten zurückgeführt. Im Fall von Lungenkrebs denken ohnehin viele, der Kranke habe geraucht und sei selbst schuld.

Die Krankheit, dachte sie, hatte ihren metaphorischen Mehrwert weitgehend verloren.

Die gesündeste Art, krank zu sein, das hat Susan Sontag geschrieben, sei die reine Art, jene, die sich völlig von metaphorisierenden oder psychologisierenden Überhöhungen freihielte. […] Der Krankheit keine Bedeutung zu verleihen, die über sie hinausginge, das sollte das Ziel sein.

Sie hat den Eindruck, ihr Inneres sei gestorben. Heftige Schmerzen, dauerndes Erbrechen und eine hartnäckige Obstipation machen ihr zu schaffen. Ein Arzt, den sie deshalb aufsucht, injiziert ihr zehnmal in wöchentlichen Intervallen Morphium ins Ganglion stellatum, aber die Schmerzlinderung ist nur gering. Weil die Leidende feststellt, dass sie sich infolge der Medikamente verändert hat und beispielsweise ihre Aggressionen nicht mehr kontrollieren kann, beschließt sie, mit den Spritzen aufzuhören und auch alle anderen Schmerzmittel abzusetzen. Ein Internist stellt ihr für das „Ausschleichen“ einen vierwöchigen Plan zusammen.

Würde sie am Ende dieser vier Wochen wieder die Frau sein, in der sie sich erkannte?

Nachdem sich das Gift und die Schmerzen aus ihrem Körper zurückgezogen haben, fliegt sie nach Myanmar. S. kommt nicht mit, denn er ist nach den auch für ihn belastenden Wochen erschöpft. Die Erzählerin hofft, den Masseur wiederzufinden, dessen Art ihr während eines Urlaubs am Ngapali Beach zwei Jahre zuvor ausgesprochen gut gefiel. Seine Bemerkung „you are kind“ hatte sie wie eine Zauberformel getroffen.

In der ersten Nacht im Hotel am Ngapali Beach verstaucht sie sich den Knöchel und humpelt deshalb ins nahe Krankenhaus. Eine Röntgenaufnahme zeigt, dass nichts gebrochen ist, aber wegen der angestauten Flüssigkeit punktiert der Arzt Nan Naing den geschwollenen Fuß.

Danach lässt sich die Patientin auf der Dachterrasse seine Lebensgeschichte erzählen. Er wurde hier geboren. Über seinen Vater kennt er nur eine von seiner Mutter erzählte Legende. Sie trennte sich jedenfalls von ihrem Mann und zog mit ihrem Sohn und ihrer Tochter nach Thailand. Später schickte sie ihre beiden Kinder zu ihrem Bruder nach England, damit sie eine gute Schulausbildung bekamen. Die Tochter studierte in Kalifornien Medizin und praktiziert dort inzwischen als Neurologin. Nan spezialisierte sich nach dem Studium in New York auf Infektionskrankheiten und kehrte nach der Entlassung von Aung San Suu Kyi aus dem Hausarrest nach Myanmar zurück. In Kürze will er zu einer noch unfertigen Krankenstation im unzugänglichen Grenzgebiet zu Thailand aufbrechen, wo bereits zwei junge Ärzte und zwei Pfleger tätig sind. Die Patientin lädt er ein, ihn zu begleiten.

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Eine deutsche Journalistin wird während eines New-York-Aufenthalts zum dritten Mal mit einer Krebsdiagnose konfrontiert. Sie unterzieht sich einer Operation, kehrt nach Frankfurt am Main zurück, leidet an den Folgen der Erkrankung – und begegnet in Myanmar einem Mann, der ihr eine neue Zukunftsperspektive eröffnet. Demensprechend hat Verena Lueken ihren Roman „Alles zählt“ in drei Abschnitte unterteilt: der erste spielt in New York, der zweite in Frankfurt und der dritte in Myanmar.

Das Wort überlässt Verena Lueken einer namenlosen Ich-Erzählerin, die über die Erkrankung und die dadurch verursachte Persönlichkeitsveränderung reflektiert, aber auch ihren Erinnerungen nachhängt, vor allem an ihre selbstbewusste Mutter und deren Männer. Außerdem kreisen ihre Gedanken um die Spuren, die Schriftsteller wie James Salter, Musiker wie Sonny Rollins und Dokumentarfilmer wie Albert Maysles hinterlassen haben. Sie zitiert den Songwriter, Komponisten, Sänger und Schauspieler Tom Waits:

The things you can’t remember tell the things you can’t forget.

Befreundet ist sie mit der Witwe des Schriftstellers Harold Brodkey, dessen Bericht über sein Sterben („This Wild Darkness“) sie selbstverständlich gelesen hat.

„Alles zählt“ handelt auch von zwischenmenschlichen Beziehungen wie zwischen Arzt und Patient, Lebensgefährten, Mutter und Tochter.

Die Frankfurter Journalistin und Literaturkritikerin Verena Lueken (* 1955), die unter anderem in den USA studierte und sieben Jahre lang als Kulturkorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in New York lebte, legt mit „Alles zählt“ ihren ersten Roman vor. Er wirkt autobiografisch, aber die Frage, ob die Ich-Erzählerin die Autorin vertritt, bleibt offen.

„Alles zählt“ ist ein Roman, aber die Darstellung enthält vor allem essayistische Züge, und die Sprache ist so sachlich, als protokolliere hier tatsächlich eine kluge und gebildete, nachdenkliche und keineswegs larmoyante Krebspatientin ihre Gedanken, Erinnerungen und Empfindungen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.